Widor, Charles-Marie

Alle

Widor, Charles-Marie

Symphony No. 2 in A Op. 54

Art.-Nr.: 1004 Kategorie:

32,00 

Charles-Marie Widor – Deuxième Symphonie en la, Opus 54

(geb. Lyon, 21. Februar 1844 — gest. Paris, 12. März 1937)

Vorwort

Dass eine Symphonie von Charles Marie Widor nichts mit Orgelmusik zu tun hat sondern eine reine Orchesterkomposition ist, mag zunächst verwundern. Denkt man doch bei dem Namen Widor zuerst an seine sogenannten Orgelsinfonien. Doch dieser fruchtbare Komponist hat für nahezu alle Gattungen komponiert – und die Orgelmusik ist keineswegs der Hauptbestandteil seines Oeuvres. Unter den rund zwei Dutzend Orche-sterwerken aus seiner Feder gibt es fünf Symphonien : Première Symphonie en fa op. 16, Deuxième Symphonie en la op. 54, Troisième Symphonie pour Orgue et Orchestre op. 69, Sinfonia Sacra pour Orgue et Orchestre op. 81 und die Symphonie Antique für Soli, Chor, Orchester und Orgel op. 83. Außerdem existiert noch eine Symphonie g-Moll op. 42 für Orgel und Orchester, deren drei Sätze Orchestrierungen von einzelnen Sätzen aus den Orgelsinfonien sind. Man könnte ergänzend auch noch die dreisätzige symphonische Dichtung „La Nuit des Walpurgis“ nennen.

Deuxième Symphonie en la, Opus 54

Die zweite Symphonie in A-Dur, op. 54 ist 1882 fertiggestellt worden. Sie wurde selten aufgeführt und erlangte nur wenig Gunst bei Kritik und Publikum. Bei einer Aufführung 1886, als Widor selbst sein Werk in Amsterdam im Rahmen eines Festivals, das seiner Musik gewidmet war, dirigierte, wurde die Symphonie als nüchtern, ohne Überschwang oder Affektiertheit empfunden. Ein Jahr später — im März 1887 — wurde die Symphonie im Crystal Palace in London gespielt, wobei die Kritik deutlich ablehnend war. In Paris selbst kam es anscheinend erst 1891 zu einer Aufführung, worauf differenziertere Kritiken folgten: Die Komposition wurde als ein äußerst bemerkenswertes Werk bezeichnet, und einige Teile seien es wert, mit den besten Produktionen Schumanns verglichen zu werden. Handwerklich sei sie gut gearbeitet, allerdings seien die Erfindungen nicht sehr reichlich. Von einer weiteren Aufführung unter Widors eigener Leitung im November 1896 in Moskau, während seiner ersten Konzertreise nach Russland, besteht noch Kenntnis, doch insgesamt scheint es, dass es keinen Siegeszug dieser Symphonie gegeben hat.
Im Gegensatz zu seiner ersten Symphonie schließt Widor mit seinem zweiten symphonischen Werk an die romantische Symphonik an und versucht dabei, neue Wege einzuschlagen — vor allem in struktureller Hinsicht. Diese Komposition ist noch vor der Serie bedeutender französischer Symphonien (Franck, Saint-Saëns, Chausson usw.) geschrieben worden, die erst Mitte der 1880er Jahre begann. Insofern ist Widor einer der ersten, die auf diesem Gebiet innovativ tätig wurden.
Widor verwendet die typisch romantische Besetzung und die Satzfolge der vier Sätze lehnt sich an das klassische Modell an (mit vertauschten Mittelsätzen). Der erste Satz (Allegro vivace, A-Dur) bildet ­­- der Tradition folgend – eine Sonatenhauptsatzform aus. Eine zweiteilige Introduktion steht am Anfang, d.h. zwei kontrastreiche Abschnitte, die jeweils wichtige thematische Gebilde vorstellen und durch Fermaten abgeschlossen werden: Zunächst ein mit großer Geste im Orchestertutti exponiertes Motto, das zwei wichtige Motive enthält. Insbesondere das in vier Oktaven unisono geführte Kopfmotiv (Quarte aufwärts, Oktave abwärts) hält den ganzen Satz zusammen, erweist sich aber auch als satzübergreifendes Material dieser Symphonie. Unmittelbar daran anschließend folgt ein ganz anders anmutendes zweites Motto, das mit dem genannten Kopfmotiv sowohl eingeleitet als auch abgeschlossen wird und lediglich eine fallende melodische Linie (ebenfalls in vier Oktaven) über einem Orgelpunkt im Bass darstellt. Die sehr zurückgenommene Instrumentation von solistischen Holzbläsern und zwei Hörnern unterstützen den starken Gegensatz zwischen beiden Introduktions-teilen. Dieser Kontrast zwischen optimistischem Gestus und resignierendem Charakter kommt im ersten Satz nicht als „Kampf“ zweier gegensätzlicher Themen vor, sondern als Kontrast einer vom ersteren geprägten Exposition (respektive die Reprise) und einer im dramatischen Moll-Ton gehaltenen Durchführung. Eine Coda schließlich bringt den Satz mit optimistischer Geste zu Ende.

Der zweite Satz in cis-Moll übernimmt die Funktion des Scherzos im traditionellen Sonatenzyklus. Entscheidend ist der scherzoartige Ausdruck, der sich in der Betonung des Rhythmus manifestiert: Prägung des musikalischen Geschehens durch kurze rhythmische Motive, Staccato-Artikulation und ein motorischer Gestus. Nach sechs einleitenden Takten, stellt die erste Flöte ein Thema vor, von dem besonders der Rhythmus des zweiten Teils bedeutsam ist. Ein kontrastierender Teil schließt sich an. Beide Teile werden in etwas variierter Form noch einmal wiederholt. Ein kurzer Abschnitt in D-Dur erfüllt die Erwartungshaltung eines Trios. Auf die etwas veränderte Reprise des ersten Teils wird das Trio in der Tonika-Variante Cis-Dur (in der Partitur als Des-Dur notiert) wiederholt. Der letzte Einsatz des A-Teils führt unmittelbar in eine Coda, die das Trillermotiv des Anfangs und den Rhythmus des ersten Themas auslaufen lässt.

An dritter Stelle steht ein dramatischer Satz in d-Moll. Er stellt mit seinen trauermarschähnlichen Stellen einen starken Kontrast zu den übrigen Sätzen dar und verweist — rein vom Ausdruck — auf die Durchführung des Kopfsatzes zurück. Der Verlauf folgt einer dreiteiligen Adagioform mit Introduktion und Coda. Durch das punktierte Motiv und die Achtel-Triolen weckt die Melodie trotz des dreiteiligen Taktes Assoziationen an einen Trauermarsch.

Der formal sehr interessante Schlusssatz in A-Dur bringt die Symphonie zu einem fulminanten Höhepunkt. Am Anfang des Satzes werden kontrastreiche Themenfragmente aneinandergereiht: Zunächst wird ein Bezug zum Kopfsatz der Symphonie hergestellt, der dann jedoch abbricht. Danach folgt ein zweiter „Versuch“ mit einem anderen Thema in anderer Taktart (3/4), anderer Tonart (Fis-Dur) und anderem Ausdruck. Der Hörer erhält den Eindruck, dass hier ein Scherzo-Satz zitiert wird (zumal die Bezeichnung „Scherzando“ explizit dasteht). Tatsächlich aber handelt es sich um eine Variation des Seitensatz-Themas aus dem Kopfsatz der Symphonie. Die Musik bricht erneut ab. In dieser Art geht es weiter: Der nächste Abschnitt (Moderato, 4/4) enthält eine Streicherkantilene, die wiederum mit Fermate abgeschlossen wird. Die Erwartung, das hier ein Zitat aus dem langsamen Satz vorliegt, ist abermals nicht erfüllt: Es ist ein bisher nicht aufgetretenes Thema und wird sich im weiteren Verlauf nicht als Zitat sondern als tatsächliches thematisches Material für das Finale herausstellen — nämlich als vorgezogenes Seitenthema (der kantable Charakter und die Dominant-Tonart E-Dur sprechen dafür). Auch die Introduktion des ersten Satzes wird zitiert, was sich aber nicht als relevant für das Finale herausstellen wird. Der eigentliche aus zwei sehr ähnlichen Themen bestehende Hauptsatz des Finales wird nun erst vorgestellt: Ein schwungvolles Thema in den Holzbläsern, von dem vermutet werden könnte, das es den Satz in einer Apotheose krönen wird. Diese Vermutung wird sich jedoch als falsch herausstellen, denn es ist das zweite Thema des Hauptsatzes in den Celli, das den Höhepunkt bilden wird, obwohl es zunächst ganz unbedeutend als sparsam instrumentierte Streicherkantilene auftritt.
Nach der Durchführung folgt ein Abschnitt, der keine eigentliche Reprise der Exposition ist, aber die satzspezifischen Themen nacheinander alle noch einmal in der Grundtonart bringt. Daran schließt sich eine Coda an, die in mehreren Steigerungswellen zur Apotheose führt. Diese endet jedoch auf der Dominante und geht über in eine zweite Coda, die das Motiv des Symphonie-Beginns zum Höhepunkt bringt, womit sich Kreis schließt.

Es handelt sich bei dieser Komposition also durchaus um ein sehr interessantes Werk, dessen Wert sich auch durch eine eingehende Analyse erschließt. Widor stellt zwischen Kopfsatz und Finale thematische Beziehungen her, die Mittelsätze bleiben davon unberührt. In einer Zeit, die sich mit einer Erneuerung der symphonische Konzeption beschäftigte, leistete Widor damit einen ganz eigenen Beitrag.

Daniel Barbarello, 2010

In Fragen des Aufführungsmaterials wenden Sie sich bitte an Durand, Paris.

Partitur Nr.

Edition

Genre

Seiten

Format

Druck

Nach oben