Sinigaglia, Leone

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Sinigaglia, Leone

Le Baruffe Chiozzotte (Overture)

Art.-Nr.: 1796 Kategorien: ,

19,00 

Preface

Leone Sinigaglia
(geb. Turin, 14. August 1868 – gest. Turn, 16. Mai 1944)

Le Baruffe Chiozzotte

Overtüre

Vorwort
Leone Sinigaglia war Jude, er starb 1944. Bringt man diese Fakten in Beziehung zueinander, ist es fast unvermeidlich, das Schlimmste zu befürchten. Sinigaglia starb in Turin, und dieser Ort beruhigt zumindest insofern, als einem hier der Gedanke an Gaskammern und Auschwitz nicht in den Sinn kommt, aber er besagt nicht, dass der Komponist der “Endlösung” entkommen konnte. Dem 75 Jahre alten Mann blieb die Deportation nur deshalb erspart, weil er zusammenbrach und an einem Herzinfarkt starb, als die deutsche Polizei ihn aus dem Ospedale Mauriziano holte, wohin er und seine Schwester Alina sich geflüchtet hatten.1 Dass Sinigaglia ein solches Ende fand, scheint umso absurder angesichts der Hingabe, mit der er sich als Komponist der deutsch-österreichischen Musiktradition verschrieben hatte. Als Schüler von Brahmsfreund Eusebius Mandyczewski in Wien und später von Dvořák entschied sich Sinigaglia, hauptsächlich in den Genres und Formaten zu arbeiten, die mit der konservativen Linie der Musik assoziiert werden, die im späten 19. Jahrhundert in Mitteleuropa gepflegt wurde. Bei einem kurzen Blick in seine schmale Werkliste (weniger als 50 Kompositionen mit Opuszahl) könnte man fast vergessen, dass Sinigaglia ein italienischer Komponist war. Er schrieb nicht eine einzige Oper, und seine Vokalmusik beschränkt sich fast ausschliesslich auf Lieder und Arrangements von Volksmusik; unter seinen kammermusikalischen Schöpfungen finden sich ein Streichquartett und Sonaten für Violine und Cello. Seine Orchestermusik umfasst ein Violinkonzert und einige Werke nach Volksmelodien aus seiner Heimat Piemont – hier stand wohl eher Dvořák Pate als Brahms.
Insbesondere war Sinigaglias Orchestermusik zu seinen Lebzeiten erfolgreich, in Italien wie auch im Ausland. Die Ouvertüre Le baruffe chiozzotte ist hierfür ein Paradebeispiel. Nach der Premiere am 21. Dezember 1907 durch das Utrechter Symphonieorchester unter Wouter Hutschenruyter wurde die Komposition von vielen führenden Dirigenten seiner Zeit ins Programm übernommen. So war die Komposition zum Beispiel das Lieblingsstück von Arturo Toscanini – dessen Radioaufnahme von 1947 mit dem NBC Symphony Orchestra, die lange Zeit in diversen Schwarzpressungen erhältlich war, bleibt die bekannteste Aufführung dieses Werks. Toscanini hatte Le baruffe chiozzotte zum ersten Male fast 4o Jahre zuvor dirigiert, in der Scala am 7. Mai 1908. Sinigaglias Ouvertüre fand man im Repertoire von Koryphäen wie Walter Damrosch, John Barbirolli und Bernardino Molinari, und in Grossbritannien wurde sie häufig von Henry Wood gespielt, dem Erfinder der Promenadekonzerte – empfohlen wurde sie ihm von niemand Geringem als Artur Nikisch.2 Bemerkenswerterweise stand das Werk als erster Programmpunkt auf dem allerletzten Programm, das Gustav Mahler am 21. Februar 1911 mit der New York Philharmonic dirigierte. Dass diese Musik Bestandteil des internationalen Repertoires werden sollte, überall und regelmässig gespielt bis in die 1940er Jahre, wird Kenner des Stücks nicht überraschen. Sinigaglias Ouvertüre ist eine Perle des Orchesterrepertoires des frühen 20. Jahrhunderts, voller erinnerungswürdiger Einfälle und überzeugend gearbeitet. Warum das Werk schliesslich nach den 1950er Jahren aus den Konzertprogrammen verschwand, sogar im Ursprungsland Italien, ist rätselhaft. Die Geschmäcker ändern sich, natürlich: vielleicht wurden nach dem Zweiten Weltkrieg komische Ouvertüren als zu unernst empfunden? Eine Wiederentdeckung dieser Musik wäre allemal eine frische Brise für Musiker und Publikum gleichermassen.
Le baruffe chiozzotte ist der Titel eines der bekanntesten Theaterstücke des venezianischen Dramatikers Carlo Goldoni aus dem 18. Jahrhundert, das im Teatro San Luca in Venedig am 23. Januar 1762 uraufgeführt wurde. Dessen berühmteste moderne Produktion, 1962 von Giorgio Strehler im Piccolo Teatro di Milano gegeben, wurde 1966 vom italienischen Fernsehen gefilmt. Grob übersetzt heisst das Bühnenstück „Ärger in Chioggia“, es ist geschrieben im Dialekt von Chioggia, einer kleinen Stadt am südlichen Ende der venetianischen Lagune. Sinigaglia war nicht daran gelegen, die Handlung von Goldonis Komödie nachzuzeichnen. Tatsächlich wäre dies auch schwer vorstellbar angesichts der Komplexität der Beziehungen zwischen den Figuren und ihrer schnellen Entwicklung. Eine Serie von zunehmend wütenden und sogar physisch gewalttätigen Ereignissen (die Baruffe des Titels) sind Folgen eines Flirts zwischen dem Bootsmann Toffolo und Lucietta, die mit dem Fischer Titta-Nane verlobt ist, bis sich am Ende durch das Eingreifen der Amtsperson Isidoro alles in Wohlgefallen auflöst. Auch wäre es falsch zu behaupten, das Sinigaglia im üblichen Sinne versuche, den “Geist” von Goldonis Stück einzufangen, sieht man einmal von einem generell ausgelassenen Temperament der Musik ab. Die gehobene Musiksprache des Stücks ist weit entfernt vom volkstümlichen Tonfall des Bühnenstücks mit seinen Fischern und Fischerinnen, deren Töchtern mitsamt Verlobten. Jedoch mag man in formaler Hinsicht eine Parallele zwischen Goldonis Drama und Sinigaglias Ouvertüre erkennen. So wie sich die Charaktere aus Le baruffe chiozzotte in einer Situation wiederfinden, in der sie in ihrer Wut gegen ihre eigenen Interessen und Wünsche handeln (insbesondere Lucietta und Titta-Nane, das zentrale Paar), so wird die Sonatenstruktur, von der man meint, der Komponist habe sie in den eröffnenden Phasen des Werks bereits fest verankert, im Laufe der Entwicklung zunehmend konfuser und gerät gewissermassen aus dem Ruder. Erst am Ende werden die Fäden wieder zusammengeführt und eine formale Klarheit wiederhergestellt.
Es wäre nicht fair, zu behaupten, dass Sinigaglis Musik nichts Populäres habe oder nicht auch auf das 18. Jahrhundert anspiele. Das Nebenthema, das zum ersten Mal bei

[3] erklingt, könnte fast ein Volkslied sein. Das Hauptthema, mit dem das Werk beginnt, verbeugt sich vor der Periode, in der das Bühnenstück erstmals zu erleben war, indem es sich auf das Metrum einer Gavotte bezieht: man beachtete die Tempobezeichnung alla breve und den Auftakt aus zwei Viertelnoten. Häufig entfaltet die Ouvertüre jene geschäftigen neo-barocken Texturen, die auch Mahler im Finale seiner Fünften Symphonie (1901/02) verwirklicht. Manchmal (zum Beisiel beim animato zehn Takte vor [14]) scheint Sinigaglia beinahe den Mahler’schen Satz zu zitieren. Der eröffnende Abschnitt des Werks erreicht schliesslich eine Kadenz in der Tonika, acht Takte vor [3]. Diese ersten 60 Takte, die das Hauptthema der Sonatenform festigen, haben eine ternäre Form. Die erste Sektion kadenziert in die Dominante einen Takt vor [1], es folgt ein durchführender Mittelteil, der in die Reprise einen Takt vor [2] führt. Der mittlere Abschnitt ist nicht nur auffällig wegen seiner gewagten harmonischen Fortschreitungen (siehe die Passage zwölf Takte vor [2]), sondern auch (in der gleichen Passage) wegen des metrischen Wechsels, der durch den eingeschobenen 2/4-Takt erzeugt wird. Hier verlässt Sinigaglia kurzzeitig das Gavotte-Metrum, wie er es bereits in der Passage ab Takt 8 tat, wo die Akzente nun dort platziert sind, wo einst ein Auftakt war. Ein weiteres auffälliges Merkmal des Hauptthemas ist seine Betonung der Dominante. Die Musik erklingt bereits seit Takt 4 in A-Dur. Nachdem diese Betonung vollzogen ist, scheint sich der Komponist entschieden zu haben, dass eine weitere Modulation des Nebenthemas nicht angemessen wäre. Stattdessen bewegt sich ein kurzer Übergang (acht Takte vor [3]) nach G-Dur, der Subdominante, wo nun das Nebenthema, eine einfache periodische Form, platziert wird, ein ungewöhnliches Vorgehen verglichen mit den klassischen Vorläufern.
Der Beginn der Durchführung kommt überraschend, beim Un poco più mosso acht Takte vor [4]. Genau hier kommt Sinigaglia Goldoni am nächsten; er kreiert eine Situation, die man zusammengefasst als musikalische baruffa bezeichnen könnte. Gleichzeitig gibt der Komponist seinem österreichisch-deutschen Ethos die Ehre und giesst unermüdlich sein Material in immer neue thematische Formen. Als erstes lenkt ein Phrasenpaar, der zweite Anfang bei [4], die Aufmerksamkeit abwechselnd auf den anapästischen Rhythmus des untergeordneten Themas, dann auf dessen lyrischere Seite. Eine Erweiterung der zweiten Phrase führt in eine Passage aus regelmässigen Vierteln (acht Takte vor [5]), die wiederum beim Allegro moderato bei [5] eine neue Idee erzeugt. Das hier kurz bekräftigte h-Moll bleibt instabil, während Sinigalia sich mit dem Allegro bei [6] in Richtung einer weiteren neuen Idee entwickelt. Und wieder wird die Musik erregter, immer in übereifrigen – oder zankenden? – regelmässigen Vierteln. Ein besonders stürmisches Tutti fünf Takte vor [7], dann eine Steigerung bis zu einem Punkt einen Takt vor [8], der harmonisch eindeutig fokussiert ist. Von hier an bis ins Moderatamente mosso bei [9] scheint sich auf dem dominantischen A etwas vorzubereiten, das Nebenthema erklingt und die Musik hat sich in der Zwischenzeit beachtlich beruhigt.
Endlich nun hat sich das Thema in der korrekten Tonart manifestiert, die allerdings längst nicht mehr die korrekte ist. Denn hier handelt es sich vermutlich um die Reprise von Sinigaglias Sonate, einer Reprise, in der die Themen nun in umgekehrter Reihenfolge gespielt werden, mit einem zweiten Thema in der tatsächlich falschen Tonart, denn eigentlich sollte es die Tonika sein. Bei [10] bewegt sich Sinigaglia nach E-Dur und beginnt einen Abschnitt mit einer untergeordneten Durchführung. Insbesondere verdient die lyrische Erweiterung (über einem lange ausgehaltenen dominantischen Pedal) neun Takte vor [11] Aufmerksamkeit: eine neue Idee, sehr à la Strauss ebenso wie der unvermittelte harmonische Wechsel zur Dominante von Des-Dur bei Più mosso neun Takte nach [11]. Erst beim Più animato einen Takt vor [12] kehrt die Musik wieder in Kreuz-Regionen zurück. Was erst wie eine dominantische Vorbereitung in G klingt, führt unerwartet im Allegro bei [13] zu einer Rückkehr der Musik von [5]. Hier geht das Material in Richtung eines dominantischen Pedals in D (das Animato zehn Takte vor [14]), das zurückführt in das Hauptthema in der Tonika, con brio (bei [14]). Nun wird der formale Aufbau der Ouvertüre klarer. Nach den ersten überschäumenden und dann expansiven Richtungen, in die Sinigaglias seine beiden Nebenthemen in zwei durchführenden Abschnitte führt, kehrt das Hauptthema zurück, um die Struktur abzurunden. Ein grosser Teil der Durchführung des Hauptthemas ist wortgetreu, abgesehen von der Steigerung der orchestralen Brillanz. Erst gegen Ende der mittleren Sektion der ternären Form des Themas (ab dem fünften Takt von [16]) beginnt der Komponist bei [17] zunächst, die letzte Wiederkehr der Anfangsidee abzupolstern. Dieses letzte Statement ist beachtlich verändert: kein Modulation zur Dominante (vergleiche Takte 4 bis 6 von [17] mit den Takten 4 bis 6 von [2]), und die Musik bewegt sich rasch zu einer Koda in einem flammenden D-Dur.
Ben Earle, 2016
1 Einer der frühesten Berichte über den Tod Sinigaglias und seiner Schwester findet sich in D.P.L. [Luigi Dallapiccola], »Leone ed Alina«, Corriere di Firenze, 15./16. Oktober 1944, p. 3. Siehe auch Luigi Rognoni, »Leone Sinigaglia«, in Adelmo Damerini und Gino Roncaglia (eds.), Musicisti piemontesi e liguri, Siena, Ticci, 1959, p. 64.
2 Siehe Henry Wood, My Life of Music, London, Gollancz, 1938, p. 271.

Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münch- ner Stadtbibliothek, München.

Score Data

Partitur Nr.

1796

Edition

Repertoire Explorer

Sonderedition
Genre

Orchestra

Format

210 x 297 mm

Performance materials
Piano reduction
Anmerkungen
Druck

Reprint

Seiten

56

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