Martin, Frank

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Martin, Frank

Ouverture en Hommage à Mozart

Art.-Nr.: 1879 Kategorie:

22,00 

Preface

Frank Martin – Ouverture en Hommage à Mozart

(geb. Eaux-Vives [Genf], 15. September 1890 – gest. Naarden, 21. November 1974)

Vorwort
Frank Martin, den man als einen der führenden Tonschöpfer des 20. Jahrhunderts ansieht, erfreute sich einer erfolgreichen Karriere als Komponist, Musikerzieher und aufführender Musiker. Er wurde als jüngstes von zehn Kindern des kalvinistischen Pastors Charles Martin im Genfer Stadtteil Eaux-Vifes geboren. Als junger Komponist vollendete er seine ersten Lieder im Alter von neun Jahren, und als begeisterter Improvisator zeigte er einiges Talent. Irgendwann im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren besuchte er eine Aufführung von Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, die für den Rest seines Lebens einen unauslöschlichen Eindruck hinterliess.

In seiner Jugend hatte Martin keinen systematischen Musikunterricht, sondern er begann seine formalen Musikstudien an der Universität zu Genf, wo er neben Mathematik und Physik die Fächer Klavier, Komposition und Harmonielehre bei Joseph Lauber (1864-1953) belegte. Ab dem Jahr 1926 studierte er Rhythmik und Musiktheorie beim Schweizer Musikerzieher und Komponisten Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950). (Émile Jaques-Dalcroze, der bestens bekannt ist für seine eurhythmische Methode und als Gründer eines Musikinstituts in Genf, hatte in Paris bei Gabriel Fauré und Léo Delibes studiert, was möglicherweise Martins Interesse an der französischen Musik inspirierte).

Zwischen 1918 und 1926 lebte Martin in den verschiedensten europäischen Städten, darunter Zürich, Rom und Paris. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens jedoch verbrachte er im nordholländischen Naarden, wo er sich eines beachtlichen Erfolges als Komponist erfreute. Dort starb er auch und wurde in Genf auf dem Cimetière des Rois beigesetzt.

Obwohl man ihn heute am besten als Komponist kennt, arbeitete Martin in den frühen Jahrzehnten seiner Karriere ebenfalls als Musikerzieher, aufführender Musiker und Veranstalter. Am Institut Jacques‑Dalcroze lehrte er Improvisation und die Theorie des Rhythmus, und am Genfer Konservatorium trainierte er Kammermusikensembles. Im Jahre 1926 gründete er die Société de Musique de Chambre de Genève, in der er selbst Klavier und Cembalo spielte. Als künstlerischer Leiter arbeitete Martin von 1933 bis 1940 am Technicum Moderne de Musique und zwischen 1933 und 1946 als Präsident der Schweizer Musikerassoziation. An der Staatlichen Hochschule für Musik in Köln lehrte er Kompostion von 1950 – 1957.

Martin schrieb eine Reihe von beachtenswerten Werken für Orchester, Kammerensembles, Soloinstrumente, Stimme und für die Bühne. Unter seinen bemerkenswertesten Werken finden sich Petite Symphonie Concertante (1944/45), die der Startschuss seiner internationalen Karriere war, und Le Mystère de la Nativité (The Mystery of the Nativity, 1957/1959), das viele für die beste religiöse Komposition des 20. Jahrhunderts halten.

Im Jahre 1956 beauftragte Radio Geneva den Komponisten aus Anlass des 200. Geburtstages von Wolfgang Amadeus Mozart mit der Komposition von Ouverture en hommage à Mozart. Er widmete sein Stück dem Direktor des Genfer Radios, Monsieur René Dovaz.

In vielerlei Hinsicht greift Martins Ouverture den Geist der Musik Mozarts auf wie auch stilistische Merkmale von Komponisten, die den grossen Musiker beeinflussten und die er im Gegenzug inspirierte. Mozart und seinen Vorgängern und Nachfolgern huldigt Martin insbesondere mit seiner Herangehensweise an Orchestrierung, Form, thematischen Gehalt und Textur. Aber ebenso wie Mozart seine ureigene Stimme wirkungsvoll in einer ansonsten geläufigen Tonsprache artikulierte, die von Experten wie von Musikliebhabern gleichermaßen geschätzt werden konnte, bringt auch Martin seine eigene musikalische Sprache voran, während er gleichzeitig jene Elemente integriert, die Mozarts einzigartige Stimme ausmachen.

Martins Instrumentierung – 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten in B, 2 Fagotte, 2 Hörner in F, 2 Trompeten in C, Pauken, erste und zweite Violine, Bratsche, Cello, und Bass – ist mit der Besetzung grosser Orchester der klassischen Ära vergleichbar. Tatsächlich, mit Ausnahme der Verwendung der Piccoloflöte, ist Martins Wahl der Instrumente verwandt mit der von Mozarts Symphonie Nr. 35 („Haffner“), K. 385 und ähnelt Beethovens Besetzung in seinen ersten beiden Symphonien. Martin spezifizierte die Streicher sogar mit 6-6-4-4-3 in Anlehnung an das späte 18. Jahrhundert, während er gleichzeitig eine Balance der Kräfte mit den Bläsern herstellt. Ebenfalls ist seine Verwendung der Instrumente selbst kennzeichnend für die frühere stilistische Ära. Obwohl die Violine einen grossen Teil des thematischen Materials trägt, findet ein Austausch mit den Holzbläsern statt, um eine farbenfrohe Klangpalette zu kreieren. Hörner, Trompeten und Pauken dienen der Akzentuierung des Rhythmus und füllen mit Harmonien, wie es bereits im 18. Jahrhundert üblich war. Angesichts des feierlichen Charakters der Ouverture überrascht es nicht, dass er sich für Trompeten in C entschied, die zu Mozarts Zeiten für Festorchester eingesetzt wurden.

Auch in Fragen der Form zollte Martin seinem Vorgänger und dessen Werken Respekt. Gesetzt in deutlich getrennten Abschnitten, von denen die beiden äusseren in schnellem Tempo zu spielen sind, der innere hingegen langsamer, erinnert die Gesamtstruktur der Komposition an eine typische dreiteilige, sogenannte Italienische Ouvertüre, wie sie die Opern des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts beherrschte, beginnend mit Alessandro Scarlattis Tutto il mal non vien per nuocere (1681; überarbeitet , 1687 als Dal male il bene). Dieser Typus besteht ebenfalls aus drei deutlich voneinander getrennten Sätzen im Tempo schnell-langsam-schnell. Um 1700 waren dies die üblichen Ouvertüren innerhalb und ausserhalb Italiens. Unzweifelhaft erfuhr Mozart einiges über diesen Formtypus während seiner drei Reisen nach Italien zwischen den Jahren 1769 und 1773 und durch seine Studien der italienischen Oper. So orientiert sich auch die Ouvertüre zu seinem Singspiel Die Entführung aus dem Serail, das sein erster internationaler Opernerfolg werden sollte, an diesem Temposchema. Während Mozart C- Dur und dessen Mollvariante für die schnellen und langsamen Sektionen verwendete, arbeitet Martin in den drei Sektionen seines Werks in den Durvarianten von C-G-C, wahrscheinlich um den feierlichen Ton während des gesamten Stückes zu stützen und die Wichtigkeit der Tonika-Dominante-Beziehung zu beschwören, die der allgegenwärtige Grundpfeiler der Musik des 18. und frühen 19.Jahrhunderts war.

Martins Verehrung für Mozart wird nicht nur im Umgang mit Gattung und Form sichtbar, sondern auch in der Behandlung der thematischen Ideen. Heute wie damals gilt eine besondere Bewunderung Mozarts Überfluss an ansprechenden Melodien und deren logischer Abfolge innerhalb nur eines einzigen Satzes. Im letzten Satz seiner Symphonie No. 41, K. 551 finden sich zum Beispiel allein fünf Themen (deren erste Johann Joseph Fux in seine bahnbrechende Abhandlung zum Kontrapunkt Gradus ad parnassum, 1725 integrierte).

Wie schon Mozart stellt Martin einen wahrhaftigen Überfluss an Themen, Gegenthemen und Motiven in seiner Ouvertüre vor und organisierte sie ähnlich wie die Meister des 18 Jahrhunderts in thematische Gruppen. Die erste dieser Themengruppen besteht aus zwei Themen (Takt 1 und Ziffer 2 bis 7). Das letzte Thema der ersten grösseren Sektion des Stückes (Ziffer 8) markiert den Beginn der Koda. In der mittleren langsamen Sektion der Ouvertüre finden sich drei Themen (Ziffern 9, 10 und 12) und viele Themen der anfänglichen Allegro-Sektion (beginnend bei Ziffer 13). Martin extrahierte zahlreiche Motive aus dem thematischen Material, um Begleitfiguren und Gegenthemen zu schaffen, die in einer kontrapunktischen Tour de force in der Koda (Ziffer 17ff) kulminieren, eine Hommage an Mozarts legendären Kontrapunkt in der Koda des letzten Satzes seiner letzten Symphonie.
Martin übernahm die Logik, mit der Mozart thematische Ideen verband. Die Themen der Ouvertüre finden in einer Weise zusammen, dass es eher ihre motivische Verbindung als die tonale Beziehung ist, die die einzelnen Gruppen zusammenhält. Die Themen der ersten Gruppen zum Beispiel sind charakterisiert durch eine aufsteigende arpeggierte Figur, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als „Mannheimer Rakete“ bekannt wurde. Nach dem Arpeggio hört man eine schrittweise fortschreitende Figur zum dritten Skalenton von C – ursprünglich E, dann Es – die auf diese Weise eine modale Mischung erzeugt. Eine gebundene rhythmische Figur am Beginn eines jeden der sechs Themen, die die zweite Themengruppe ausmachen, stellt deren herkömmliches musikalisches Element dar. Darüber hinaus kann man argumentieren, dass die halbtaktig absteigende Begleitfigur, die ursprünglich in Takt 3 von der ersten Oboe und ersten Fagott gespielt wird, jene Zelle ist, die den thematischen Zusammenhalt erzeugt. (Interessanterweise begann Mozart den letzten Satz seiner Symphonie op.40, K. 550 mit einer „Mannheimer Rakete“, die unmittelbar gefolgt wird von einem absteigenden Halbton ähnlich der gerade erwähnten Begleitfigur in Takt 3 der Overture) Die kompositorische Technik, die Martin benutzt, um einen thematischen Zusammenhang aus einer motivischen Zelle zu erschaffen, wurde auch von Mozart und insbesondere Beethoven eingesetzt, dessen Fünfte Symphonie als perfektes Beispiel für dieses Verfahren dienen kann.

Zusätzlich zum exquisiten Kontrapunkt, der formalen Transparenz und Homophonie zeichnen stilistische Grundpfeiler der Musik Mozarts die Ouvertüre Martins aus. Dünn besetzte Begleitungen unterstützen effektiv Motive und melodische Ideen, und wenn eine Verdopplung auftaucht, erreicht Martin eine feinfühlige Balance in seinem homophonen Satz. In den Fällen, in denen die volle Orchesterbesetzung verlangt ist, sorgen seine vorsichtige Beachtung der „Laufweite“ für eine angemessene Durchsichtigkeit des Klangs. Martins vielgestaltige Instrumentierung, wie beispielsweise bei der Neuformulierung des ersten Themas, dessen Wiederkehr den Anfang der dritten Sektion der Ouverture kennzeichnet, kreiiert ein Kaleidoskop klangvoller Farben, wie sie Mozart zweifellos bewundert hätte.

Martins aussagekräftigstes Verfahren, mit dem er sich vor Mozart verbeugt, ist sein Hang zu einer reichen Chromatik, insbesondere in seiner Themenarbeit. Martin bezieht sich auf Mozarts bemerkenswerten Umgang mit der Chromatik, wie jener sie vor allem am Beginn der Durchführung des letzten Satzes seiner Symphonie Nr. 40, K, 550 einsetzte, in der alle Töne der chromatischen Skala bis auf die der Tonika zu finden sind. Obwohl die Ouvertüre eindeutig mit C als Referenzton beginnt und auch endet, bewegt die Chromatik die Musik von C weg, und alle Überbleibsel einer Polarität zwischen Tonika und Dominante aus Mozarts Ära werden in der ersten Sektion oder der sogenannten Exposition nur flüchtig gestreift. Tatsächlich beginnt das tonale Zentrum E den zweiten Tonartbereich und führt zu einer Terzverwandschaft, wie sie bei Beethoven, Schubert und deren Nachfolgern im 19. Jahrhundert zu hören ist. Wie bereits der erste Tonartbereich ist auch der zweite sehr instabil, nachdem er sich fast unverzüglich der Chromatik unterwirft. Trotz aller Verbindungen zu seinen Vorgängern drückt Martin seine eigene musikalische Stimme sehr wirkungsvoll aus durch die Verwendung der Chromatik, die unwiderstehliches thematisches Material und beeindruckende Harmonien erzeugt.

In seinen späteren Jahren schrieb Martin, dass die Ouvertüre nicht als Pastiche aus Mozarts Musik oder seinen kompositorischen Verfahren geplant war, sondern als „schlichter Ausdruck meiner Liebe und Bewunderung, die mit den Jahren wuchs.“ Tatsächlich drückte Martin in diesem Werk sehr wirkungsvoll seine Schätzung aus, indem er stilistische Eigenschaften, kompositorische Techniken und die ästhetischen Anschauungen aus Mozarts Zeit und von Meistern, die Mozart bewunderte und die ihn später bewunderten, in sein Werk integrierte. Unzweifelhaft steht Mozart im Zentrum von Martins Ouverture, aber indem er erkennbar kompositorische Techniken von Komponisten, die Mozart vorangingen und folgten einbezieht, ehrt Martin auch Mozarts Einfluss und seine Hinterlassenschaft, die auch der verehrte Widmungsträger seinen Nachfolgern zukommen ließ.

Jean Hellner, 2016

Aufführungsmaterial ist erhältlich vom Verlag Universal Edition, Wien. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Originalverlags Universal Edition, Wien, 2016.

Score Data

Genre

Orchester

Format

160 x 240 mm

Druck

Reprint

Seiten

62

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