Huybrechts, Albert

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Huybrechts, Albert

Quintette à vent for flute, oboe, clarinet, horn and bassoon (score and parts, first print )

30,00 

Albert Huybrechts – Quintette à vent (1936) für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott

(geb. Dinant, 12. Februar 1899 – gest. Woluwé-Saint-Pierre, 21. Februar 1938)

 

I Modérément animé (p. 2) – attacca:
II Très lent (p. 8) – attacca:
III Vif et léger (p. 14)

Belgien ist ein zutiefst zerrüttetes Land, von der Spaltung zwischen flämischem und wallonischem Lager traumatisiert, und ein Land mit vielen „Leichen im Keller“. Eine dieser Leichen wird in den letzten Jahren Stückchen um Stückchen ausgegraben: Albert Huybrechts, der zweifelsohne bestechendste Vertreter der klassischen Moderne Belgiens, dem übrigens mittlerweile eine von den Nachkommen autorisierte Webseite gewidmet ist, die zwar nicht gerade viel Background-Information enthält, jedoch wenigstens ein komplettes Werkverzeichnis (das Œuvre Huybrechts’ ist schmal) und einen Überblick über die kommerziellen Aufnahmen seiner Werke.

Da Huybrechts’ Vater starb, als der Sohn gerade volljährig wurde, übernahm er die Unterhaltsverpflichtungen für Mutter und Geschwister und führte ein Leben im Schatten der Erfolgreichen. Das sah nicht immer so aus, denn 1925 erhielt er für seine frisch fertiggestellte Sonate für Violine und Klavier (sein in der Folge meistgespieltes Werk) den Coolidge-Preis und fünf Tage später für sein 1. Streichquartett den ersten Preis des Ojay-Festivals. Der dauerhafte Erfolg war zum Greifen nahe, und entglitt ihm doch sogleich wieder. Unbeirrt hat er in der stets knapp bemessenen Zeit, die ihm dafür blieb, weiter komponiert: weit überwiegend Kammermusik vom feinsten, aber auch Orchesterwerke, Lieder und eine Bühnenmusik zu Aischylos’ Agamemnon, die leider bis auf das Vorspiel verschollen ist. Als endlich die Ernennung zum Konservatoriumsprofessor in Brüssel erreicht war, starb er an einem Nierenversagen.

Als Sohn eines Orchestercellisten wurde er zum Oboisten herangebildet (was sicher eine Erklärung für seine große Vorliebe für die Holzblasinstrumente ist) und gewann mit sechzehn Jahren als Instrumentalist den ersten Preis am Konservatorium. In Komposition wurde er von Joseph Jongen (1873-1953), dem angesehenen Franck-Nachfolger in Belgien, unterwiesen und eignete sich gründlichste handwerkliche Fertigkeit an. Die frühen Werke stehen denn auch noch in dieser Einflusssphäre, doch treten auch offenkundige Einflüsse Debussys hinzu.

Dann erweiterte sich sein stilistisches Spektrum Schritt um Schritt beträchtlich, und er saugte die neuen Errungenschaften Strawinskys, Bartóks, Schönbergs, Milhauds, Honeggers usw. auf. Am nächsten steht er dem Schaffen Albert Roussels: in seiner widerborstigen Querständigkeit, den schrägen Harmonien und Rhythmen, der aller außermusikalischen Assoziationen abholden radikalen Konzentration auf das Eigenleben der motivischen Entfaltung, der frappierenden Verwebung von Thematischem und Figurativem zu einer Art neuklassischer Polyphonie, die die kontrapunktische Kunst der altniederländischen Meister sozusagen incognito in den aufgerauht expressiven Tonfall schmuggelt, und im fast demonstrativen Desinteresse an sensationeller Modernität als Selbstzweck. (Übrigens sollte ja selbst Roussel trotz höchsten Karats, größter Schätzung in Fachkreisen und exzellentester Aufführungen letztlich nicht die Popularität etwa von Fauré, Debussy, Ravel, Milhaud oder Poulenc erreichen.)

Die reifen Werke Huybrechts’ in den dreißiger Jahren sind kontinuierlich von einer Dichte, Stringenz und hermetischen Größe gekennzeichnet, wie dies nur bei den ganz Großen in solcher Regelmäßigkeit der Fall ist. Zugleich ist bei aller Wildheit und lebenssprühenden Eloquenz der schnellen Sätze überall ein zutiefst introvertierter, trostloser Tonfall gegenwärtig, der anmutet wie ein verzweifelter Kampf mit der Einsamkeit und dabei niemals in resignative Sentimentalität umkippt.

Auch Huybrechts’ Aneignung des Neoklassizismus geht sowohl über die kühl konstruierte Puzzle-Technik Strawinskys hinaus als auch über die pittoresken Stilbrüche Poulencs oder die bitonale Musikanterie Milhauds: Huybrechts hat sich deren Vokabular und Grammatik souverän zu eigen gemacht und schreibt zugleich stets aus einer ganzheitlichen Haltung heraus, die einen wachen, integrativ handelnden Geist vermittelt, bei dem technische Meisterschaft, ernsthafte Aussage, Humor, Sarkasmus, Drama, Tragödie und zärtliche Innigkeit nicht zu trennen sind.

Sein Spätwerk – das ‚Spätwerk’ eines Mittdreißigers – hat alle französische Idyllik unendlich weit hinter sich gelassen – in einiger Hinsicht vergleichbar Roussel, und doch auch so ganz anders, hat Huybrechts seinen eigenen Weg gefunden, der das dissonante Spektrum integriert und darin, bei allen absichtlichen Unwegsamkeiten, nie trockener Sperrigkeit anheimfällt, und auf den sich eben keiner der zeittypischen kategorisierenden Begriffe wie Neoklassizismus oder Neue Sachlichkeit treffsicher anwenden lässt, denn in dieser Musik verschmelzen Elemente des Expressionismus und Impressionismus auf einmalige Weise auf der Höhe der Zeit und diese im selben Atemzug transzendierend.
Das 1936 komponierte, drei Sätze in einem durchgehenden Ablauf umschließende Bläserquintett, das einerseits von überschießender Kraft zeugt und andererseits vollendete Balance der Form bezeugt, ist eines von Huybrechts’ meisterhaftesten Werken. Im Mittelsatz flicht er über die Zeiten hinweg die archaische Melodie der ‚Dies irae’-Sequenz ein, die die unbiegsame Achse des Geschehens im Zentrum seines wundervollen Quintetts bildet und dessen unmissverständliche Botschaft in die Welt trägt: Jeder Tag ist – nicht nur, aber auch in Belgien – ein neuer ‚Dies irae’, dem wir uns mit all unseren konstruktiven Kräften zu stellen haben. Albert Huybrechts’ Musik kann uns zudem lehren, nicht vor der Unerbittlichkeit und radikalen Schönheit der Realität in die alltäglichen Maskenspiele der Oberflächlichkeit zu flüchten – in der unprätentiösen Sprache wahrhaft großer Musik, die es nicht nötig hat, hübscher, heiliger oder extravaganter scheinen zu wollen, als das menschliche Leben ist.

Huybrechts’ Bläserquintett wird hiermit in einem von Wolfgang Pickhardt edierten und kritisch kommentierten Neudruck wieder verfügbar gemacht. Es ist ein zwar weithin unbekanntes, jedoch eines der wertvollsten und eigentümlichsten Werke für diese auch von großen Meistern so reichlich bedachte Besetzung.

Christoph Schlüren, Oktober 2018

Partitur Nr.

4086

Genre

Kammermusik

Format

Anmerkungen

Druck

Erstdruck

Seiten

64

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