Delius, Frederick

Alle

Delius, Frederick

Sea-Drift for Baritone Solo, Mixed Chorus and Orchestra (Vocal Score with German and English libretto)

Art.-Nr.: 1265b Kategorien: ,

18,00 

Frederick Delius

(geb. Bradford, 29. Januar 1862 – gest. Grez-sur- Loing, 10. Juni 1934)

Sea-Drift

für Bariton Solo, gemischten Chor und Orchester

Information zum Stück:

Sea-Drift ist ein Abschnitt aus Walt Whitmans Leaves of Grass, von dem Delius einen Teil des ersten Gedichtes in Musik setzte: Out of the Cradle Endlessly Rocking. So lautet der Titel wie auch die erste Zeile seines Prologs, eine Metapher für Geburt und Anspielung auf die unablässige Bewegung der elementaren See. Auf dem Hintergrund dieser Ideen über das mit Gefühl begabte Leben und die Unbewusstheit der Naturgewalten entfaltet sich das Drama: Whitmans Kindheitserinerung an ein Ereignis, das Ursache war für sein “Seelen – Erwachen” als Dichter. Was seine kreative Muse weckte war sein kindliches Bewusstwerden der Unausweichlichkeit des Todes, die sich ihm im vermenschlichten Klagelied eines Vogels offenbarte, und die Erkenntnis der alles übersteigenden Kraft der Liebe.

Whitmans Gefühlswelt sprach Delius so stark an, dass, als er sich an die Orchestrierung machte, “die Form mir sozusagen aus den Händen genommen wurde, als ich arbeitete, und auf einfache Weise sich aus meinen musikalischen Ideen ergab und aus der Natur und Abfolge gewisser poetischer Einfälle von Whitman, die mich angeregt hatten.” 1 Erzählt wird die Geschichte eines Spottdrossel – Pärchens, das sich zum Brüten an der Küste von Paumanok (ein indianischer Name und Whitmans bevorzugte Bezeichnung von Long Island, New York) niedergelassen hat. Ein junger Bursche (Whitman) beobachtet, wie das Weibchen die Eier ausbrütet, während das Männchen auf der Futtersuche “hin – und her” fliegt. Dann jedoch ist das Weibchen plötzlich verschwunden und kehrt nicht wieder zurück. Der Erzähler fährt fort und berichtet, wie er sich für den Rest des Sommers in die offensichtliche Trauer des männlichen Vogels hineinversetzt, ihn beobachtet, sich identifiziert, gar mitten in der Nacht an den Ort des Geschehens schleicht. Der Dichter spürt das elementare Unverständnis der Kreatur über das Wegbleiben der Frau, eine wachsende Verzweiflung über die ausbleibende Rückkehr und schliesslich die bittere Erkenntnis des Verlustes, gepaart mit der Erinnerung an glückliche Zeiten, die man miteinander erlebte.

Der Grund, warum dieses Werk zu einem der erfolgreichsten von Delius gezählt wird, liegt an dessen Qualität, die tiefempfundenen Gefühle der Dichtung mit durchgehend hoher Intensität auszudrücken. Perfekt gelingt es Delius, die Spannung zwischen der menschlichen Bewusstheit und den ursprünglichen Gewalten der Natur einzufangen. Es ist notwendig, ein paar Worte zu einigen Aspekten von Delius’ Orchestrierung des Textes zu sagen, einem der originärsten Aspekte der Partitur. Delius hätte Whitmans Differenzierung folgen können, indem er die vermenschlichten Gedanken des männlichen Vogels (kursiv gedruckt) dem Solisten zuordnet und die erzählende Stimme des Dichters (in normaler Schrift) dem Chor oder umgekehrt. Aber eine solch geradlinige Verarbeitung hätte möglicherweise zu einer musikalischen Unbalanciertheit geführt und nicht Delius Ausdrucksvorstellungen entsprochen; stattdessen teilt er die Rollen zwischen Chor und Solisten und erschafft eine Interaktion, innerhalb derer einmal der eine, dann der andere die Erzählung vorwärtsbringt. An strategischen Punkten erlaubt er sich ein Überlappen der Texte (verschiedene Zeilen werden gleichzeitg gesungen), in dem der Verlust an Verständlichkeit ein impressionistisches Klanggemisch kreiert. Gelegentlich bekommt der Chor die Gelegenheit, in eher konventioneller Weise als Echo der Worte des Solisten zu funktionieren.

Vor allem in seiner fruchtbaren Zeit war für Delius die Form die ihm innewohnende Antwort auf den Text: “ … wenn man mich fragte, so würde ich sagen, dass Form nichts weiter ist als das, was einem Gedanke geistige Einheit verleiht. Sie ist im Gedanken selbst enthalten und nicht als etwas hinzugefügt, das bereits anderswo existiert.” 2 Wir mögen nach Belegen für musikalische Struktur (im üblichen Sinn des Wortes) suchen und sie auch finden, aber wir werden nie wissen, in welchem Maße sie Ausdruck des Bewußten oder Unbewußten des Komponisten ist. (Ganz gewiss gilt dies für viele Komponisten, aber in diesem Fall ist der Sachverhalt von besonderem Gewicht; Delius war sehr unwillig, seinen kompositorischen Prozess zu diskutieren). Er beanspruchte für sich, ein besserer Komponist zu sein, wenn er einen Text in Musik setzte. Wenn wie bei Delius ein Komponist traditionelle kompositorische Verfahren meidet, geben Worte eine Struktur und beeinflussen die Dimensionen der Musik. Aber obwohl seine Musik nahtlos voranschreitet, zerfällt sie doch in eine Reihe von klar umrissenen Abschnitte gemäß der Struktur von Whitmans Text.

Delius ist unvergleichlich im Erschaffen von überwältigenden Höhepunkten. Als Beispiel seiner Meisterschaft schauen wir uns den Abschnitt an, der bei Ziffer 13 beginnt und der zu einem kolossalen Höhepunkt 75 Takte später bei Ziffer 17 führt. Der Autor selbst beginnt die Sektion, indem er rückblickend erzählt, wie intensive Beobachtung und Aufgehen in der Landschaft in ihm die Vorstellung erwecken, sich vollständig in die Gefühle des Vogels hineinversetzen zu können: “Sinn, den ich von allen Menschen weiss.” Indem er die Technik der Textüberlappung verwendet, hat der Chor bereits begonnen, die therapeutische Wirkung der Wellenbewegungen zu assoziieren (“Besänftige, besänftige, besänftige”), die der verwirrte Vogel zurückweist. Wo Whitmans Tonfall wilder und expressionistischer in der Beschreibung des Mondes wird, “schwer von Liebe”, wird die Musik gleichzeitig verstörter. Zunehmend errregt, halluziniert der Vogel die Frau weit weg in der Dünung. Diese wütend erotische Passage gipfelt im hartnäckigen Flehen des Vogels um ihre Rückkehr (“Du mußt wissen, wer ich bin, Geliebte”). Musikalisch passt sich Delius hier jeder Gefühlswandlung an und überhöht sie. Die Einführung des Dichters wird umsäumt von einem sehningen Strang aus Triolen, gesponnen durch die Geige, dem nächtlichen Ambiente verleiht das Zupfen der Harfe seine Farbe (“vermeiden das Mondlicht”), und es gibt thematische Anspielungen auf das Meer “da draussen in der Sturzsee”. Mit einem Wechsel der Tonart (d/F) verwandelt sich die musikalische Textur und wird zunehmend “durchtränkt von der See” als Antwort auf die endlose Bewegung der Gezeiten, charakterisiert von kurzen Fragmenten fallender und sich wieder aufbäumender Achtelnoten. Im metrischen Sinn hat sich die Musik entwickelt von vier Schlägen je Takt (¢) zu sechs (3+3) und dann zu neun (3+3+3) bei Ziffer 14. Dieses Verfahren erlaubt eine freie Entfaltung von Delius bevorzugten zusammengesetzten Rhythmen, um wachsende Lebendigkeit auszudrücken zusammen mit dringlichen thematischen Bruchstücken und einem Drängen nach vorn. Mit zunehmender Erweiterung der Orchestrierung hören wir den komplexen Einsatz der Motive und Einwürfe des Chors, die uns unaufhaltsam dem unvermeidlichen Höhepunkt entgegendrängen, schliesslich noch verzögert durch vier Takte dynamischen Kontrasts (mf-ff) vor dem niederschmetternden Höhepunkt, der dann schnell verklingt.

Delius vertont nicht Whitmans gesamtes Gedicht von 22 Zeilen. Stattdessen benutzt er das orchestrale Vorspiel des Werks, um die Szene zu gestalten, auf dem sich das folgende Drama abspielen wird. Würde jemand erraten, dass es sich hierbei um das Portrait einer Seelandschaft handelte, wenn es nicht bereits der Titel andeutete? Gut möglich, denn auf verschiedenste Weisen wird die passende Stimmung beschworen, die Interpretation aber dem Zuhörer überlassen. Zum Beispiel mag man die langsam sich verändernden gedämpften Streicher als die Gischt hören, die auf den Sand läuft und wieder zurückweicht, die pulsierenden, regelmässigen Bassfiguren erinnern an das rastlose Drängen der Gezeiten, die Folge absteigender Arpeggien der Holzbläser könnten das endlose sich Überlappen der Wellen beschwören. Sollten wir eingelullt sein in die Fantasie einer idyllischen Landschaft, so fügt der Klang der chromatischen Linien des Englischhorns bereits einen Hinweis auf kommende Kadenzen hinzu. Wie berückend aber auch immer das impressionistische Klangportrait wirken mag, dient es doch als urgewaltiger Hintergrund, vor dem sich das bewegende Drama der Vögel und des Jungen / Dichters abspielt. So tauchen die drei Elemente, die das Vorspiel ausmachen, im ganzen Stück immer wieder auf, in Teilen oder transformiert, in zweideutiger Tonart (E – Dur / cis -Moll), die schliesslich in den allerletzten Takten aufgelöst wird. Wir finden weiter kompositorische Eigenheiten, die einer Bemerkung wert sind: die Passagen in zusammengesetzten Takten, die Heiterkeit und Elan vermitteln; der Gebrauch von triolischen Motiven, die die Vogelrufe imitieren; Verzweiflung und Verlust, beschworen durch schmerzhafte Vorhalte; der gelegentliche, dosierte Einsatz eines Leitmotivs. Als Beispielt hierfür mag eines dienen, das nach Ziffer 21, eine Sechzehntelfigur einschliessend, auf den abschliessenden Seiten der Partitur immer dominanter wird und möglicherweise für “Resignation” steht. Man sollte nicht vernachlässigen, wie umsichtig und effektiv Delius die Möglichkeiten des grossen Orchesters beherrscht. Nur in zwei Höhepunkten lässt er sie voll erblühen; tatsächlich müssen dritte Posaune und Tuba mit ihrem ersten Einsatz warten, bis das Stück schon zur Hälfte vorüber ist. Sein umsichtiger Einsatz der gesamten Klangpalette des Orchesters zeigt ihn als einen Meister der Orchestrierung. Delius’ Muse ist die Harmonie; selten nur schreibt er Melodie und Begleitung, sondern es ergeben sich die melodischen Linien aus den harmonischen Fortschreitungen. Die Verarbeitung des Textes ergibt sich aus der Harmonie, und Melodie ist das Ergebnis des Ausdrucks, nicht sein Katalysator. Manchmal klingt die Melodie des Solisten eckig, nicht melodisch im üblichen Sinne, gelegentlich nimmt sie einen deklamatorischen Zug ähnlich eines Rezitativs oder Arioso an, ganz entsprechend ihrer erzählerischen Funktion. Ebenso ist der Chorsatz wesentlich harmoniebezogen, selbst wenn Chromatik und Stimmführung eine polyphone Struktur nahelegen. Man findet einige wankende Einsätze, auch Versuche von Imitaion, aber sie fallen kaum ins Gewicht. So sind die erstaunlichsten Effekte rein akkordisch, wie “Leuchte, leuchte, leuchte” bei Ziffer 6, und die ergreifendste Sektion dauert 26 Takte voller reicher, unbegleiteter Harmonien für Chor und Solist bei Ziffer 19: “O aufsteigender Stern”.

Es ist nicht bekannt, wo, wann und wie Delius mit Whitmans Gedichten in Berührung kam. Es könnte während seiner späten Tage seines Aufenthalts in Amerika im Jahre 1886 gewesen sein. Eine Reihe von englischen Komponisten, darunter vor allem Ralph Vaughan Williams, vertonten Whitmans Gedichte in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie Delius angeregt haben. Auch ist bekannt, dass seine Frau Jelka sehr einflussreich bei der Wahl seiner Textvorlagen war, und er begann die Arbeit an Sea-Drift 1903, dem Jahr ihrer Heirat. Sie übersetzte auch den Text ins Deutsche. Fertiggestellt 1904, erlebte das Werk seine Erstaufführung anlässlich des Tonkünstlerfest in Essen am 24. Mai 1906. Georg Witte dirigierte, und der Bariton – Solist war Josef Loritz. Eine weitere Aufführung gab es in Basel am 2. März 1907 unter Hermann Suter. Die englische Erstaufführung fand am 7. Oktober des folgenden Jahres als Teil des Sheffield – Festivals statt, dirigiert von Henry Wood mit Frederic Austin als Solist. Im Monat darauf spielte es Thomas Beecham, der der wichtigste Förderer des Stückes werden sollte, in Hanley mit der exzellenten North Staffordshire Choral Society und wiederholte es am nächsten Tag in Manchester. In London konnte man es zum ersten Mal am 3. Dezember 1908 in der Queen’s Hall hören, Beecham hatte aus diesem Anlass den Staffordshire – Chor mitgebracht. Die Kritiken zu den frühen Aufführungen waren gemischt, einige überraschend weitblickend, was den Stellenwert des Werks betrifft, andere schlicht verwirrt. Gegen Ende seines Lebens, als Delius die Errungenschaften seines Lebens Revue passieren liess, erachtete er Sea-Drift als eines seiner besten Werke.

Roderick L. Sharpe, 2012

1 Fenby, Eric. Delius as I Knew Him. Cambridge: Cambridge University Press, 1981, S. 36

2 Ibid, S. 200

Aufführungsmaterial ist von Universal Edition, Wien zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtischen Bibliotheken, Leipzig.

 

 

 

Mehr lesen > HERE

 

 

Partitur Nr.

Edition

Genre

Format

Anmerkungen
Druck

Das könnte Ihnen auch gefallen…

Nach oben