Grétry, André

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Grétry, André

Le Tableau parlant (with French libretto)

Art.-Nr.: 2041 Kategorie:

38,00 

André-Ernest-Modeste Grétry – Le Tableau parlant

(geb. Lüttich, 11. Februar 1741 – gest. Montmorency, 24. September 1813)

(1769)

Comédie-parade in einem Akt

nach einem Libretto von Louis Anseaume

Vorwort

Charmant, weltgewandt, gutaussehend und ausgestattet mit einer perfekten Beherrschung von Musik, Redekunst und Schriftstellerei: André-Ernest-Modeste Grétry dominierte wie kein zweiter Komponist die europäische Opernbühne des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Weitaus länger als ein halbes Jahrhundert wurden die zahlreichen Opéras comiques dieses schon zu Lebzeiten als „Molière der Musik“ bekannten Komponisten überall dort inszeniert, wo die Opernkunst gepflegt wurde, von der iberischen Halbinsel bis Skandinavien, von Russland bis in die Neue Welt. Trotz der Umwälzungen der französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und der Restauration gab es zwischen Juni 1769 und November 1824 lediglich einen einzigen Monat, in dem kein Grétry-Werk auf die Bretter der Pariser Opéra-Comique ging – eine Erfolgsgeschichte, angesichts derer die modernen Musicalkomponisten wie Richard Rodgers oder Andrew Lloyd Webber vor Neid erblassen dürften. Dennoch steht die damalige Beliebtheit Grétrys in krassem Widerspruch zu seiner heutigen Vernachlässigung. Die Ursachen findet man zum Teil in der Gattung selber – die Opéra comique verzichtet auf Rezitativ zugunsten gesprochener Dialoge, wobei gleichermaßen stimmlich wie schauspielerisch begabte Sänger-Darsteller heutzutage eher zu den Seltenheiten des Opernbetriebs zählen – aber auch zum Teil darin, dass sich die späteren Opernkomponisten eher von den überlebensgroßen Erscheinungen Mozart und Gluck haben leiten lassen statt von der elegant-zurückhaltenden Kunst eines Grétry. Dass Mozart jedoch dem Opernkomponisten Grétry sehr wohl viel verdankte, wird nicht nur durch seine Biographie attestiert (Mozart besaß die Partitur zu Grétrys Zauberoper Zémire et Azor und erhielt von seinem Vater zu Studienzwecken Grétry-Arien per Post), sondern auch durch seine Musik. Der große frühe Mozart-Biograph Hermann Abert brachte die Eigenschaften auf den Punkt, die Mozart von seinem älteren französischen Kollegen geboten wurden: die mühelose Beherrschung einer an Volksgut gemahnenden Melodik, eine Ausweitung und zugleich Vertiefung der Sujets der Lustoper, eine Vielfalt in der Behandlung der Arienformen, die Hervorbringung von großangelegten Szenen, die aus kontrastierenden kleineren Abschnitten zusammengestellt werden, sowie eine allgemeine Flexibilität in der Handhabung der verschiedenen musikalischen Idiome, die eine Vielfalt an musikdramaturgischen Möglichkeiten eröffnete. Wer an der Art und der Tragweite dieses Einflusses zweifelt, braucht nur das berühmte Finale aus dem II. Akt der Hochzeit des Figaros mit dem aus dem I. Akt von Grétrys Oper L’amant jaloux zu vergleichen.

Le Tableau parlant ist das siebte Theaterwerk Grétrys aus einem Bühnenschaffen, das sich auf mehr als 50 Opern erstreckt. Dessen Ursprünge sind wohl in einer Herausforderung zu finden, die Grétry nach dem Erfolg seiner Oper Lucile (Januar 1769) – einer comédie-larmoyant, die das Publikum gattungsgerecht zum Weinen brachte – sich selbst auferlegte. Die Umstände beschrieb er später in seinen Mémoiren (Paris, 1797): „Das Publikum […] war indessen in der Auffassung einig, daß mir das heitere Genre verschlossen sei; die Zeitungen wiederholten die Meinung des Publikums, and man warf mir vor, die Leute in der komischen Oper zum Weinen zu bringen. Diesem Tadel begegnete ich mit dem Stück Le Tableau parlant.“

Daraufhin suchte Grétry nach einem passenden Libretto beim erfahrenen Theatermann Louis Anseaume (1721-1784), der der Pariser Opéra-Comique abwechselnd als Sous-directeur und Souffleur (bis 1761) und später als Repetitor und Librettist (ab 1762) diente. Anseaume nahm sich ein uraltes Sujet aus der Welt der italienischen Commedia dell‘arte vor, wobei er sich nicht einmal die Mühe gab, die historisch verbrieften Personennamen wie Pierrot und Colombine zu ändern, den Stoff allerdings erheblich vertiefte, indem er der grundsätzlich possenhaften Handlung auch realistische Elemente hinzufügte und jeder Bühnenfigur eine Vorgeschichte verlieh, um deren Persönlichkeit dreidimensional zu gestalten. Das Ergebnis war die einaktige Komödie Le Tableau parlant (Das sprechende Bildnis), der Anseaume auch die Gattungsbezeichnung „Comédie-parade“ beigab. Die heute wohl gänzlich in Vergessenheit geratene Gattung der Comédie-parade war zum Zeitpunkt der Entstehung des Tableau parlant von einer erfrischende Modernität, die der deutschstämmige Kommentator des literarischen Frankreichs Baron von Grimm in seinem berühmten Correspondance Littéraire wie folgt beschrieb: „Die ‚parade‘ ist eine Mischung aus Bouffonerie und Vornehmheit; die Schauspieler stammen aus dem niederen Volk und versuchen uns zum Lachen zu bringen, indem sie die tragische Redeweise nachäffen und die Aussprache der Wörter in burlesker Weise verdrehen. In der Regel wenden die klassischen Autoren dieser Gattung ihren Einfallsreichtum darauf an, die Dialoge mit mehrdeutigen Ausdrücken zu bespicken, die fast unweigerlich eine idiotische Wirkung erzielen.“

Grétry stürzte sich mit Elan in das neue Projekt, das – wie er sagte – ihm vor die Aufgabe stellte, „das Genre der ‚Mantel- und Degenstücke’ zu veredeln, ohne, soweit sich das machen ließ, die Wahrheit zu verletzen; dies zu beachten ist für jeden Komponisten, der einen trivialen Gegenstand behandelt, von äußerster Wichtigkeit.“ Es war jedoch gerade die vermeintliche Trivialität des Sujets, die seinen immer fließenden Erfindungsgeist besonders beflügelte: „Es war in heiteren Frühlingstagen, als ich Le Tableau parlant komponierte, und ich kann sagen, daß zwei Monate lang Singen und Lachen meine Hauptbeschäftigung war. Ich war so erfüllt von meinem Gegenstand, daß ich eines Tages nach dem Essen beim schwedischen Gesandten vier Musiknummern hintereinander schrieb. Diese Fruchtbarkeit überraschte mich selbst.“

Am 20. September 1769 ging Le Tableau parlant in der Pariser Comédie-Italienne zum erstenmal über die Bretter und erwies sich sofort als glänzender und dauerhafter Erfolg. Dem anerkennenden Publikum entging die Neuartigkeit des Stückes nicht; um wieder mit Baron von Grimm zu reden: „Es ist eine absolut neue Musik, für die es in Frankreich kein Vorbild gab.“ Ein Vorbild gab es natürlich doch, allerdings nicht in Frankreich, sondern in Italien, und zwar in der Opernkunst von Giovanni Battista Pergolesi, die Grétry nachweislich in seiner Jugend mit Freude studiert hatte. Dennoch: Das differenzierte Gleichgewicht zwischen einfachen Affekten und komplexeren Gefühlsregungen (Ironie, Spott, Selbstverliebtheit, Gefühlsheuchelei), die raschen, in der Musik leicht und treffend eingefangenen Wechsel der Stimmungen, der Kontrast zwischen sentimentaler Melodik und ironisierend leichtfüßiger Begleitung, die gekonnte Mischung aus Lyrischem und Possenhaftem: All dies war der Pariser Bühne ziemlich neuartig und verhalf Grétry dazu, einen Prominentenstatus unter seinen Zeitgenossen zu gewinnen. Zu den Bewunderern des Tableau parlant gehörte beispielsweise der großer Enzyklopädist und Musiktheoretiker Jean-Baptiste le Rond d‘Alembert, der Grétry gegenüber beklagte, das Komödiantische des Stückes würde die Zuschauer daran hindern, die Tiefe der musikalischen Umsetzung wahrnehmen und schätzen zu können. (Darauf antwortete Grétry mit der Überlegenheit eines Mannes, dem sein eigener Wert durchaus bewusst ist: „Sollen sie sich ruhig an die Dinge halten, die in erster Linie auf sie Eindruck machen. An mich wird die Reihe schon noch kommen.“) Ein weiterer Bewunderer des Werks war der Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der Augenzeugenberichten zufolge eine Arie aus dem Tableau parlant mindestens zehnmal abgeschrieben haben soll. Als man Grétry davon erzählte, war er vor Überraschung wie vom Donner gerührt: „Du, Jean-Jacques, hast etwas von mir abgeschrieben! Du, der Deuter der Natur! Du, der du in deinen Schriften Regeln für alle Künstler des Jahrhunderts und der zukünftigen aufgestellt hast! Ach, wenn doch der Musikliebhaber, der eine dieser Kopien besitzt, mir die Wertschätzung meiner Arbeiten dadurch bewiese, daß er mir die von der Hand Rousseaus kopierte Arie übereignete!“

Bei besagter Abschrift handelte es sich um die Arie der Colombine „Vous étiez ce que vous n‘étes plus“, der Grétry – wohl als Reaktion auf die Bewunderung Rousseaus – in seinen Mémoiren auch eine abschlussreiche Analyse widmete, die einiges über seine Bemühungen um bühnenwirksame Realitätsnähe verrät: „Im honigsüßem Ton sagt sie zu ihm: ‚Sie müßten sein, was Sie nicht mehr sind“. Wenn ich diese Arie einen Halbton höher geschrieben hätte, wenn Colombine ihm das gleiche in einem fröhlichem und entschiedenen Tonfall gesagt hätte, würde Cassandre sie schon bei der zweiten Zeile „Sie müßten nicht sein, was Sie sind“, zum Schweigen gebracht haben. Das ist die psychologische Wahrheit, die erste, die der Komponist fühlen muß, wenn er den Text liest, den er in Musik setzen will. […] Beachten Sie auch, daß die Melodie dieser ironischen Arie immer aufsteigen will, sich jedoch am Ende jeder musikalischen Phrase senkt. Die ganze erste Teil dieser Arie ist in dieser Art beschrieben.“

Auch der Mittelteil der Arie kommt in Grétry Analyse zum Zuge: „Im zweiten Teil dieser Arie habe ich die Taktart verändert, habe sie verändern müssen; die Ironie hätte zu lange gewährt, Cassandre wäre ungeduldig geworden und das Publikum mit ihm, und ohne diesen Kontrast wäre mir das Dacapo der Arie verlorengegangen, das unbedingt hierher gehört. Ein ironischer oder spöttischer Tonfall darf niemals lange währen.“

Nach den Aufführungszahlen gemessen gehört Le Tableau parlant zu den drei oder vier erfolgreichsten Opern, die der Feder Grétrys jemals entsprangen. Allein an der Opéra-Comique blieb das Werk fast ein ganzes Jahrhundert lang im Repertoire und wurde sage und schreibe 636-mal aufgeführt. Dazu kommen die vier weiteren Pariser Bühnen, an denen das Werk auch inszeniert wurde, ganz zu schweigen von den vielen Bühnen in ganz Europa und der Neuen Welt, die diese schillernde kleine Opernkomödie dem dankbaren Publikum zum besten gaben. Umso bemerkenswerter fällt es daher auf, dass Le Tableau parlant aus dem Opernrepertoire so gänzlich verschwand und offensichtlich einer ordentlichen Wiederentdeckung noch harrt. Das einzige, das kommerziell zugänglich auf Tonträgern erschienen ist, sind die stets beliebte Ouvertüre sowie eine einzige Arie, die die unsterbliche Maggie Teyte im Jahre 1944 für RCA Victor aufnahm. Dabei handelt es sich – wen wundert’s? – um die gleiche Arie der Colombine „Vous étiez ce que vous n‘étes plus“, die den Philosophen Rousseau so gefesselt und entzückt hatte.

Handelnde Personen

Cassandre, Vormund Isabelles – Tenor

Isabelle – Sopran

Colombine, Isabelles Zofe – Sopran

Léandre, Neffe Cassandres – Tenor

Pierrot, Léandres Diener – Tenor

Zusammenfassung der Handlung

In Cassandres Haus; ein kurz vor der Vollendung stehendes Porträt Cassandres steht auf einer Staffelei im Hintergrund: Léandre, der Geliebte Isabelles, ist seit längerer Zeit spurlos verschwunden. Seit dem Tod ihrer Eltern lebt Isabelle bei Ihrem alten Vormund Cassandre, Léandres Onkel, der ihr den Hof macht und sie heiraten will. Die Vorschläge ihrer gerissenen Zofe Colombine zur Lösung der Probleme scheinen Isabelle aufgrund ihres Stands nicht akzeptabel. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zum Schein auf Cassandres Heiratsantrag einzugehen. Um Isabelle auf die Probe zu stellen, gibt der immer noch misstrauische Cassandre vor, einige Tage verreisen zu müssen. In Wirklichkeit will er aus seinem Kabinett heraus das Geschehen während seiner Abwesenheit beobachten. Nachdem Cassandre offiziell abgereist ist, kehren Léandre und sein Diener Pierrot überraschend zurück. Nach Pierrots Schilderung ihrer Abenteuer in Cayenne finden er und seine Geliebte Colombine ebenso schnell wieder zusammen wie Isabelle und Léandre. Ein Festessen soll diesen Tag beschließen. Léandre und Isabelle wollen das Essen, Pierrot und Colombine den Wein besorgen. Cassandre, der bis jetzt noch nicht gelauscht hat, kommt ins Zimmer und sieht die vier Bestecke auf dem Tisch; er ahnt natürlich nicht, was hinter seinem Rücken gespielt wird. Zornig beschließt er, das Gesicht aus seinem unvollendeten Porträt herauszuschneiden, um das Treiben aus nächster Nähe beobachten zu können. Das Quartett kommt zurück. Isabelle soll mit Hilfe des Porträts üben, wie sie ihrem Vormund am besten beibringen kann, dass sie Léandre liebt. Das Porträt wird zum „tableau parlant“. Als Isabelle das Bild fragt, ob es der Heirat mit Léandre zustimme, ertönt ein donnerndes „Ja!“ Während Isabelle und Léandre nur stotternde Entschuldigungsversuche hervorbringen, zeigt sich das Dienerpaar wenig beeindruckt. Cassandre jedoch resigniert; sollen sie heiraten und sich zum Teufel scheren, die jungen Leute; was bleibt dem alten Junggesellen anderes übrig, als auf die gewohnte Position zurückzukehren.

Bradford Robinson, 2014

Aufführungsmaterial ist von Alkor Edition, Kassel, zu beziehen.

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