Delius, Frederick

Alle

Delius, Frederick

String Quartet (1916) (Parts)

18,00 

Frederick Delius
(geb. Bradford, 29. Januar 1862 — gest. Grez sur Loing, 10. Juni 1934)

Streichquartett (1916)

Vorwort
In einem Brief aus Frankreich vom Spätherbst 1916 bemerkte Frederick Delius verbittert, die Engländer hätten »sehr wenig Vorstellungsvermögen & daher sind sie nur schwer zu bewegen […] eine gefühllose Rasse & suhlen sich nur in der schlimmsten & alleroffensichtlichsten Sentimentalität.« Doch immerhin gestand er den Briten noch die Fähigkeit zu, sich von herausragenden Ereignissen verändern zu lassen, denn im gleichen Brief heißt es kurz darauf: »Der Krieg wird viel Veränderung nach sich ziehen – Völker werden gelitten haben – viele werden den Verfall gewittert haben, der im Schwange war – die Hohlheit des Patrotismus & Chauvinismus & und all der anderen Ismen – Politiker & Diplomaten & Experten aller Arten haben sich derart zum Narren gemacht (und tun dies auch immer noch), daß die Klügeren, vielleicht, nach ein bischen Wahrheit in den Künsten & Künstlern suchen werden – & finden vielleicht etwas Genugtuung in jenem raren Erlebnis – einer wirklich künstlerischen & emotionalen Darbietung.« Delius schrieb hier schließlich auch von seinem Wunsch, nach London zu reisen, um der Premiere seines (ursprünglich dreisätzigen) Streichquartetts beiwohnen zu können, was die kritischen Kriegsumstände schließlich verhinderten. Dieses Stück, während eines Norwegenaufenthalts entstanden und im Juni beendet, wurde am 17. November in der Aeolian Hall vom London String Quartet aufgeführt – ein intimer Spielort, dessen Existenz in den 1870ern in Verbindung mit den Englischen Aestheten als Kunstgalerie begonnen hatte, und der zehn Jahre vor dem ersten Weltkrieg von einer amerikanischen Musikinstrumenten-Firma in eine zweckgebundene Konzerthalle umgebaut worden war. Zehn Jahre nach der Uraufführung schrieb Delius’ Gattin Jelka, daß das London String Quartet dieses Werk »nie verstanden« habe. Mehr Verständnis dafür hatte ein viel größerer Interpret von Delius’ Musik – Alexandre Barjansky (1885–1946), ein russischer Cellovirtuose, der eng mit der englischen Musik verbunden war. Prompt revidierte Delius das Werk und fügte 1917 ein Scherzo hinzu. Die Premiere der Umarbeitung folgte am 1. Februar 1919 – allerdings wieder durch das London String Quartet –, in einer Zeit wachsender Anerkennung von Delius (wenn auch durch seine eigenen Bemühungen). Die hier vorgelegte Ausgabe folgt der revidierten Fassung.

Doch auch wenn Delius zu manchen Zeiten seines Lebens wenig Zuneigung zu England zeigte, verblieb etwas inhärent Englisches in seiner Musik mit ihrem Esoterizismus und entschieden modalem Klang. Zwar verdankt Delius’ Musik viel den früheren Werken von Debussy (und auch Ravel bewunderte er dafür), aber er bewahrte sich auch traditionelle Werte, wie zum Beispiel kreative Kontrolle bezüglich der Notentreue gegenüber seinen eigenen Partituren (so unterstreicht er noch in einem Brief von 1925 deutlich, daß er zu Lebzeiten keine Änderungen an seiner Musik wünschte; solche durften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden.) Hier zeigt sich ein Komponist, der sich zumindest potentiell unverständlich gegenüber jeglicher zeitgenössischen Musik zeigte, die auf spürbar lockereren oder abstrakteren Grundsätzen beruhte. Was für Delius zählte, war Gefühl. Das mag einige Widersprüchlichkeit beinhalten, denn in seiner Musik scheinen wir einen Mann heraushören zu müssen, der umfangreiche persönliche Briefe essentiell konversationeller Natur schreibt, die den Themen von philosophischer Tiefe, die er auch anschneidet, die Schärfe nehmen (auch wenn solche erwähnt sind). Die Akzeptanz einer solchen Delius-Sicht paßt gut zu dem, was Deryck Cooke mit »ausgesprochen begrenztem« Stil und Ausdrucksbreite bezeichnete, beschränkt auf »eine sehr persönliche Grundlage der Harmonik, und ein langsames oder getragenes Tempo, um einen besonderen Aspekt menschlichen Gefühls zu zeigen« (also anstelle der Tiefe des Gefühls; vergl. Deryck Cooke, Vindications. Essays on Romantic Music, London 1982, S. 120). Cooke zögert kaum, das durchaus treffende Urteil zu fällen, Delius hätte seine besten Werke zwischen 1899 und 1917 komponiert, und wenn man diese Kategorisierung akzeptiert, muß man dem Streichquartett zuerkennen, daß es neben seiner Einzigartigkeit auch typisch für Delius’ grundlegende musikalische Charakteristika ist.

Delius’ Quartett, nicht seine erste Übung in dieser Gattung, exponiert eine sichere Reife der Technik und Beherrschung der Form, und mit den intimen Kräften zu seiner Verfügung evoziert er viele besondere und eindrückliche Momente. In der letztgültig viersätzigen Form bewahrt sich das Werk ungeachtet der programmatischen Untertöne, die durch den Titel des dritten Satzes, Late Swallows [= ›Späte Schwalben‹] hervorgerufen werden, eine köstliche Abstraktion und viel Gedankenreichtum. Ein Schlüssel zum Verständnis der Musik ist das durchdringende tonale Zentrum G-Dur, auch wenn Delius an keiner Stelle eine Grundtonart vorgegeben hat (– wodurch die Abstraktheit eines nahezu quasi-tonalen Rahmens unterstrichen wird). Die Ausdrucks-Anweisungen sind überwiegen in Englisch (– die wenigeren italienischen Angaben werden meist durch englische Zusätze verdeutlicht –). Die Gefühlsbreite ist erkennbar begrenzt (– und dies stellt die verbleibenden, emotional aufgeladenen Passagen umso deutlicher heraus –), und die Verarbeitung der musikalischen Gedanken ist vordergründig grundlegend unzusammenhängend (– auch wenn es auf höheren Ebenen einige vage wahrnehmbare organische Bewegung geben mag –). Zum eng gefaßten Gefühlsrahmen trägt die rhythmisch ruhige Textur bei, vielleicht bis auf die mögliche Schilderung der Schwalben (wie könnte dies beabsichtigt sein?) in einer unglaublich langen, gedämpften Passage im dritten Satz. Hier ändert sich die Textur zu einem rhythmischen Doppeldecker aus chromatisch-modaler Choral-Polyphonie in verlängerten Notenwerten gegen die wellenförmige Schwalben-Figur, die sich die hohen Streicher teilen. Dieses Bild von repräsentativer Bedeutung ist sicher die Schlüsselstelle für rhythmische Transmutation im gesamten Quartet. Wenn man versucht, die Konstruktion des Werks im Allgemeinen zu beschreiben, ist es in der Tat vielleicht wohl am besten, sich dabei auf derartige Momente zu konzentrieren.
Der erste Satz, ›With animation‹ [=lebhaft], bietet im Gegensatz zu den rhapsodischeren (wenn auch gehaltvollen) Formen anderswo im Stück eine merkliche Formstruktur, ähnlich dem Kopfsatz einer klassischen Sonate. Er ist zweiteilig und schließt modal in G-Dur (zu einem offenen e-moll-Akkord fallend). Das um das tonale Zentrum G herum angeordnete Themenmaterial ist licht und in vieler Hinsicht unkompliziert (aber auch fähig zur weiteren Durchführung), doch Delius treibt das Material nicht weiter als unbedingt nötig, und dadurch entsteht insbesondere im ganzen ersten Satz ein Element der Resignation. Doch nach der umherschweifenden G-Dur-Eröffnung befinden wir uns bald in fis-moll; die Chromatik ist modal und nicht funktional. Da es kein wirkliches Gefühl von Modulation gibt, und individuelle Tonhöhen eher Gleichberechtigung als Hierarchie anzustreben scheinen, befindet sich das Quartett, obgleich es eine verpflichtende, doch zugleich flexible Tonalität verwendet, nicht so weit entfernt von der neuen dodekaphonischen Musik, die Delius heruntergemacht hätte (»Ich glaube nicht an die Musik, an die Ihr Euch gewöhnt habt«, schrieb er 1912 in einem Brief.) Ein feinsinniges Element des ersten Satzes ist das Scharnier zwischen dem Höhepunkt-Abschnitt in verdoppelter Parallelbewegung (bezeichnet mit ›Very deliberately‹ [= sehr bedächtig‹] und dem repristinierten Thema in G-Dur: Die Klimax verwandelt sich subtil in das Anfangsthema zurück. Es wäre verlockend, in Delius’ Musik eine bewußte Transformation kurzer thematischer Zellen zu erkennen (und vielleicht wird dies vom Medium Streichquartett selbst noch unterstützt), aber im Licht der äußerlichen Natur seiner emotionalen Darstellung, auf die Cooke hingewiesen hatte, sollte man es eher vorziehen, sie als halb-bewußte Fragmentierung von Melodie und Harmonik zu betrachten. Diese Sicht verbietet bequemerweise jegliches traditionelle analytische Konzept thematischer Durchführung, die man andernfalls der formalen Landschaft von Delius überstülpen möchte (besonders in seinen strukturell stärker organisierten Werken).

Das ›rasche und leichte‹ Scherzo (›Quick and lightly‹) an zweiter Stelle beginnt in moll, mit einigen rapiden, unprätentiös imitativen Zügen, und hat einige eminent lyrische Episoden in der Subdominante (C-Dur) und Unter-Medianten (e-moll). Die besten lyrischen Stellen von Delius beschränken sich nicht auf irgendeinen der Sätze des Quartetts, aber am deutlichsten treten sie in den beiden Innensätzen hervor. Der zweite bildet eine geschickte Brücke zum radikalen Lyrizismus des dritten Satzes, Late Swallows, und Delius mag diese strukturelle Notwendigkeit schon früh erkannt haben, vielleicht bereits mit der Londoner Aufführung von 1916 in Aussicht. Wieder gibt es am Ende des Satzes eine Rückung nach e-moll.

Late Swallows bildet sicherlich den Mittelpunkt des Quartetts. Zwar ist der Satz bedachtsam dreiteilig konstruiert, doch spürt man dies nicht stark, aufgrund der plötzlichen, ausführlichen Dramatik und der extremen Chromatik der bereits erwähnten ›Schwalben‹-Stelle (bezeichnet ›not too slow and with waving movement‹ [= ›nicht zu langsam und in wellenartiger Bewegung‹]), die in Delius’ Werk insgesamt eine besondere Stellung beansprucht. Einige pentatonische Melodiestellen dieser Passage sind bezeichnet mit ›with much expression‹ und lassen sich bis dreißig Jahre zurück in die Vergangenheit verfolgen, zu seiner Fasziniation vom Negro-Spiritual. Christopher Palmer hat sogar die Möglichkeit erwogen, daß das Ostinato der Schwalben zurückgeht bis auf das Wiegen des Zuckerrohrs der Plantagen in Florida! [Anmerkung des Übersetzers: Delius verbrachte einige frühe Jahre auf einer Orangen-Plantage in Florida und schuf dort erste bedeutende Werke, darunter die Oper Koanga und seine Florida-Suite.] Bis hinab zum vierfachen Pianissimo bildet diese Stelle den einen durchsichtigen Augenblick in der geradezu monolithischen rhythmischen Struktur, die das Quartett sonst insgesamt aufweist.

Verirrt in der ätherischen Des-Dur-Kadenz am Ende von Late Swallows, finden wir uns im anschließenden Finale (›Very quick and vigorously‹ [= ›sehr rasch und kraftvoll‹])) plötzlich in einem kühnen, aufsteigenden Akkord-Statement in d-moll, dem rasch eklektischere Züge folgen, alternierend zwischen Strenge und Lyrizismus. Tanz-artige Themen charakterisieren einige Stellen, und dieser Satz (wie man traditionell erwarten mag) exponiert schon aufgrund seiner Position die stärkste thematische Differenzierung innerhalb des Quartetts. Delius wird hier gewöhnlicher im Fortgang der Musik, wenn auch nie grundlegend verspielt. Dessen ungeachtet gibt es in der Mitte des Satzes beträchtlichen Lyrizismus, in dem eine melodische Figur absteigender Terzen, geschmückt mit Vorschlägen, ausführlich wiederholt wird, welche aus der Eröffnung stammt. Im gesamten Satz wie auch dem Quartett als Ganzem ist die Harmonik von Delius nicht immer vom Hörer nachzuvollziehen, da sie ausgesprochen persönlich bleibt, auch wenn sie in ihrer schlichten Modalität der Tradition englischer Musik des 20. Jahrhunderts folgt. Gerade diese Nähe begrenzt das affektive Spektrum der Musik dieses Quartetts – das Überwiegen rhythmischer Monotonie, die dysfunktional klingende Harmonik, die persönlich gefärbten Stellen: all dies scheint auf einen gewissen Unwillen zur Kommunikation hinzudeuten. Es mag sein, daß einige dies typisch Britisch finden. Aber das affektive Spektrum ist nur begrenzt und keineswegs armselig. Innerhalb der Sprache von Delius wird eine sehr emotionale Resonanz in einem Genre absoluter Dimensionen herausgebracht, dem Streichquartett. Doch vielleicht nur in der Musik der Schwalben wirkt der Ausdruck frei und unkontrolliert; der zurückhaltende Delius, der sich musikalischen Elementen aufzudrängen scheint, die das Quartett ausmachen, mag aber durchaus selbst eine Manifestierung irgendeines Gefühls darstellen.

Seit dem Mittelalter war das Phänomen der Insel-Existenz in der einen oder anderen Weise stets präsent in der britischen Kunst und Kultur. Die Einzigartigkeit des Ausdrucks, die in der britischen Musik des 20. Jahrhunderts zutage kam, war bei Delius nicht geringer: In seiner Musik, auch in seinem Quartett, finden wir Techniken und Prinzipien, die auch Elgar, Vaughan-Williams oder Britten anzogen. In uns hält sich das Gefühl, daß in diesem Repertoire eine musikalische Atmosphäre existiert, die es nirgends sonstwo gibt. Es zeugt von Delius’ Meisterschaft im Dienst angemessenen Gefühls, daß diese Atmosphäre noch in einer englischen Miniatur, im Streichquartett, herauskommen kann. Das Medium Streichquartett gewann in emotionaler Hinsicht in den Jahren des ersten Weltkriegs enorm in den Händen von Janačék und Sibelius und kam bei ihnen zu besonderer Höhe, doch in Delius’ Quartett aus dieser Zeit finden wir nur wenige Spuren davon. Die Gefühlswelt entspricht hier nicht dem Krieg im Besonderen oder etwas Anderem im Allgemeinen, sondern nurmehr der persönlichen Befindlichkeit: Sehnsüchtige Schwalben entsprechen mehr Elgar oder Thomas Hardy, gehen zurück auf tief verborgene Winkel der britischen Psyche, eine Psyche, die gemachte Erfahrung im Dunkeln kommentiert, und die, in den Fluren des Krieges, diese Erfahrung tief gehend fühlt. Musikalisch gesprochen zeigt sich Delius hier glücklich, daß er dem Krieg etwas abgewinnen konnte, glücklich, daß seine Kriegsjahre nicht völlig verschwendet waren. Vielleicht haben ihm in mancher Hinsicht die Entbehrungen dieser Jahre sogar im Gegenteil dabei geholfen, mehr über seinen persönlichen Gefühlsausdruck zu lernen, als es unter anderen Umständen möglich gewesen wäre. Es kann aber auch sein, daß dies innerhalb der Tendenz von Verallgemeinerungen eine allzu konventionelle Sicht ist, die auf Delius zutreffen könnte.

Kevin ‘O Regan (2010)

In Fragen des Aufführungsmaterials wenden Sie sich an Stainer & Bell, London. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Partitur Nr.

Edition

Genre

Format

Druck

Anmerkungen

Das könnte Ihnen auch gefallen…

Nach oben