Busoni, Ferruccio

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Busoni, Ferruccio

Indianische Fantasie (Indian Fantasy) for piano and orchestra Op. 44 (Piano Reduction for 2 pianos, 2 copies)

Art.-Nr.: 945b Kategorien: ,

30,00 

Ferruccio Busoni
(geb. Empoli, 1. April 1866gest. Berlin, 27. Juli 1924)

Indianische Fantasie op. 44 für Klavier und Orchester (1913-14)

Vorwort

Der außerordentliche Pianist, Komponist, Lehrer und Kulturphilosoph Ferruccio Busoni hegte zeitlebens enge Kontakte zu den Vereinigten Staaten, wo er oft ausgedehnte Konzertreisen unternahm (vor allem 1904, 1910 und 1911) und mindestens zweimal ernsthaft mit dem Gedanken spielte, dorthin umzusiedeln. Beim ersten dieser Umsiedlungsversuche wohnte er zunächst in Boston, wo er sich dem Lehrkörper des New England Conservatory anschloß, um ein Jahr später jedoch von diesem Amt zurückzutreten und nach New York zu ziehen. Dort stellte sich ihm im Jahre 1893 ein „reizendes“ 18jähriges Mädchen vor, das bei ihm Stunden im Klavierspiel und in der Harmonielehre suchte. Jahre danach sollte ihm diese Begegnung auf gänzlich unerwartete Weise seinen künstlerischen Werdegang ändern.

Besagte junge Dame war Natalie Curtis (1875-1921), die damals eine Karriere als Konzertpianistin anstrebte. Nach weiteren Studien in Frankreich ging sie dieser Karriere auch nach, bis sie 1904 bei der Weltausstellung in St. Louis zum erstenmal mit der Musik der nordamerikanischen Indianer in Kontakt kam. Kurz darauf ließ sie von ihren pianistischen Ambitionen ab und fuhr nach Arizona, wo sie jahrelang unter den Hopi und anderen Indianerstämmen wohnte und sich der Pflege und der Erhaltung der Musikkultur der amerikanischen Eingeborenen widmete. Drei Jahre später erschien ihr erstes Buch zu diesem Thema: The Indians’ Book, ein 572-seitiger Band, der 1907 mit einem abgelichteten Brief von Theodore Roosevelt als Geleitwort und vor allem mit 200 penibelst festgehaltenen Transkriptionen indianischer Lieder erschien, zusammen mit den dazugehörigen Texten sowohl in der Originalsprache als auch in englischer Übersetzungen aus eigener Feder. Dieses reichlich mit Indianerzeichnungen und Photo-graphien ausgestattete Buch stellt einen Meilenstein der US-amerikanischen Musikethnographie dar und ist erstaunlicherweise bis zum heutigen Tag lieferbar geblieben.

1910 befand sich Busoni wieder in New York, wo er eine Wiedergabe seiner Turandot-Suite durch das New York Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Gustav Mahler erlebte. Unter den Zuhörern war auch Natalie Curtis, die die Gelegenheit dazu benutzte, ihrem ehemaligen Musiklehrer das neue Buch als Geschenk zu überreichen. Busoni war vom Inhalt des Buches sofort gefesselt, und es entstand ein interessanter Brief-wechsel zwischen Lehrer und Schülerin über das Wesen der Musikkultur der Ureinwohner Amerikas. Anders als viele anderen europäischen Komponisten, die sich von der Exotik oder vom nationalen Geist nichteuropäischer Musik beeinflussen ließen, interessierte Busoni vorwiegend für die ganzheitliche Weltauffassung der nordamerikanischen Indianer, von der die Musik lediglich eine Ausdrucksform unter vielen darstellte. Im gleichen Monat (am 22. März 1910) schrieb er an seine Frau Gerda: „Die Indianer sind das einzige Cultur-Volk, das kein Geld kennt und die alltäglichsten Dinge in schöne Worte kleidet. Wie anders ist dagegen ein business-man aus Chicago! Bei dem heißt Roosevelt ‚Teddy‘, bei den Indianern: ‚Our great white father‘.“
Die Indianer Amerikas – so glaubte Busoni – zelebrierten ein Einssein zwischen Kunst, Natur und Kultur, das er als inspirierende Alternative zur zersplitterten Gesell-schaft auffaßte, die in den europäischen Hauptstädten vor seinen Augen entstand und gerade in New York bereits bedrückende Ausmaße erreicht hatte. Es gäbe seiner Auffassung nach weltweit nur die Eine Musik, die sich im Verlauf der Zeit nur langsam vorwärts entwickelt, wobei die Aufgabe des Komponisten darin bestünde, zu diesem gemächlichen Fortschritt durch ununterbrochene Innovation beizutragen, ohne jedoch hoffen zu dürfen, je einen Höhepunkt oder Abschluß erreichen zu können. In den in Curtis‘ Buch festgehaltenen Indianermelodien spürte Busoni die Nähe uralter allgemeingültiger Wahrheiten, die die Fähigkeit besäßen, den Weg in eine weniger zersplitterte Gesell-schaftsordnung zu zeigen.

1913 nahm sich der nunmehr nach Europa zurückgekehrte Busoni der Aufgabe an, einige dieser Indianer-melodien in seine eigenen Kompositionen mit einzu- beziehen. Zunächst plante er, sie in ein Theaterstück einzuarbeiten, in dem ganze Indianerzeremonien auf der Bühne realitätsnah ausgeführt werden sollten – eine Bekenntnis zu seiner ganzheitlichen Auffassung der Indianerkultur, die sicherlich als Meilenstein in der Theatergeschichte eingegangen wäre, hätte er den Plan nur durchgeführt. Letztendlich verwarf er jedoch diese ursprüngliche Idee und wandte sich der weitaus konventionelleren Form der dreisätzigen Rhapsodie für Klavier und Orchester zu, wobei er das neue Werk sogar mit dem Arbeitstitel „Concerto secondo“ versah. Be-gonnen wurden diese Komposition, die schließlich die vorliegende Indianische Fantasie op. 44 werden sollte, am 2. April 1913. Da ihm die Melodien der Curtis-Sammlung als nicht sonderlich ergiebig vorkamen, bat Busoni seine ehemalige Schülerin in einer seltenen Geste des künstlerischen Vertrauens, eine Auswahl derjenigen Melodien zu treffen, die zu weiteren Entwicklung fähig wären. Diese Auswahl verkürzte er dann in eine noch kleinere Anzahl von Themen, die sich jeweils durch ein bestimmtes Merkmal der Rhythmik oder Intervallik auszeichnete. Trotz dieser Maßnahmen sah sich Busoni mit einem an Schlichtheit kaum zu überbietenden Material konfrontiert, so daß er in einem Brief vom 18. Juli an seine Ehefrau Gerda behaupten konnte: „Die indianischen Motive sind nicht sehr ergiebig, noch fruchtbar; ich werde viel Eigenes hineinpropfen müssen“.

Ausgerechnet diese Anstrengungen, sich mit einem vertrackten Ausgangsmaterial kompositorisch auseinanderzusetzen, führte Busoni dazu, über das Wesen der Melodik insgesamt nachzudenken. Das Ergebnis fand u.a. in der berühmten Begriffsbestimmung der Melodik Ausdruck, die er in einem an Gerda gerichteten Brief vom 22. Juli 1913 festhielt und die später in seine gesammelten Schriften aufgenommen wurde: „Absolute Melodie: eine Reihe von wiederholten (1), steigenden und fallenden (2) Intervallen, welche rhythmisch gegliedert und bewegt (3), eine latente Harmonie in sich enthält (4) und eine Gemüthsstimmung wiedergibt (5); welche unabhängig von Textworten als Ausdruck (6), unabhängig von Begleitstimmen (7) als Form bestehen kann, und bei deren Ausführung die Wahl der Tonhöhe (8) und des Instrumentes keine Veränderung auf ihr Wesen ausübt.“
Auf diese denkwürdig provokative Begriffsbestimmung folgt eine knapp umrissene Geschichte der Melodik im Verlauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte: „Die Melodie, zuerst selbständig, vereinte sich in der Folge mit begleitender Harmonie, verschmolz sich später mit dieser zu untrennbarer Einheit, aus der neuerdings sich zu befreien die stetig fortschreitende Poly-Harmonik ihr zum Ziel macht. Im Widerspruch zu eingewurzelten Gesichtspunkten muß hier behauptet werden, daß die Melodie sich fortwährend entfaltet hat, an Linie und Ausdrucksfähigkeit gewachsen ist und dazu gelangen muß, die Universal-Herrschaft in der Composition zu erringen. – Am tiefsten stand ihre Qualität und am geringsten war die ihr zufallende Rolle, zur Zeit der ‚melodien-reichen‘ Opern und Salon-Compositionen; weil sie damals am leichtesten faßlich zugeschnitten und von den übrigen Bestandtheilen des musikalischen Kunstwerkes abgetrennt werden mußte, – ein verdorbenes Volkslied.“
Gefolgt wurde dieses bemerkenswerte Plädoyer für die Vorherrschaft der absoluten Melodik durch eine nicht weniger bezeichnende Passage, die Busoni später aus welchen Gründen auch immer wegließ: „Charakteri-stisch für ihre Verfallsperiode ist, daß die Melodie immer einzeln und in der führenden Stimme (meist Ober-stimme) auftritt. Die Versuche, ihr eine zweite oder mehrere andere melodische Stimmen entgegen zu stellen, fallen äußerst schwach aus, indem diese ausnahmlos der ersten untergeordnet und die geringeren bleiben.“
Kurzum: Die absolute Melodik soll im Zusammenhang mit der absoluten Polyphonie verstanden werden – eine Maxime, die nicht nur die „indianischen“ Kompositionen Busonis, sondern auch sein gesamtes Spätwerk durchleuchtet.

Während der erste Satz der Indianischen Fantasie bereits am 19. August 1913 abgeschlossen wurde, verursachte der langsame Mittelsatz dem Komponisten endlos viel Mühe, so daß er seinem Schüler Egon Petri scherzhaft mitteilte, er habe den Satz „viermal skalpieren“ müssen. Nachdem er diesen widerspenstigen Satz schließ-lich im Januar 1914 doch fertigstellen konnte, kam der dritte Satz innerhalb von einem Monat rasch zustande, und am 22. Februar 1914 konnte der Komponist die Partitur als endgültig abgeschlossen unterzeichnen. Lediglich ein paar Wochen danach – am 12. März – erfolgte die Uraufführung mit dem Berliner Philharmo-nischen Orchester, wobei Busoni selber den Solopart unter der Leitung von Alexis Birnbaum übernahm. Ein Jahr später erschien die Erstausgabe der Partitur zusammen mit einer Bearbeitung durch Egon Petri für zwei Klaviere beim Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel.

Obwohl die Indianische Fantasie bei der Uraufführung, da sie von der bemerkenswert unkonventionellen Noc-turne symphonique Busonis überschattet wurde, keinen überwältigenden Erfolg verzeichnen konnte, so fand sie doch einen gewissen Platz im Repertoire und wurde zu Lebzeiten des Komponisten auch verhältnismäßig oft aufgeführt. Zu den bedeutenderen Auffüh-rungen gehört zweifellos die amerikanische Erst- aufführung, die am 19. Februar 1915 in der Academy of Music in Philadelphia stattfand, wobei wiederum Busoni den Klavierpart übernahm und Leopold Stokowski das Philadelphia Orchester leitete. Unter den Zuhörern befand sich auch Natalie Curtis, die eine aufschlußreiche Beschreibung des Ereignisses hinterließ: „Mit den ersten Takten der Orchestereinleitung […] schienen die Wände des Saales hinwegzuschmelzen, und ich befand mich wieder im Westen, von einem angsteinflössenden Gefühl der Unermeßlichkeit, der Einsamkeit, der Grenzenlosigkeit erfüllt.“ Die Indianische Fantasie – so Curtis – sei „mit Abstand der bisher wichtigste Versuch, das musikalische Material der amerikanischen Urvölker auf irgendeine Weise kompositorisch zu verwerten […] Indianische Musik erzwingt eine ihr gemäße Behandlung, wobei sie unveränderlich indianisch bleibt und sich mit ihren scharf umrissenen rhythmischen und melodischen Konturen gegen den Hintergrund der Gedanken des Komponisten wie bei einem wohlgeformten Basrelief hervorhebt.“
Busoni selber spielte die Fantasie erneut am 17. Januar 1916 in Zürich, und eine Londoner Aufführung aus dem Jahr 1920 wurde mit einer solchen Begeisterung aufgenommen, daß das Werk wiederholt werden mußte. Später jedoch distanzierte sich Busoni – wohl in Anbetracht seiner noch gewagteren Aneignungen der Indianermusik im Ersten Buch des Indianischen Tagebuches (1915) und vor allem im Gesang vom Reigen der Geister op. 47 (1915) – zusehends von der Fantasie, die er 1921 anläßlich einer Berliner Aufführung als „Experiment“ bezeichnete, das ein Gleichgewicht zwischen der schlichten Melodik und der unheimlich wirkenden exotischen Harmonik zu erstellen trachtete. Dennoch: Bis Mitte des Jahrhunderts wurde die Fantasie immer noch als wichtig genug erachtet, um ins Programm des berühmten Busoni-Gedenkkonzerts aufgenommen zu werden, das seine getreuen Freunde Dimitri Mitropolous, Egon Petri und Josef Szigeti am 28. Dezember 1941 mit dem New York Philharmonic Orchestra organisierten. Bemerkenswerterweise wurde dieses denkwürdige Konzert, bei dem die Indianische Fantasie durch Mitropolous und Petri aufgeführt wurde, damals auch aufgezeichnet und ist heute auf CD erhältlich. Bei den moderneren Aufnahmen des op. 44 gehört die Interpretation durch Neeme Järvi und das BBC Philharmonic Orchestra mit dem Pianisten Nelson Goerner sicherlich zu den maßgebenden.

Bei der vorliegenden Studienpartitur handelt es sich um einen unveränderten Nachdruck der 1915 erschienenen Erstausgabe von Breitkopf & Härtel.

Bradford Robinson, 2009

Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen.

Partitur Nr.

945b

Edition

Repertoire Explorer

Genre

Tasteninstrument & Orchester

Format

Anmerkungen

Druck

Reprint

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