Robert Schumann
(geb. Zwickau, 8. Juni 1810
- gest. Endenich, 29. Juli 1856)
Ouverture zu Schillers “Die Braut von Messina” op.100
1.Einleitung
Schumanns op.100 entstand zwischen dem 29. und 31. Dezember 1850, ausgearbeitet und instrumentiert wurde das Stück zwischen dem 3. und 12. Januar 1851. 1
Gemeinsam mit den Schwesterwerken, der Ouverture zu Shakespeare Julius Cäsar op.128 (entstanden direkt im Anschluss, 23. Januar bis 2. Februar 1851) und der Ouverture zu Goethes Hermann und Dorothea op.136 (entstanden 19. bis 22./23. Dezember 1851) gehören die Ouverturen zu den wenig bekannten Werken Schu-manns und werden selten gespielt – die bis heute unterschätzte Fest-Ouverture op.123 (1853) ist so gut wie nie zu hören. Von einer Wahrnehmung der Ouverturen Schumanns als Werkkomplex kann ohnedies nicht die Rede sein. Das ist um so erstaunlicher, als Schumann selbst seinem Verleger gegenüber von einer Zyklus-Idee sprach2 und eine Folge von Ouverturen « zu mehreren der schön-sten Trauerspiele » plante. 3
Die geringe Repräsentanz dieser Meisterwerke im heutigen Konzertbetrieb mag mit dem immer noch wirksamen Stigma des Spätwerks zusammenhängen, mehr noch mit ihren evidenten Schwierigkeiten: klanglich und instrumental-technisch ist keines dieser Stücke “dankbar” und erfordert Stilkenntnis wie Identifikation.
Auch sind die Ouverturen, wenngleich als anspruchsvolle Einleitungen zum Sinfoniekonzert gedacht, kaum ideal für den Konzertbeginn. Zu substanziell, zu komplex, dafür symphonisch, innerlich gedrängt (darin Berg und Webern vorausahnend) und emotional anspruchsvoll wie ein Hauptwerk. In dieser Haltung folgt ihnen die Tragische Ouverture Brahms’, wie auch die Akademische Festouverture sich dem intellektuell-hintergründigen Humor und der wehmütigen Haltung von Schumanns op.123 verpflichtet zu fühlen scheint.
Es wäre angemessen, diese Werke in der Konzertmitte zu präsentieren, oder gar ein zweites Mal zu spielen, wie es bei Werken Weberns und Schönbergs durchaus vorkommt.
2. Schumann und Schiller
Schumann lernte das Schauspiel wohl bereits 1826 bei der 12. Sitzung des von ihm initiierten Literarischen Vereins kennen. 4
Die erneute Auseinandersetzung wurde durch den Schriftsteller Richard Pohl angeregt, der ihm am 18.Oktober 1850 ein auf Schillers Text basierendes Libretto zuschickte. Pohl hatte nach der Leipziger Premiere von Schumanns Oper Genoveva das Textbuch kritisiert und für den mangelnden Erfolg verantwortlich gemacht. 5 Die Bekanntschaft mit Pohl führte u.a. zu der Chorballade Des Sängers Fluch, zu der Pohl den Uhlandschen Text einrichtete, sowie zu dem Plan eines Oratoriums Luther, welcher freilich nie realisiert wurde.6
Tatsächlich trug sich Schumann kurzzeitig mit dem Gedanken der Komposition einer Oper über das Sujet, antwortete aber erst nach Beendigung des Arbeits-prozesses: “Es war ein immerwährendes Schwanken zwischen Annehmen und Ablehnen gerade dieses gewiss interessanten Stoffes. Endlich glaube ich mich doch für das Letztere entscheiden zu müssen; es haben so bekannte Stoffe immer Gefahr. (...) Eine Frucht hat bereits Ihr erster Brief getragen. Nachdem ich (...) die Tragödie wiederholt gelesen, kamen Gedanken zu einer Ouverture, die ich dann auch vollendete » (Brief an Pohl vom 19. Januar 1851) 7
3. Analytische Beobachtungen
Wilhelm Joseph von Wasielewski berichtet, dass es Schumanns Ziel war, “seiner Phantasie freiesten Spiel-raum zu gönnen, ohne die herkömmlichste Form zu berücksichtigen. Er meinte, es habe ihn gereizt, einmal den Versuch zu machen, in einem Zuge und unbekümmert um die formale Tradition fortzuschreiben; bald sei er indessen zu der Ueberzeugung gelangt, dass man doch nichts Rechtes auf diesem Wege zustande bringen könne. ” 8
Auch wenn es unklar bleibt, ob Schumann tatsächlich die Ouverture zur Braut von Messina meinte oder die formal komplexer aufgebaute Ouverture zu Julius Cäsar, ist op.100 ein Meisterwerk an Übersichtlichkeit, Einheitlichkeit und weist in den Punkten Zusammenhang und Fasslichkeit voraus auf das Komponieren der 2. Wiener Schule. 9
Die sich durch formale Stringenz und tonartliche Bezüge aufdrängende Parallele zu Beethoven ist wohl inhaltlich die am wenigsten fruchtbare. So wie dem motivischen Kalkül eindeutig ein Denken in Zellen und Parametern zugrunde liegt, weist das harmonische Vagieren auf chromatisches Komponieren der nachfolgenden Komponistengeneration, namentlich auf Wagner.
Es scheint, Schillers Fazit von der “Kette des Geschicks” (dem sterbenden Don Cesar in den Mund gelegt) hat sich auf die Form wie auch die konsequente motivische Arbeit ausgewirkt. (Braut von Messina, Verse 2640/2641: “Den alten Fluch des Hauses lös ich sterbend auf/ Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks”). 10
Das Werk beginnt mit einer 25-taktigen Einleitung, in der nahezu alle thematisch-motivischen und einige der harmonischen Zusammenhänge exponiert werden. Gelegentlich wird auf die tonale Unklarheit des Werkes, speziell der Einleitung hingewiesen. Hingegen beginnt das Werk mit einem aufsteigenden c-moll Dreiklang, endet klar in c-moll und zeigt, auch in der harmonischen Konstituierung des 1. Themas im Allegro, oft genug Bezug zur Grundtonart.
Die harmonische Richtung jedoch schwankt in einzelnen Teilen immer wieder oder lässt die Zugehörigkeit offen (z. B. Einleitung T. 4–9, T. 17–20, vor allem Überleitung zum 2. Thema T. 68–76, Durchführung T. 125–128). Selten bedient sich Schumann so häufig übermäßiger Akkorde, mehrdeutiger tonaler Varianten wie in diesem Werk. Diese zarte INNERE Unruhe und Spannung hörbar zu machen, gehört zu den Aufgaben des Interpreten.
Die Motivik wird beherrscht von den im Auftakt und 1. Takt präsentierten Modellen: zum einen der aufsteigende c-Moll-Dreiklang mit der zentralen Quart zu Beginn - auch rhythmisch (32stel) von großer Bedeutung für die Verwandlungen im 1. Thema (T. 52) und der Durchführung (T. 107 ff.) - zum anderen die Folge von Sekunden, fis’‘-g’‘-as’‘ in der Melodie, As-G-F im Bass.
Nicht nur melodisch prägt diese Abfolge die gesamte Einleitung, ja weite Teile des Werks: Die gesamten ersten 13. Takte basieren darauf, das 1. Thema (T. 26, sehr lebhaft) nimmt den Gestus im Kopfmotiv wörtlich auf und erweitert die Folge schon im 5. bzw 9. Takt zur Folge von großen Terzen (melodische Qualität) bzw. zur Skala (T. 30, T. 47). Ebenso wird der Beginn des 2. Themas und die Überleitung dahin geprägt durch das Festhalten an Sekundfolgen (T. 68–71, T. 72 ff.). Auch der Nachsatz des 2. Themas bedient sich in seiner schwärmerischen Gestik dieser Motivfolge (T. 93 ff.).
Aber ebenso folgt die Harmonik dieser Vorlage: Der Bassgang der Takte 2–15 basiert auf jener vagierenden Sekundfolge (As-G-Ges-F, F-Fis-G), auch am Ende des 2. Themas erscheint die Figur im Bass (T. 94–97, bzw. T. 99–104).
Am eindrucksvollsten ist die Konsequenz der thematischen und harmonischen Kombination des Sekund-Motives in den Takten der Überleitung zu Reprise (Buchstabe K, T. 173–184): Ab T. 173 zieht uns der Sog der – schon im Hauptthema erweiterten – Tonfolge in Vla und Vlc unweigerlich in die Reprise hinein (an Schuberts C-Dur Sinfonie erinnernd, welche Schumann 1839 entdeckte (11)), während die Bassfolge, hier ergänzt um die Quart des Beginns, auf der Stelle zu treten scheint (T. 173–177). Das Flackern der zu zwei Quarten zusammengeschmolzenen Auftaktfigur (Vl 1, Fl: T. 176) trifft die Spannung genau.
Die Quart der einleitenden Auftaktfigur wird bereits in der Einleitung harmonisch und melodisch verarbeitet, zum Tritonus erweitert (T. 5, T. 20) oder zur übermäßigen Terz verkleinert (T. 18, T. 20). Im Verlauf des 1. Themas gewinnt die Quarte als harmonisch-melodische Klammer an Bedeutung, sowohl was den Tonraum anbelangt (T. 30–33, 34–37), als auch kontrapunktisch: Der Auftakt zu B (T. 38) wird in den Bässen sowie Hörnern und Trompeten als Schein-Einsatz fortgeführt, eine kanonische Struktur vorbereitend, die in der Überleitung zur Coda (T. 270 ff.) wie Rufe von verschiedenen Chor-Gruppen das kompositorische Gewebe durchleuchtet.
Es bleibt daher zu fragen, ob die T. 52–55 (Buchstabe C) bereits zur Ueberleitung gehören oder noch zum 1. Thema, da die Quart in Kombination mit dem signifikanten 32-stel-Rhythmus hier zum 1. Mal in der Form exponiert wird, in welcher sie in der Durchführung hohe Bedeutung gewinnt (T. 107 ff., T. 126–128, auch T. 142 ff.).
Formaler Aufbau:
T. 1–25, Einleitung (ziemlich langsam-schneller), T. 26–55 1. Thema (30 Takte – sehr lebhaft, Doppelstrich bis 4. Takt nach C), wobei T. 26–37 den Vordersatz und T. 38–56 den Nachsatz darstellen.
T. 56–72 sind die Überleitung zum 2. Thema, in T. 72–104 beginnt der Seitensatz, der in As-Dur (Es=D7/9) steht. Er gliedert sich in T. 72–82, T. 83–90 und T. 91–104. Den Takten 99–102 kommt eine besondere Bedeutung zu durch ihren ‘choralartigen’ Charakter, der schon die T. 76–79 reflektiert und komplementär steht zu der ebenso exterritorialen Marschfigur im 1. Thema (T. 45) bzw. der Coda (T. 274–276, motivisch eine Variante des Hauptthemas). Die sich darauf beziehende Passage in der Durchführung verarbeitet denn auch mehr den Charakter als das Thema selbst (T. 141–156 ).
In den T. 105–184 finden wir die Durchführung. Die Reprise beginnt in T. 185–261, die Überleitung zur Coda in den T. 262–284 sowie die knappe, aber gewichtige Coda (Rascher) in den T. 285–306.
Die Durchführung beginnt zunächst dialogisch (Hinweis auf Schillers Anlage der zwei Chöre?) und wird einerseits durch das 32stel/Quart-Motiv geprägt, sowie durch die Sekundfigur, jetzt in der melodischen Variante des 1. Themas (z. B. T. 114).
Die Reprise bringt eine wörtliche Wiederholung, abgesehen von dem nunmehr in der Tonikaparallele Es-Dur stehenden 2. Themas und den Takten der Überleitung dahin (T. 215 ff.).
Bedeutendes gelingt Schumann in der Schlussgruppe (T. 262–284) bzw. der Coda (T. 285 ff.), die tempomäßig abgehoben (Rascher) auf das Ende hinrast und dem Werk doch noch eine publikumswirksame Schlussgeste geben könnte, wäre nicht die Stimmung – in Entspre-chung zur Handlung – durch und durch hoffnungslos und tragisch.
Nocheinmal erscheinen der Themenkopf (T. 285), die gebrochene Dreiklangsfolge (T. 287, 294), die Sekundfolgen (T. 285, 293) und die Quarte (T. 292) , die in ihrer Ursprungsform motivisch gesehen das letzte Wort behält (T. 300/301).
4. Nachbemerkung
Die Uraufführung fand am 13. März 1851 unter Schumanns Leitung im Geisslerschern Saal in Düssel-dorf statt, u. a. in Kombination mit der UA des Nachtliedes op.108, verwandt in puncto motivischer Arbeit und gestischem Komponieren. 11
Schumann war sich sicher, dass die Ouverture sich, eher als irgend ein anderes seiner Orchesterstücke, ‘bahn brechen’ würde. 13 Dennoch entnehmen wir dem Brief vom 7. Dezember 1851 an Richard Pohl: “Haben Sie meine Ouverture zur Braut gehört? Ich frage, da Sie es ja waren, der die Lust zu ihrer Composition in mir angeregt. Ueber die Wirkung habe ich Verschiedenes gehört. Ich bin daran gewöhnt, meine Compositionen, die besseren und tieferen zumal, auf das erste Hören vom grösseren Theil des Publikums nicht verstanden zu sehen. Bei dieser Ouverture indess, so klar und einfach in der Erfindung, hätte ich ein schnelleres Verständnis erwartet. Ich bin begierig, zu erfahren, welchen Eindruch das Stück auf Sie selbst gemacht. Freilich ohne Studium der Partitur lässt sich kein einigermassen bedeutendes Werk auf das Erstemal begreifen”. 14
Es bleibt innigst zu wünschen, dass die geringere ‘Robustheit’ der Ouverture (verglichen mit Beethoven oder Weber) sowie die klanglich-technischen Anfor-derungen das Eindringen in ihre Feinheiten nicht verhindern, sondern vielmehr ein Umdenken in der Gestaltung von Programmen und der Erarbeitung solcher sogenannter ‘Rand’-Werke mit sich bringt.
Quellenangaben
1 Margit L. McCorkle, Robert Schumann, Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis, G. Henle Verlag, 2003.
2 Robert Schumann, Briefwechsel mit dem Verlag C. F. Peters, hrsg. von Thomas Synofzik, Brief 52/53, zitiert nach Helmut Loos (Hrsg.), R. Schumann-Interpretationen seiner Werke, Laaber-Verlag, 2005, S.159-161.
3 Clara Schumann im Tagebuch am 17. (recte: 27.) Januar 1851: “Robert arbeitet unaufhaltsam fort. Jetzt hat er wieder eine Ouvertüre zu ‘Julius Cäsar’ in Arbeit. Die Idee, zu mehreren der schönsten Trauerspiele Ouvertüren zu schreiben, hat ihn so begeistert, dass sein Genius wieder von Musik übersprudelt” . C. Schumann: Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen, Hrsg. B. Litzmann, Breitkopf und Härtel, 1902–08, Band II, S. 259
4 Martin Schoppe: Schumanns ‘Litterarischer Verein’, in: Robert Schumann und die Dichter. Droste Verlag,1991, S.17–32, zitiert nach Ulrich Tadday (Hrsg.), Schumann-Handbuch, Metzler/Bärenreiter, 2006.
5 Richard Pohl: Erinnerungen an Robert Schumann. Nebst ungedruckten Briefen.
Deutsche Revue 2 (1878), S.169–181, 306–317, zitiert nach Schumann-Handbuch, a. a. O.
6 Robert Schumann’s Briefe, neue Folge,Hrsg. F. Gustav Jansen, Breitkopf und Härtel, 1886.
7 a. a. O
8 Wilhelm Josef von Wasielewski: Robert Schumann, Breitkopf und Härtel, 1906, S. 461.
9 siehe Michael Strucks exzellenten Aufsatz ‘Am Rande der großen Form – Robert Schumanns Ouvertüren und ihr Verhältnis zur Symphonie, in: Probleme der symphonischen Tradition, Verlag Hans Schneider, 1990.
10 zitiert nach Schillers Werke, Band 2, Dramen, Insel Verlag, 1966, S. 325.
11 Ernst Burger, Robert Schumann, eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, Schott Verlag, 1999, S.178.
12 Burger, a. a. O., S. 278.
13 Schumann-Briefwechsel mit dem Verlag Peters, Brief vom 24. März 1851, Brief Nr. 56, zitiert nach Loos, a. a. O. S. 161.
14 Brief Schumanns an Pohl vom 7. Dezember 1851, in: Hermann Erler: Robert Schumann’s Leben, Ries und Erler, 1887, Band II, zitiert nach McCorkle, a.a.O.
Peter Tilling, 2010
Peter Tilling ist Dirigent,
Cellist und Pianist und lebt in München.
Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Peter Tilling, München.
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