William Wallace
(geb. Greenock 3. Juli 1860 -
gest. Malmesbury 16. Dezember 1940)

Villon
Symphonisches Gedicht No.6 für Orchester

 

Vorwort
Ein Komponist mit prägnantem, aber keineswegs einmaligem Namen – William Wallace, geboren am 3. Juli 1860 in Greenock nordwestlich von Glasgow, in jener Stadt, die auch den Komponisten Hamish MacCunn (1868–1916) hervorbrachte. Wallace, Sohn eines renommierten Chirurgen, war Schüler am Fettes College, der führenden Privatschule in Edinburgh, und studierte Medizin an den Universitäten Glasgow und Edinburgh. In Wien und Paris vertiefte er seine Kenntnisse in der Augenheilkunde und war am Moorfields Eye Hospital tätig, ehe er sich 1889, ein Jahr nach seiner Promotion, zum Musikstudium an der Londoner Royal Academy of Music entschloss. Nur zwei Semester verbrachte er dort – weitere kompositorische Kenntnisse eignete er sich autodidaktisch an.

Zusammen mit seinem Kommilitonen Granville Bantock (1868–1946), ebenfalls Sohn eines schottischen Arztes, edierte Wallace den The New Quarterly Musical Review. Auch war er als Sekretär für die Philharmonic Society tätig. Zusammen mit fünf anderen „Rebellen“ (darunter Bantock) machte er sich einen Namen als Heraus-forderer der Traditionen insbesondere des Londoner Royal College of Music. Seine Neigung zur musikalischen Welt von Franz Liszt schlug sich in nicht weniger als sechs Symphonischen Dichtungen (1892–1909) und der programmatischen „Creation“ Sinfonie (1899) nieder. Sein Aufruf in der Times vom 30. Mai 1904 muss als Politikum angesehen werden, mit dem er sich im konkurrierenden Lager keine Freunde machte: „(...) das Royal College of Music in eine Position zu versetzen, die ihr schwerlich zusteht – nämlich jene, die autoritative Körperschaft par excellence zu sein, der die Zukunft der britischen Musik anvertraut wird (...) Kein Musiker kann die Augen vor der Tatsache verschließen, dass das Royal College of Music mit einer gewissen Gedankenrichtung verbunden ist, die akademisch entgegenwirkend, wenn nicht sogar offen feindlich jeder modernen Tendenz gegenüber steht (...) Wir wollen britische Musik, keine Royal-College-of-Music-Musik.“

Doch war es Wallace wie auch seinen Mitstreitern zeitlebens nicht möglich, die herausragende Stellung, die das Royal College of Music in der Geschmacksprägung seiner Zeit einnahm, zu überwinden, noch sie in seiner Generation nachhaltig aufzuweichen. Es sollte der Generation Ralph Vaughan Williams’ und Arnold Bax’ vorbehalten bleiben, die britische Musik aus akademischen Lagern heraus ins 20. Jahrhundert zu führen. Obwohl seine „Creation“ Sinfonie vom Anspruch her durchaus herausragend war, gelang es Wallace dennoch nicht, sich gewisser akademischer Fesseln, insbesondere hinsichtlich der Harmonik, vollständig zu entledigen. Mit Blick auf Formentwicklungen und den organischeren Gebrauch thematischen Materials kann man ihn jedoch als deutlich experimentierfreudiger (und erfolgreicher) als Alexander Campbell Mackenzie (1847–1935) oder Hamish MacCunn bezeichnen – John Purser vergleicht ihn gar mit Carl Nielsen.

Nach dem Ersten Weltkrieg, während dem er im Royal Army Medical Corps diente, wurde Wallace Professor für Harmonielehre und Komposition sowie Bibliotheks-leiter an der Royal Academy of Music, dem er bis zu seiner Pensionierung 1927 angehörte. Das Komponieren hatte er schon vor Kriegsbeginn fast völlig aufgegeben – er war sich bewusst geworden, dass sein kompositorischer Stil im direkten Vergleich mit den „modernen“ Strömungen, wie sie Strauss, Reger, Debussy und Holst und viele andere repräsentierten, zunehmend als konservativ angesehen werden musste. Er verlegte sich aufs Schreiben und verfasste u.a. Bücher über Richard Wagner und Franz Liszt. William Wallace starb am 16. Dezember 1940 in Malmesbury in der englischen Graf-schaft Wiltshire.

Ähnlich Franz Liszt behandeln Wallaces Symphonische Dichtungen sehr unterschiedliche Themenbereiche: Sein Erstlingswerk in dieser Gattung war The Passing of Beatrice nach Dante, 1892 uraufgeführt. Amboss oder Hammer von 1896 leitet sich von Goethe ab, Sister Helen von 1899 von Dante Gabriel Rossetti. Diese Werke erlebten allesamt ihre Uraufführung im Londoner Crystal Palace. 1901 wurden die Greetings to the New Century uraufgeführt, 1905 gefolgt von Wallace ad 1305–1905 nach dem berühmten Namensvetter.

Villon war die letzte von Wallaces Symphonischen Dich-tungen – sie erlebte ihre Uraufführung im März 1909 durch das New Symphony Orchestra und wurde schon 1910 durch B. Schott’s Söhne gedruckt. François Villon (1431–nach 1463) war nicht nur Frankreichs bedeutendster Dichter im Spätmittelalters, sondern auch einer, der das Leben mit allen Sinnen genoss. Eine solche Persönlichkeit, wie Salome in ihrer Dekadenz anziehend und abstoßend zugleich, war kurz nach Ende des victorianischen Zeitalters ganz in Mode – ein kreatürliches Wesen voller Sinnlichkeit, komplex und gerade dadurch menschlich und für das „Zeitalter der Nervo-sität“ von größtem Reiz.
Wallace, sarkastischer und doch mitfühlender Beobachter seiner Mitmenschen, schuf in seiner Symphonischen Dichtung ein psychologisch reiches Porträt Villons, basierend auf sorgfältig ausgewählten Zitaten aus dessen Grand Testament. Die erste englischsprachige Ausgabe von Gedichten Villons erschien 1878, 1892 folgte eine Neuausgabe für die Villon Society of London. Sicher kannte Wallace sowohl eine dieser englischen Übertragungen als auch das französische Original, das 1876 und 1892 in Neuausgaben erschienen war.

Die Zitate führen den Leser der Partitur durch das Werk, geben ihm einen „Handlungsablauf“, den die musikalisch sorgfältig strukturierte Komposition gar nicht nötig hätte. John Purser hat in seinem CD-Booklettext für die Einspielung mit dem BBC Scottish Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins aus dem Jahr 1995 diese Handlung zusammengefasst. Die Betrachtung der Partitur erweist, dass das achtzehnminütige Werk deutlich die Nähe Wallaces zu den Komponisten seiner Zeit spiegelt – nicht nur zu einem einzelnen, sondern zu einem ganzen Zeitstil, der heute in seiner Komplexität an Präsenz verloren hat. Die Dichte, die die Komposition aufweisen kann, zeigt, dass wir hier einen Komponisten vor uns haben, der sein Metier bestens beherrscht, der eine ganz eigene musikalische Logik entwickelt, die seinem Sujet und seinem Personalstil zutiefst angemessen ist.

Dr. Jürgen Schaarwächter, 2010
(Deutscher Repräsentant der British Music Society)

1 The Times, 30. Mai 1904, S. 3; zitiert nach Edward Elgar, A Future for English Music and other Lectures, London 1968, S. 81–83, korrigiert nach Lewis Foreman (Hrsg.), From Parry to Britten. British Music in Letters 1900–1945, London 1987, S. 27–28.

2 John Purser, CD-Booklettext zu William Wallaces „Creation“ Sinfonie, Hyperion 1997 (CDA66987), S. 4.

3 John Purser, CD-Booklettext zu Tondichtungen William Wallaces, Hyperion 1996 (CDA66648), S. 7-8.

 

 

 

 

 

Aufführungsmaterial ist von Schott, Mainz zu beziehen. Nach-druck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

reenock 3. July 1860 -
d. Malmesbury 16. December 1940)

Villon
Symphonic Poem No.6 for orchestra

 

Preface
William Wallace – a composer with a curt but by no means unique name – was born on 3 July 1860 in Green-ock, the same town north-west of Glasgow that was to produce the composer Hamish MacCunn (1868–1916). The son of a celebrated surgeon , Wallace was a pupil at Fettes College, the foremost private school in Edin-burgh, and studied medicine at the universities of Glasgow and Edinburgh. He then deepened his knowledge of ophthalmology in Vienna and Paris and worked at Moorfields Eye Hospital until 1889, one year after taking the doctorate. In that year he decided to study music at the Royal Academy in London, where, however, he spent only two semesters, all his further know-ledge of composition being gained from self-instruction.

Wallace edited the The New Quarterly Musical Review together with his fellow-student Granville Bantock (1868–1946), likewise the son of a Scottish physician. He also served as secretary of the Philharmonic Society. Along with five other ‘rebels’ (including Bantock) he acquired a reputation as a breaker of traditions, particularly those of London’s Royal College of Music. His predilection for the musical universe of Franz Liszt left its mark on no fewer than six symphonic poems (1892–1909) and the programmatic ‘Creation’ Symphony (1899). The proclamation he published in the Times of 30 May 1904 was a political manifesto that earned him no friends in the opposite camp: ‘to set the Royal College of Music in a position to which it is scarcely entitled – namely that of being the authoritative body par excellence to be entrusted with the future of British music (...) No musician can close his eyes to the fact that the Royal College of Music is associated with a certain phase of thought which is academically antagonistic, if not openly inimical, to every modern tendency (...) We want British music not Royal-College-of-Music music.’

Yet Wallace, like his comrades-in-arms, never succeeded in overcoming the formative influence that the Royal College of Music exerted on the taste of his day, or to ameliorate it for any length of time during his generation. It was left to the generation of Ralph Vaughan Williams and Arnold Bax to lead British music from academic factionalism into the 20th century. Though his ‘Creation’ Symphony set very high standards, Wallace was unable completely to free himself from certain academic fetters, particularly with regard to harmony. All the same, he was far more experimental (and successful) than Alexander Campbell Mackenzie (1847–1935) or Hamish MacCunn in his handling of form and his organic treatment of thematic material; indeed, John Purser even goes so far as to compare him to Carl Nielsen.

After the First World War, during which he served in the Royal Army Medical Corps, Wallace became professor of harmony and composition and head of the library at the Royal Academy of Music, where he remained until his retirement in 1927. Even before the outbreak of hostilities he had virtually stopped composing, all-too aware that his style would increasingly be viewed as conservative when directly compared with the ‘modern’ currents represented by Strauss, Reger, Debussy, Holst and many others. He turned instead to writing, producing inter alia books on Wagner and Liszt. He died in Malmesbury, Wiltshire, on 16 December 1940.

Much like Liszt, Wallace took up highly contrasting material as subjects for his symphonic poems. His fledgling effort in the genre was The Passing of Beatrice after Dante, premièred in 1892. Amboss oder Hammer of 1896 was derived from Goethe, Sister Helen of 1899 from Dante Gabriel Rossetti. All these works were premièred at the Crystal Palace in London. In 1901 his Greetings to the New Century received its first hearing, followed in 1905 by Wallace ad 1305–1905, based on his famous namesake.

The last of Wallace’s symphonic poems was Villon, premièred by the New Symphony Orchestra in March 1909 and published a short while later B. Schott’s Söhne (1910). François Villon (1431–after 1463) was not only France’s most significant poet of the late Middle Ages, but a man who enjoyed life to the hilt. This figure, at once as magnetic and repulsive as Salomé in his decadence, became fashionable shortly after the end of the Victorian Age – an impulsive and abundantly sensual being whose complexity made him seem all the more human and immanently attractive to the ‘Age of Anxiety’.

In this work Wallace, a sardonic yet empathetic observer of his fellow man, created a psychological portrait of Villon based on judiciously selected quotations from his Grand Testament. The first English-language edition of Villon’s poetry was published in 1878, followed in 1892 by a new edition for the Villon Society of London. Wallace was surely aware of one of these English translations as well as the French original, which had been reissued in 1876 and again in 1892.
The quotations guide the reader of the score through the work, providing him with a ‘plot’ which this carefully structured composition does not need in the slightest. Purser summarises the plot in his essay for the CD recording with the BBC Scottish Symphony Orchestra under Martyn Brabbins (1995). A glance at the score reveals that this 18-minute work clearly reflects Wallace’s proximity to the composers of his day – not to any particular one, but to the entire style of the time, the complexity of which has diminished its presence today. The density of the work’s fabric shows that we are dealing with a composer who had a supreme command of his craft, and who developed a highly distinctive musical argument fully appropriate to his subject and his personal style.

Translation: Bradford Robinson

1 The Times (30 May 1904), p. 3; quoted from Edward Elgar: A Future for English Music and Other Lectures (London, 1968), pp. 81–83, corrected by Lewis Foreman, ed.: From Parry to Britten: British Music in Letters 1900–1945 (London, 1987), pp. 27–28.

2 John Purser, CD booklet for William Wallace’s ‘Creation’ Symphony, Hyperion 1997 (CDA66987), S. 4.

3 John Purser, CD booklet for William Wallace’s symphonic poems, Hyperion 1996 (CDA66648), pp. 7-8.

 

For performance material please contact the publisher Schott, Mainz. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.