Hugo Kaun
(geb. Berlin, 21. März 1863 - gest. 2. April 1932, Berlin)

Maria Magdalena

“Ich verstehe die Welt nicht mehr!”
Meister Anton in Christian Friederich Hebbels Maria Magdalena

Anders als bei den meisten seiner Zeitgenossen kam Hugo Kauns ursprünglicher Erfolg als Komponist nicht aus seinem Geburtsland Deutschland, sondern aus den Vereinigten Staaten, wo er von 1887 bis 1902 lebte und arbeitete.
Hugo Kaun wurde als Erster von 8 Kindern am 21. März 1863 in Berlin geboren. Das in seiner Familie gepflegte Interesse an Musik übte einen bedeutsamen Einfluss auf ihn und seine jüngeren Brüder Richard und William aus; beide sollten sich später als Musikverleger engagieren. Im Alter von 13 Jahren entschloss sich Hugo gegen den Ein-spruch seiner Eltern zu einer musikalischen Laufbahn. Damals brüstete er sich damit, mehr als 100 Kompositionen für einen Musikerleger geschrieben zu haben. daraufhin schlug man vor, dass er Komposition unter einem Schüler von Friedrich Kiel studiere. Im Alter von 16 Jahren schrieb er sich schliesslich in die Königliche Akademie der Musik zum Klavier - und Kompositionsstudium ein.
Doch um 1887 entschloss sich Kaun, nach Amerika auszuwandern und dort seine Karriere als Musiker aufzubauen. Zu einer Zeit, als es die meisten amerikanischen Komponisten nach Europa zwecks Studium und Anerkennung zog, machte Kaun das Gegenteil. In der grossen deutsch-amerikanischen Gesellschaft von Milwaukee, Wisconsin, liess sich Kaun als Klavier - und Kompositionslehrer nieder, außerdem grün-dete und dirigierte er den Milwaukee Männerchor und den Milwaukee Liederkranz. Auch spielte Komposition eine große Rolle, und seine symphonische Dichtung Vineta wurde von Christoph Bach aufgeführt. 1889 mietete Kaun eines der größten Theater in Milwaukee und führte einige seiner Kompositionen auf, darunter als Erstaufführung sein B-Moll Klavierkonzerts. Weiterhin komponierte Kaun auch mehrere Salonstücke unter dem Pseudonym Ferdinand Bold, die von seinem jüngeren Bruder William verlegt wurden, der 1897 seinem älteren Bruder nach Milwaukee gefolgt war und dort einen Musikverlag gründete.
Während mehrerer Besuche in Chicago kam Kaun nicht nur mit dem bekannten Musiktheoretiker Bernhard Ziehn (1845-1912) in Berührung, sondern lernte auch den Dirigenten Theodore Thomas (1835-1905) kennen, der Kauns erster und größter För-derer werden sollte. Thomas, ehemaliger Musikdirektor der New York Philharmonic, wurde nach Chicago eingeladen, wo eigens für ihn ein neues Orchester gegründet wurde. Ursprünglich unter dem Namen Chicago Orchestra bekannt, katapultierte Thomas’ Ruf für Orchesterperfektion und seine Weitsicht, neue Werke der weltbesten Komponisten aufzuführen, das Orchester zur nationaler Wichtigkeit, was 1913 zu einer Namensänderung in das bis heute bestehende Chicago Symphony Orchestra führte. Kaun’s erstes Stück für das neue Orchester Festmarsch und Hymne an die Freiheit (nach The Star Spangled Banner) wurde unter Thomas als Dirigent am 22. Oktober 1897 aufgeführt und führte zu weiteren Erstaufführungen Kaunscher Werke, einschließ-lich seiner Ersten Symphonie, An mein Vaterland, die Konzert-Ouvertüre Der Maler von Antwerpen und Im Urwald/In the Virgin Forest, zwei symphonische Dichtungen nach Longfellow’s Hiawatha. Nach Thomas’ Tod im Januar 1905 wurde das Ensemble umbenannt und als Theodore Thomas Orchestra bekannt. Sein Nachfolger Frederick Stock stellte dem Chicagoer Publikum auch weiterhin Kaun’s Kompositionen vor, darunter die Zweite Symphonie und das symphonische Gedicht Sir John Falstaff. Während dieser Zeit litt Kaun unter immer größerem Heimweh nach Deutschland und entschloss sich 1902, in seine alte Heimat zurückzukehren.
Zur Zeit seiner Rückkehr nach Berlin erhielt Kaun zahlreiche Anfragen, nach Amerika zurückzukehren und eine Lehrerstelle anzutreten, aber seine Entscheidung war stark beeinflusst durch die zugesagte Lehrtätigkeit an der Preußischen Akademie der Kunst, wo er Komposition, Theorie und Klavier unterrichten sollte. Unter seinen Schülern waren Charles Hambitzer (der wiederum der Klavierlehrer von George Gershwin wurde), Fannie Charles Dillon, Albert Israel Elkus, Carl Ellis Eppert und Heinz Roemheld (1902-1990), der ebenfalls aus Milwaukee stammte, und der zusammen mit Kaun’s Sohn Bernhard (1899-1985) ein anerkannter Orchestrator und mit dem Oscar geehrter Komponist von Musik zu Filmen wurde, die von Universal Studios und Warner Brothers in Hollywood produziert wurden.
In dieser späteren Periode komponierte Kaun mehrere große Werke, darunter die Opern Sappho (1916), Der Fremde/The Stranger (1918) und Menandra (1924); die Fantasiestuecke fuer Violine und Orchester (1907), (uraufgeführt von Michael Press unter Leitung von Ferrucio Busoni), die Dritte Symphonie in e-moll (1913), das Zweite Klavierkonzert in c-moll (1921) und sein Requiem (1921) für Kontralto, Männerchor und Orchester, außerdem zahlreiche Stücke für Kammermusikensembles, Chor, Orgel und Klavier. Kaun starb an Herzschlag am 2. April 1932, knapp einen Monat nach seinen 69. Geburtstag.
Beschrieben als Eine Tragödie des einfachen Lebens, konzentriert sich Christian Friedrich Hebbel’s Drama von 1844 nicht auf jene Maria Magdalena, die eine der gläubigsten Jüngerin Jesu war, sondern auf eine einen Abend währende Unterschichts-Tragödie, zu Teilen inspiriert von Friedrich Schiller’s Werk Kabale und Liebe (1874), das auch Verdi zu seiner Oper Oper Luise Miller anregte. Original betitelt als Klara (dies ist der Name der Heldin des Stückes), hatten die Herausgeber das Gefühl, dass Klara’s Reue eine weitschweifige Anspielung auf Maria Magdalenas Bekehrung sei.
Hebbel war einer der massgeblichen Architekten des Poetischen Realismus, der sich gegen die blumige Sprache der frühdeutschen Romantik auflehnte, welche sich im zweiten Teil des 19. Jahrhundert in Deutschland verbreitet hatte. In seinen Dramen schuf Hebbel realistische Darstellungen, die die emotionale und intellektuelle Leiden-schaft der Zuhörer fesselten. In Magdalena waren es der autoritäre Meister Anton, sein rebellischer Sohn Karl, seine empfindsame Tochter Klara und ihr Verlobter Leonhard, die Kaun zu seinem symphonischen Vorspiel für große Orchester anregten, nicht etwa als Einleitung zu einem Bühnenstück, sondern als eine musikalische Zusammenfassung, deren “freie” Struktur durch die dramatischen Ereignisse des Stücks stimuliert werden und zu einem unausweichlichen Ende führt.
In Hubbard William Harris’ Programmnotizen* zur Erstaufführung verweigerte Kaun alles “was nach ‘Programm’ aussieht” und erachtete es ebenso als “riskant” für jeden, der es versuchen wolle, “und betreffe es auch nur eine mögliche Bedeutung der verschiedenen Themen und Motive, aus denen sich die Musik entwickelt; Und da das Stück nichts gemein hat mit althergebrachten symphonischen Vorlagen ... kann seine Struktur und Mechanismen nur befriedigend erläutert werden in angemessenem Umfang - und das wahrscheinlich, ohne damit ein grösseres öffentliches Interesse an der Musik zu erreichen noch dem Verständnis des Stücks näherzukommen. Deshalb gibt es hier nur eine allgemeine Beschreibung (und keine Interpretation), jeder Zuhörer wird sich einen eigenen Eindruck bilden müssen - und zweifellos ist eine Vertrautheit mit dem Drama wesentlich zum Verständnis des ‘Prologs’“
Gesetzt für ein Orchester mit drei Flöten (die dritte auch gegen Piccolo austauschbar), zwei Oboen und Englisches Horn, zwei Klarinetten und Bassklarinette, zwei Fagotte, vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Tuba, Pauken, Becken, Tam-Tam und Harfe, beginnt das Stück “mit einem traurigen Thema in den Klarinetten und Fagotten, weitergeführt durch Violinen und Englischhorn”, und erfährt bedeutende Entwicklungen. Harris fährt fort: “Weitere Motive treten in Erscheinung, gewinnen im weiteren Verlauf an Energie, bis der Satz in seinem dramatischen Höhepunkt kulminiert.””
Ein untergeordnetes, ausdrucksvolles Thema, verbunden mit dem Hauptthema, arbeitet sich einem zweiten, eher tragischen Ende entgegen. “Düstere Farben herrschen vor, bis die Musik fast am Ende einen gelasseneren Ton anschlägt, der auf Erlösung und Hoffnung hindeutet. In dieser Stimmung endet das Stück.”
Maria Magdalena ist Wilhelm Berger gewidmet und erlebte am 17. Februar 1905 seine Welt-uraufführung durch das Theodore Thomas Orchester unter Frederick Stock.

Übersetzung: Ilse Ellen Michelson

Der Autor dankt Gerhart Helzel von Romana-Hamburg und Frank Villella, Archivist des Rosenthal Archivs des Chicago Symphony Orchestra für seine Unterstützung


*Ausschnitte mit freundlicher Genehmigung des Rosenthal Archives of the Chicago Symphony Orchestra.
In Fragen des Aufführungsmaterials wenden Sie sich bitte an den Fleischer Library, Philadelphia. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Hugo Kaun
(b. Berlin, 21. March 1863 - d. Berlin, 2. April 1932)

Maria Magdalena

“I do not understand the meaning of this world!”
Meister Anton in Christian Friederich Hebbels Maria Magdalena

 

Unlike most of his peers, Hugo Kaun’s initial success as a composer came not from his native Germany, but from the United States of America, where he lived and work-ed from 1887 to 1902.
The first of eight children, Hugo Kaun was born in Berlin on 21 March 1863 to a family whose musical interests made a profound influence on Hugo and his younger brothers Richard and William, his younger siblings later becoming involved in music publishing. By the age of thirteen, Hugo decided to embark on a career in music in spite of his parents‘ objections, boasting at one point that he penned over 100 compositions for a potential music publisher. It was then suggested that he study composition with Friedrich Kiel. At 16, he enrolled in the Royal Academy of Music to study piano in order to gain more proficiency in composition.
Yet by 1887, Kaun decided to initiate a move to the United States to make his career in music. At a time when most American composers traveled to Europe to study and gain recognition before returning to their homeland, Kaun was the opposite. Settling in the vast German-American community in Milwaukee, Wisconsin, Kaun set up his musical practice as a teacher of piano and composition, and also founded and conducted the Milwaukee Men’s Chorus and the Milwaukee Liederkranz. Composition also played a major factor; his symphonic poem Vineta was performed by Christoph Bach, and in 1889 Kaun rented out one of Milwaukee’s largest theatres to present a concert of several of his compositions, including the first performance of his B-flat minor piano concerto. Moreover, Kaun also composed several salon pieces under the non de plume of Ferdinand Bold, which were published by his younger brother William, who followed his older sibling to Milwaukee in 1897 and established a music publish-ing company.
Yet it was on one of several visits to nearby Chicago that he not only came into contact with the noted theorist Bernhard Ziehn (1845-1912), but also with the conductor Theodore Thomas (1835-1905) who would become Kaun’s first and foremost champion. Former music director of the New York Philharmonic, Thomas was invited to the American midwest to conduct a new orchestra particularly started for him. Initially known as the Chicago Orchestra, Thomas’ reputation for ensemble perfection, and his vision to perform new works by the world’s foremost composers of the day, would catapult the new orchestra to national prominence, leading them to change its name in 1913 to the present-day Chicago Symphony Orchestra. Kaun’s first work for this new orchestra, Festival March and Hymn to Liberty (based on The Star-Spangled Banner), was premiered under Thomas’ baton on 22 October 1897, and would lead to the first performances of other compositions, including his first symphony (An mein Vaterland/To my Fatherland), the concert overture Der Maler von Antwerpen and Im Urwald/In the Virgin Forest, two symphonic poems based on Longfellow’s Hiawatha. After Thomas’ death in January of 1905, the ensemble was re-named the Theodore Thomas Orchestra in his memory, and his successor Frederick Stock continued to introduce Kaun’s latest works to Chicago audiences, among them the Second Symphony and the symphonic poem Sir John Falstaff. By this time, however, Kaun felt exceedingly homesick for his native land and decided to move back to Germany in 1902.
Upon his return to Berlin, Kaun would receive several offers to return to America to teach, but his decision was tempered by his acceptance of a position teaching composition, theory and piano at the Prussian Academy of the Arts. Among his pupils were Charles Hambitzer (who, in turn, would become George Gershwin’s piano teacher), Fannie Charles Dillon, Albert Israel Elkus, Carl Ellis Eppert and Heinz Roemheld (1902-1990), the last a native Milwaukeean who, along with Kaun’s son Bernhard (1899-1985), would become an noted orchestrator and Oscar-winning composer for several films produced by Universal Studios and Warner Brothers Pictures in Hollywood.
In this later period, Kaun would compose several major works including the operas Sappho (1916), Der Fremde/The Stranger (1918) and Menandra (1924); the Fantasie-stücke for violin and orchestra from 1907 (premiered by Michael Press and conducted by Ferrucio Busoni), the Third Symphony in E minor (1913), the Second Piano Concerto in C minor (1921) and his Requiem (1921) for contralto, male chorus and orchestra, in addition to numerous works for chamber ensembles, voice, organ and piano. Kaun died of a heart attack on 2 April 1932, nearly a month after his 69th birthday.
Described a “tragedy of common life,” Christian Friederich Hebbel’s 1844 drama focuses not on the woman who was one of Jesus’ most devoted followers, but an evening-length tragedy focusing on the lower middle class modeled, in part, after Friedrich Schiller’s 1784 Kabale und Liebe, which in turn inspired Verdi’s opera Luisa Miller. Originally entitled Klara (after the heroine of the play), the name Maria Magdalena came about because the author’s publisher felt that Klara’s repentance was a circuitous allusion to Mary‘s conversion of faith from the error of her ways.
Reacting against the florid writings of early German romanticism, Hebbel was one of the principal archietcts of the Poetic Realist movement that engulfed a unified Germany within the second half of the 19th century. In his dramas, Hebbel would create portraits of realistic strength that would arrest the audience’s emotional and intellectual passions. Hence in Magdalena, the trials and tribulation of Hebbel’s authoritarian patriarch Meister Anton, his rebellious son Karl, his vulnerable daughter Klara and her betroved Leonhard would inspire Kaun to compose his “symphonic prologue” for large orchestra, designed not to serve as a prelude to any particular stage production, but as a musical summation whose free structure is stimulated by the play’s dramaturgical events that lead to its inevitable conclusion.
In Hubbard William Harris’s program notes for the work’s first performance*, Kaun declined to furnish “anything whatever in the way of a ‘program’“ and also deemed that for someone else to attempt writing one would be “hazardous…even to the point out with anything like…the meanings attached to the various themes or motives (sic) from which it is developed; and as the piece has nothing in common with established symphonic ‘models’…its structure and mechanism could be explained satisfactorily only at considerable length - and this probably without increasing popular interest or comprehension of the music itself. Therefore only a general description of (and not an interpretation) is attempted, each listener being left of necessity to form his own impressions - familiarity with the drama itself being essential doubtless to a proper understanding of this ‘prologue.’“
Scored for an orchestra comprised of three flutes (the third interchangeable with piccolo), two oboes and English Horn, two clarinets and bass clarinet, two bassoons, four horns, three trumpets, three trombones, tuba, timpani, cymbals, tam-tam, harp and strings, the work solemnly opens with “a doleful theme begun by the clarinets and bassoons and carried on by the violins and English Horn” that undergoes prominent development. “Other motives come to notice” Harris further notes “…gathering energy as it proceed, the movement mounts to a dramatic climax.”
A secondary, expressive theme enters, which is contrapuntally combined with the principal subject, working its way to a second, more tragic climax. “Somber colors prevail for the most part throughout - until shortly before the close, when the music assumes a more serene character, suggesting redemption and hope, in which mood the piece comes to an end.”
Maria Magdalena is dedicated to Wilhelm Berger, and received its world premiere performance by the Theodore Thomas Orchestra under Frederick Stock on 17 February 1905.


The author gives his indebted thanks to Gerhard Helzel of Romana-Hamburg, and Frank Villella, Archivist for the Rosenthal Archives of the Chicago Symphony Orchestra, for their assistance.


Kevin Scott, 2010

*Excerpts used with permission from the Rosenthal Archives of the Chicago Symphony Orchestra
For performance material please contact the Fleischer Library, Philadelphia. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.