Ferruccio Benvenuto Busoni
(geb. Empoli, 1. April 1866 — gest. Berlin, 27. Juli 1924)

Nocturne Symphonique op. 43 (1912)

Sostenutissimo (p. 1) – Adagio (p. 12) – Allegretto tranquillo (p. 16)

Vorwort
Ferruccio Busoni trug sich einige Zeit mit dem Gedanken, eine italienische Oper über Leonardo da Vinci schreiben, worauf er am 13. September 1908 in einem Brief aus Mailand an seine Frau Gerda etwas näher einging. Dort erwähnt er auch den historischen Roman Leonardo da Vinci von Dmitri Sergejewitsch Mereschkowsky (1865-1941), den er „noch einmal (und zu Ende)“ lesen müsse. Am 5. November 1908 schreibt er aus London an Gerda: „Ergreifend wirkte auf mich der Aufsatz Vasari’s über Leonardo, schön in Sprache und Empfindung, wenn auch biographisch ganz kümmerlich.
Auch das Buch von Mereschkowsky hat gute Sachen (so z.B. das Tagebuch des Giovanni Boltraffio) – als Kunstwerk ist es nicht kühn und zusammenhängend genug, aber voll bester Absichten. Die Figur und die Epoche Leonardo’s gewinnen immer mehr in meinen Augen – sie scheinen mir das würdigste Nationalsujet abzugeben. Ich werde dabei wohl bleiben und versuchen, eine neue und vollkommenere Theater-Tonkunst darauf zu bauen. Ich möchte es dann mit aller Gewissenhaftigkeit arbeiten, vielleicht fünf Jahre lang. Denn ich fühle, dass sich ein reiferer und selbständigerer Mensch in mir geformt hat, wie ein neuer Zahn hinter den noch festen und gesunden vorderen wächst.
Die Fülle der Motive ist bei dem Sujet überreich. Wie liebenswerth ist es! Ich muss noch viel mehr davon wissen, ehe ich beginne.Wie schön sagt L[eonardo] selbst: ‚Liebe ist Kenntnis einer Sache. Je tiefer die Kenntnis, desto mächtiger die Liebe‘ …“

Ein knappes Jahr später, im Oktober 1909, komponierte Busoni seine Berceuse élégiaque op. 42, die ‚Erste Elegie für Orchester’, ‚Des Mannes Wiegenlied an dem Sarge seiner Mutter’, eine ‚Poesie für sechsfaches Streichquartett mit Sordinen; drei Flöten, einer Oboe, drei Klarinetten, vier Hörnern, Gong, Harfe und Celesta’ in memoriam Anna Busoni, versehen mit dem Motto-Gedicht:

‚Schwingt die Wiege des Kindes
Schwankt die Wage seines Schicksals
Schwindet der Weg des Lebens
Schwindet hin in die ewigen Fernen.’

Die Berceuse élégiaque markiert die Wende in Busonis Schaffen zum wahrhaft eigenen Stil, zunächst in seiner mysteriösen Verschleiertheit von eingegrenztem Radius, doch in der allmählich virtuos sich aufbauenden Kombination mit allen anderen Stilmitteln ein großes Spektrum eröffnend, das sich wohl am faszinierendsten in seiner unvollendet gebliebenen Oper Doktor Faust niederschlagen sollte (den Leonardo schrieb er nie).

Hugo Leichtentritt (1874-1951) schreibt in seiner kleinen, feinen Monographie Ferruccio Busoni (Leipzig 1916): „Die ‚Berceuse’ ist ein elegisches Stück von überaus zartem Klange. Von ein paar kurzen, stärkeren Akzenten abgesehen, sind piano und pianissimo die einzigen Stärkegrade in ihr. Die Melodie ist wehmütig klagend, wie von Seufzern und Schluchzen oft unterbrochen. […] Weherufe, sich sofort wieder abdämpfend, irren von einem Instrument zum andern, aber hier und da spielt auch etwas wie ein wehevolles Lächeln über vergrämten Zügen; gegen den Schluss haucht das Stück wie ersterbend sozusagen sein Leben aus. Von Anfang bis zum Ende wird alles getragen von dem schwankenden und doch ruhevollen wiegenden Rhythmus der Begleitfiguren.“

Zur Uraufführung gelangte die Berceuse élégiaque am 21. Februar 1911 in der Carnegie Hall zu New York durch die New Yorker Philharmoniker unter Gustav Mahler. Die Partitur erschien 1910 bei Breitkopf & Härtel im Druck, wo sie später als Taschenpartitur.wieder aufgelegt wurde. Sie ist seither das meistgespielte und bekannteste seiner kürzeren, avancierten Orchesterwerke. Von der Berceuse élégiaque sagt Busoni in seiner ‚Selbstrezension’ (Berlin, Februar 1912), dass es ihm hier erstmals gelungen sei, „einen eigenen Klang zu treffen und die Form in Empfindung aufzulösen“. Leichtentritt dazu: „Es bildet also diese kleine Komposition gleichsam den Angelpunkt in des Künstlers gesamtem Schaffen.“

1910 komponierte Busoni seine Fantasia contrappuntistica für den Organisten und Polyphoniker Wilhelm Middelschulte (1863-1943), über deren Klavierfassung Eduard Erdmann (1896-1958) in seinem Aufsatz ‚Moderne Klaviermusik’ (erschienen in der Zeitschrift Melos, Heft 2 1920) sagen sollte: „Zum Schluss Busoni. Er vertritt gewissermaßen den internationalen Künstlertypus. In unserer Zeit ist er der geistvollste Komponist – im abgrenzenden Sinne des Wortes. Nicht in der schöpferischen Erfin-dungskraft liegt bei ihm der Schwerpunkt, aber in seiner schaffenden Intelligenz, seinem psychischen Sonderleben, seiner klangkombinatorischen Phantasie. Sein Stärkstes gibt Busoni in katholischer Mystik, spukhafter Phantastik, resignierender Stille. Er schenkte uns wohl das bedeutendste Werk der modernen Klavierliteratur: die ‚Fantasia contrappuntistica’. Dieses Werk muss man kennen. Busonis großes Concerto erwähnte ich schon. Wichtig sind sonst noch sein ‚Indianisches Tagebuch’, sowie drei Sonatinen, von denen mir die erste am nächsten steht. Wichtig endlich noch seine vielen Bearbeitungen und Phantasien über Bach’sche Werke. In Busoni verbindet sich die artistisch-koloristische mit der im engeren Sinne expressionistischen Richtung zu einem neuen, lebendigen Ganzen.“

An die mit der Berceuse élégiaque unternommenen Schritte ins Unbekannte knüpfte Busoni zunächst 1912 mit dem hier erstmals in Studienpartitur vorliegenden Nocturne Symphonique op. 43 wieder an, sodann mit dem Gesang vom Reigen der Geister op. 47 für Streichorchester, sechs Blasinstrumente und Pauken, (seiner Charles Martin Loeffler gewidmeten ‚Dritten Elegie für Orchester’, komponiert August-Dezember 1915; Repertoire Explorer Study Score 856) und der Sarabande aus Sarabande et Cortège op. 51 (Repertoire Explorer Study Score 864), jenen Volkmar Andreae zugeeigneten zwei Studien zum Doktor Faust, die er zugleich als Fünfte und Sechste Elegie für Orche-ster bezeichnen sollte (komponiert Dezember 1918 und Januar 1919).

Der Komposition des Nocturne symphonique ging im Juni-Juli 1912 diejenige der Mark Hambourg gewidmeten Sonatina seconda für Klavier voraus. Busoni selbst erwähnte am 7. November 1912 in Riga einen Brief Robert Freunds an ihn, in welchem dieser u.a. schreibt: „Die Sonatine hat mich sofort gefangen genommen. Die so ungewöhnliche Harmonik passt eben zu dem phantastisch-mystischen Charakter des Stückes und macht den Eindruck des Natürlichen, Spontan-Intuitiven. Ich frage mich weshalb ich zu Schönberg kein Verhältnis finden kann, während mir bei Ihnen auch das Kühnste natürlich erscheint. Ist es bei ihm das Formal-Unvollendete und die Kurz-Athmigkeit und Interesselosigkeit der Motive? Sie sind der wahre Futurist, in dem Sinne, dass Sie in die Zukunft hinein wirken…“

In der Februarausgabe 1912 der Zeitschrift Pan hatte Busoni jene ‚Selbstrezension’ veröffentlicht, in welcher er sich genötigt sah, eine deutliche Abgrenzung vorzunehmen – sicher auch wegen des elegisch-statisch scheinenden Charakters und der impressionistischen Wirkung seiner fortschrittlichsten Arbeiten: „Debussys Kunst fördert seine persönliche, scharf begrenzte Empfindung – aus seinem Gemüt – in die Außenwelt: ich bemühe mich, aus dem Unendlichen, das den Menschen umgibt, zu schöpfen und, gestaltet, zurückzugeben. Die Kunst Debussys bedeutet eine Einschränkung, die aus dem Alphabet manchen Buchstaben streicht und, nach dem Beispiel scholastisch-poetischer Spiele, Gedichte mit Auslassung des A und R konstruiert: mein Bestreben ist die Bereicherung, die Erweiterung, die Ausdehnung aller Mittel und Ausdrucksarten. Debussys Musik übersetzt die verschiedensten Gefühle und Situationen mit gleichlautenden Formeln; ich bin bestrebt, zu jedem Sujet andere und entsprechende Töne zu finden. Debussys Tongebilde sind parallel und homophon: die meinen wollen polyphon und ‚multiversal’ sein. Bei Debussy sehen wir den Dominant-Nonenakkord als harmonische Grundlage, den Ganzton als Prinzip der Melodie, ohne dass die beiden sich verschmelzten; ich versuche jedes System zu vermeiden, Harmonie und Melodie zur unauflöslichen Einheit zu gießen. Er unterscheidet Konsonanz und Dissonanz; ich lehre diesen Unterschied zu leugnen.“ Und zusammenfassend: „Ich versuche, ich will, ich bin bestrebt … nicht, dass ich es bereits in der Vollendung und in umfassender Weise täte; denn ich fühle mich als Anfänger – und Debussy ist ein Abgeschlossener.“

Am 19. Februar 1909 hatte Busoni aus Mailand an seine Frau Gerda geschrieben: „Zwischen Leonardo und V. Hugo (von dem ich Les rayons et les ombres in Lyon fand) gestützt, wie Moses von den Propheten, kann ich oben bleiben, in dieser Stadt… Von Leonardo hört man immer Neues und Erstaunlicheres, er wird eigentlich entdeckt. […]
Von Leonardo fängt man erst an seine Schriften und Notizen wirklich zu lesen. Daraus entnimmt man, dass er bereits die Ideen des Aeroplans, der Schraube (Propeller) und des Taucherapparates ahnte. Er wollte den Venetianern den ‚Isonzo’ so reguliren, dass man künstliche Überschwemmungen bilden könnte, die Feinde abzuhalten oder zu vernichten. Man hat ihn Nichts machen lassen. Und so ging mir durch mein Gehirn, ob die dramatische Idee nicht darin zu gründen wäre, wie ein Plan nach dem anderen versagt, Einer nach dem Anderen sich abwendet, ‚Er’ aber stets einsamer und isolirter, einen immer höheren, freieren Aussichtspunkt bekommt, bis – mit seinem Tode – die höchste Weisheit erreicht wird und sich in einer Prophetie kundgibt.“ Diese Prophetie ist in Busonis eigenem Leben der ‚neue Stil’, der vielleicht am radikalsten im Nocturne Symphonique zum Ausdruck kommen sollte.

Am 10. November 1912 schreibt Busoni aus St. Petersburg an Gerda über die vorangegangenen Tage im lettischen Riga: „… doch komme ich auf eine eigenartige Beobachtung: es gefällt mir Alles besser in der Erinnerung. Die Erinnerung ist eine Kunstmeisterin in der Vernachlässigung des kleinlichen Details. Sie ist das künstlerische Bild des Erlebten. Nach ihr soll man komponieren lernen. Sie ist die geniale Skizze. Ich denke noch der Verblüffung Benni’s als ich – am ersten Tage in Basel – sagte: das wird eine schöne Erinnerung. Heute ist mir klar, was ich damals unbewusst traf. Deshalb ist man meistens enttäuscht, wenn einen die schöne Erinnerung zum 2. Male an denselben Ort führt.“

Am 15. November 1912 schreibt der komponierende Reise-Virtuose aus Moskau: „… nun – da ich mit meinem Orchester-Stück ein wenig Klarheit erreicht – schreibe ich Dir wieder, freier und leichter. […] Wäre ich nicht froh über meine kleine Arbeit, ich versänke wieder in den Schleim der Melancholie.“

Und am 25. Januar 1913 aus London: „Mit dem Nocturne Symphonique werde ich die Reihe vorbereitender Arbeiten vorläufig als abgeschlossen betrachten müssen; womit nicht ausgesprochen ist, dass ich ‚cammin facendo’ nicht mein musikalisches Vocabularium stetig vermehre. Dem Alter und dem Stand meiner Reife nach, glaube ich aber nicht weiter zögern zu sollen, ein Haupt- und Monumental-Werk in Angriff zu nehmen, auf das schließlich alles Gethane gezielt hat. Zugleich möchte ich den Lauf meines Stromes zu seiner Quelle zurückbiegen und versuchen dass mein Hauptwerk auch für Italien dasselbe bedeutete. Da muss man aber in’s Vollste greifen, um mit einem Schlage alle Köpfe und alle Herzen zu treffen. So meinte es Wagner mit den Nibelungen, die aber dem deutschen Volke verhältnismäßig fremd waren und nicht so direkt an’s Ziel gelangten. Italien besitzt Dante, der allen gleich theuer und in den Hauptepisoden volkstümlich ist, trotz seiner Größe. Und sogar außerhalb Italiens. Der Kinematograph brachte mich auf diese Idee, als ich am ‚Strand’ Dante’s Hell als ‚Film’ angezeigt sah. Ich würde nicht bei der Hölle stehen bleiben, aber auch nicht bis zum Himmel mich vermessen; sondern mit der Begegnung der Beatrice enden.“

Es sollte allerdings noch einige Monate dauern, bis Busoni, der inzwischen intensiv mit der Arbeit am ‚Indianischen Tagebuch’ befasst war, am 18. Juli 1913 aus der Berliner Wohnung an seine Frau vermelden konnte: „Die indianischen Motive sind nicht sehr ergiebig, noch fruchtbar; ich werde viel Eigenes hineinpfropfen müssen, in die Rhapsodie. – [Indianische Fantasie op. 44 für Klavier und Orchester, Repertoire Explorer Study Score 945]. Das Nocturne Symphonique scheint mir, nach definitiver Prüfung und Durchsicht, eine Art Vollkommenheit an sich zu haben…“

Busoni hatte im Oktober 1912 mit der Komposition des Nocturne Symphonique begonnen und schloss den Feinschliff im Juli 1913 ab. Es ist dem großen Dirigenten (und Komponisten) Oskar Fried (1871-1941) gewidmet. Die Uraufführung durch die Berliner Philharmoniker am 12. März 1914 in Berlin leitete Busoni selbst, und noch im selben Jahr erschien die Partitur bei Breitkopf & Härtel in Leipzig im Druck.

Am 8. Oktober 1912 berichtete Busoni an Egon Petri über eine soeben begonnene ‚dritte Sonatine’ für Klavier, die den Charakter eines Schmetterlings habe, indem sie einen Prozess der Metamorphose durchlaufe – einen Prozess, der für Busoni selbst völlig unvorhersehbar war: vier Tage später arbeitete er mit diesem Material an seiner ‚deuxième élégie pour orchestre’, und kurz darauf hatte er den endgültigen Titel Nocturne Symphonique gefunden. Der Plan war zu jenem Zeitpunkt, das Werk solle mit einer avancierten langsamen Einleitung beginnen, über ein Rezitativ in einen Marsch (in A-B-A-Form) überführen, und im Schlussteil sollten „alle fünf Melodien“ über einem Orgelpunkt vereint und verwoben werden. Für diesen Schlussteil hatte Busoni überdies die Mitwirkung einer Glasharmonika vorgesehen – jenes Instruments, das bereits E.T.A. Hoffmann für das der Sphärenmusik nächstehende hielt. Busoni hielt sich dann keineswegs an diese Pläne, und letztlich kommen weder Rezitativ und Marsch noch eine Glasharmonika im Schlussteil des Nocturne Symphonique vor.

Auf den weiteren Fortschritt des Werks, das bei der Abreise aus London aus einer lediglich acht Takte umfassenden Skizze bestanden hatte, könnte die Begegnung mit Alexander Skriabin in St. Petersburg, mit jenem „anderen Meister des Okkulten“ (Antony Beaumont), eine gewisse Auswirkung gehabt haben.

Hugo Leichtentritt, der auch den Einführungstext zur Uraufführung beitrug, schreibt (in Ferruccio Busoni, Leipzig 1916) quasi als autorisiertes, erweitertes Sprachrohr des Komponisten über die Berceuse élégiaque und das Nocturne Symphonique: „[Beide Werke] sind Etappen auf einem Wege ins musikalische Neuland, den Busoni mit voller Entschiedenheit erst in den letzten Jahren betreten hat. Die ‚Sonatinen’ für Klavier gehören in dieselbe Gruppe. Die Auflösung der Orchestermasse in individuelle Elemente wird hier erstrebt; die gewünschte Durchsichtigkeit, Zartheit, Intimität der Klangfarben bringt es mit sich, dass auf die massiven, starkschallenden Instrumente, wie Trompeten und Posaunen, ganz verzichtet wird. Eine neue Art ‚polyphoner Harmonik’ ist hier angewendet. Es ist nicht Stimme gegen Stimme, eine Instrumentengruppe gegen die andere abgewogen, sondern Ton gegen Ton, jedes einzelne Instrument gegen jedes andere. Die Noten sehen sehr einfach aus, verlangen aber eine unendliche Subtilität der Ausführung. Ohne Kenntnis ihres eigentümlichen Stils vorgetragen, werden solche Stücke leicht zur Karikatur. Verschiedene Akkorde spielen oft ineinander, Dur erklingt zugleich mit Moll, immerwährend prallen unerwartete Akkorde aufeinander. Sache des Vortrags ist es, den einen Klang gegen den andern so abzutönen, dass das Resultat nicht mehr befremdend wirkt.“ [Leichtentritt hatte die Werke unter Busonis eigener Leitung gehört!] […]

„Der resultierende Totalklang ist hier eben nicht nur die glatte Summe seiner Komponenten, wie in der Arithmetik, sondern etwas ganz Neues, bisher Unbekanntes. Frappierende Zusammenklänge der Sekunde, None, Septime, Quarte an nicht wenigen Stellen zeigen, dass akkordische Wirkungen auch anders zu erreichen sind, als auf der Basis des üblichen Terzenaufbaus. Der Zuhörer tut vielleicht am besten, sich den neuartigen, ungewohnten Zusammenklängen gegenüber sozusagen naiven Gemüts zu verhalten. Er verfolge nur ruhig den Gang der Melodie und nehme die Harmonik als Umrahmung, Unterstreichung, Schattierung, als farbig abgetönten Hintergrund, sich der malerischen Wirkung ganz unbefangen hingebend. […]

Ist die ‚Berceuse’ in dämmerige Farben, in abendliche Schatten gehüllt, so senken sich die noch tieferen, schwärzeren Schatten der Nacht über das ‚Nocturne symphonique’. Das Helldunkel des Wiegenliedes wird hier abgelöst durch den kühl-warmen Hauch der Sommernacht. Südliche Lüfte wehen in beiden Stücken. Das polyphone Gewebe des ‚Nocturne’ ist dichter, verwickelter. Macht die ‚Berceuse’ im ganzen den Eindruck eines Monologs, so hat man im ‚Nocturne’ mehr die Empfindung einer Zwiesprache. Traurig, gedämpft, von Schmerz durchzittert ist auch hier die Rede. Die tiefen, hohen, mittleren Instrumente lösen einander ab in der Melodielinie, fallen einander ins Wort, gehen mit- und gegeneinander, oft eingesponnen in ein feinmaschiges Netz schwankender Tonfäden. Das Ohr muss sich an dies Ineinanderfließen der Klangfarben erst gewöhnen, ähnlich wie das Auge sich erst besonders einstellen muss, um in der Dunkelheit die Umrisse der Dinge nach und nach zu erkennen. Dazu kommt noch, dass die Melodielinie ungewohnter Art ist, nicht dem liedartigen Gesange ähnlich, sondern eher einer aufs feinste abgetönten Rezitation.“

In dieser Musik esoterischer Nachteinsamkeit, so ließe sich vorstellen, spricht der einsame Leonardo da Vinci, wie Busoni ihn (oder sich selbst) sich vorstellt – das der Zeit vorausgeschrittene Genie. In der Welt der Manifestation sollte dies dann Busonis finales magnum opus, seine Oper Doktor Faust, sein, in welcher u.a. die zurückkehrende Musik des Nocturne Symphonique nochmals ihr „feinmaschiges Netz schwankender Tonfäden“ (Leichtentritt) auswirft.

Christoph Schlüren, 2009


Aufführungsmaterial ist von Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (www.breitkopf.de) zu beziehen.

Ferruccio Benvenuto Busoni
(b. Empoli, 1 April 1866 — d. Berlin, 27 July 1924)

Nocturne symphonique
op. 43 (1912)

Sostenutissimo (p. 1) – Adagio (p. 12) – Allegretto tranquillo (p. 16)

Preface

For a while Ferruccio Busoni toyed with the idea of composing an Italian opera on Leonardo da Vinci. Writing to his wife Gerda from Milan on 13 September 1908, he went into this plan in somewhat greater detail. He also mentioned the historical novel Leonardo da Vinci by Dmitri Sergeyevich Mereshkovsky (1865-1941), which he “had to read once again (and to the end).” On 5 November 1908 he wrote to Gerda from London that he was “deeply moved by Vasari’s essay on Leonardo – beautiful in language and sentiment, though paltry in its biography. There are also good things in Mereshkovsky’s book (such as Giovanni Boltraffio’s diary) – it’s not sufficiently bold or coherent as a work of art, but it’s full of the best intentions. The figure and the age of Leonardo are constantly gaining in my estimation – they seem to me to offer the worthiest ‘national subject.’ I’ll probably stick with it and try to build a new and more perfect theater piece upon it. Then I’d like to work on it with all conscientiousness, perhaps for five years. For I sense that a more mature and independent man has taken form within me, just as a new tooth grows behind another that is still firm and healthy. The subject abounds with a multitude of motifs. How endearing it is! I still have to learn much more about it before I begin. As L[eonardo] himself so nicely put it: ‘Love is knowledge of a thing. The deeper the knowledge, the more powerful the love.’”

Hardly a year later, in October 1909, Busoni composed the Berceuse élégiaque, op. 42 – his “first elegy for orchestra,” the “cradle song of a man at his mother’s coffin,” a “poem for six-fold muted string quartet, three flutes, an oboe, three clarinets, four horns, gong, harp, and celesta,” written in commemoration of Anna Busoni. It bears the following poem as a motto:

Schwingt die Wiege des Kindes
Schwankt die Wage seines Schicksals
Schwindet der Weg des Lebens
Schwindet hin in die ewigen Fernen.

(“The child’s cradle sways,
the scales of his destiny tremble,
life’s path disappears,
vanishing into the eternal distances.”)

The Berceuse élégiaque marks the turning-point in Busoni’s music toward a truly distinctive style, first in its veiled mysteriousness within a narrow compass, but also in its gradual and deftly expanding combination of all other stylistic resources. It opens up a broad spectrum that would find perhaps its most fascinating expression in the unfinished opera Doktor Faust (he never managed to compose Leonardo).

Hugo Leichtentritt (1874-1951), in his brief but insightful monograph Ferruccio Busoni (Leipzig 1916), has this to say: “The Berceuse is an elegiac piece of highly delicate sound. Apart from a few brief and fairly heavy accents, the only dynamic levels it surveys are piano and pianissimo. The melody is dolorous and melancholy, as if frequently interrupted by sighs and sobs. […] Cries of lamentation, quickly stifled, wander from one instrument to another; but now and again something akin to a doleful smile spreads across its harrowed features. Toward the end the piece breaths its life away, as if at the moment of death. From beginning to end, everything is sustained by the faltering, yet calmly swaying rhythm of the accompaniment figures.”

The Berceuse élégiaque received its première at New York’s Carnegie Hall on 21 February 1911, with the New York Philharmonic conducted by Gustav Mahler. The score was published in 1910 by Breitkopf & Härtel, who later reissued it in miniature format. Since then it has become the most frequently played and best-known of Busoni’s short, advanced orchestral works. Writing in his “Selbstrezension” (Berlin, February 1912), he claimed that it was the work in which he first succeeded in “finding my own sound and dissolving form into sensibility.” Leichtentritt adds: “This little composition thus constitutes what might be termed the linchpin of his entire oeuvre.”

In 1910 Busoni composed his Fantasia contrappuntistica for the organist and contrapuntalist Wilhelm Middelschulte (1863-1943). Eduard Erdmann (1896-1958) later discussed the piano version in his essay “Moderne Klaviermusik,” published volume 2 of the journal Melos (1920): “Lastly Busoni. To a certain extent he represents the international species of artist. He is the most intellectually stimulating composer of our time, in the delimiting sense of the term. In his music the emphasis lies not on creative powers of invention but on his artistic intelligence, his unique cast of mind, his imagi-native combination of sounds. Busoni gives his utmost in Catholic mysticism, in haunted flights of fancy, in tranquil resignation. He has presented us with what is probably the most significant work in the modern piano repertoire: the Fantasia contrappuntistica. This work is sine qua non. I have already mentioned his great Concerto. Other than these, his major works are the Indian Diary as well as three sonatinas, of which the first is closest to my heart. Lastly, equally important are his many arrangements and fantasies on Bach’s works. In Busoni, the art of coloration unites with a penchant for expressionism in the narrow sense to create a new and vibrant whole.”
In 1912, following his plunge into the unknown in the Berceuse élégiaque, Busoni wrote his Nocturne symphonique (op. 43), which we present here for the first time in miniature score. It was followed by the Gesang vom Reigen der Geister for string orchestra, six wind instruments and timpani (op. 47), his “third elegy for orchestra,” which was composed from August to December 1915 and dedicated to Charles Martin Loeffler (Repertoire Explorer Study Score 856), and by the sarabande from his Sarabande et Cortège (op. 51), two studies of December 1918 and January 1919 for Doktor Faust that he dedicated to Volkmar Andreae and referred to as his “fifth and sixth elegies for orchestra” (Repertoire Explorer Study Score 864).

Before composing the Nocturne symphonique Busoni wrote the Sonatina seconda for piano in June and July of 1912, dedicating the work to Mark Hambourg. Writing from Riga on 7 November 1912, he quotes a letter from Robert Freund saying, among other things, that “the Sonatina immediately held me in thrall. The unusual harmony perfectly suits the piece’s fantastic and mystical character and conveys an impression of naturalness and spontaneous intuition. I ask myself why I cannot relate to Schoenberg while even the greatest audacities in your music seem natural to me. Is it his imperfection of form and the short-breathed quality and blandness of his motifs? You are the true Futurist in the sense that you influence the course of the future.”

The February 1912 issue of the journal Pan carried Busoni’s above-mentioned “Selbst-rezension” (“self-review”), in which he felt called upon to draw a clear line of demarcation, surely also because of the seemingly elegiac and static character and impressionist aura of his most progressive works: “Debussy’s art projects to the outside world his personal, sharply etched sensibility – from his disposition: my concern is to tap the infinity surrounding humankind and to return it in finished form. Debussy’s art implies a limitation that deletes many a letter from the alphabet and, following the example of scholastic literary games, constructs poems without A’s or R’s: my concern is to enrich, to enlarge, to expand every resource and mode of expression. Debussy’s music translates the most disparate feelings and situations with identical formulae; I attempt to find different and apposite tones for each subject. Debussy’s creations are parallel and homophonic: mine seek to be polyphonic and ‘multiversal.’ In Debussy we see the dominant-ninth chord as a harmonic foundation and the whole tone as a melodic principle, with neither blending into the other; I try to avoid any system and to mold harmony and melody into an indissoluble unity. He distinguishes between consonance and dissonance; I teach denying this distinction altogether.”

He then summarized his thoughts: “I try, I wish, I am concerned ... not that I have already done this comprehensively and to perfection; for I feel like a beginner – and Debussy is a finished artist.”

Before then, on 19 February 1909, Busoni had written to his wife Gerda from Milan:
“In this city, like Moses before the prophets, I can remain aloft between Leonardo and V. Hugo (whose Les rayons et les ombres I found in Lyons) … One hears ever new and ever more amazing things about Leonardo; only now is he being truly discovered. […] His writings and notes are just beginning to be read properly. They tell us that he already foresaw the ideas of the airplane, the screw propeller, and the bathysphere. He wanted to regulate the Isonzo so that the Venetians could create artificial floods to ward off or destroy enemies. He wasn’t allowed to build a thing. So it passed through my mind whether the dramatic idea might best be rooted in the way one plan after another fell through, and one person after another turned away, while ‘he’ became increasingly lonely and isolated, attaining ever loftier and freer vantage points until, with his death, the pinnacle of wisdom is reached and proclaims its existence in prophesy.”
In Busoni’s own life, this prophecy was the “new style” that would find perhaps its most radical expression in the Nocturne symphonique.

Writing again to Gerda from St. Petersburg on 10 November 1912, Busoni recounts the preceding days in the Latvian town of Riga:“But I’ve made a strange observation: everything pleases me more in the remembrance. Memory is a master in the art of neglecting petty details. It’s the artistic image of the things we experience. One should learn to compose in accordance with memory. It’s the inspired sketch. I still recall Benni’s amazement when I said, on my first day in Basle, that it will make a beautiful memory. What I stumbled on subconsciously back then is clear to me today. That explains why we’re usually disappointed when a beautiful memory leads us to return to the same spot a second time.”

On 15 November 1912 the traveling composer-pianist wrote from Moscow: “Now that I’ve achieved a bit of clarity with my orchestral piece I’m writing to you again, this time more freely and lightly. […] If I weren’t so happy with my little work I’d sink back into the slough of melancholy.”

And again, from London on 25 January 1913: “With the Nocturne symphonique I’ll have to regard my series of preparatory works as temporarily complete – which is not to say that I won’t steadily expand my musical vocabulary, ‘cammin facendo.’ Given my age and my state of maturity, however, I believe I shouldn’t hesitate any longer to embark on a monumental magnum opus, which has been the ultimate goal of everything I’ve done. At the same time I’d like to bend the course of my stream back to its source and try to make this magnum opus mean the same for Italy. But I’ll have to do my utmost if I want to touch every brain and every heart at a single stroke. That’s what Wagner sought with the Nibelungs, who were relatively alien to the German people and failed to reach their goal directly. Italy has Dante, who is loved equally by everyone, and who, despite his grandeur, is folklike in the main episodes. Even outside of Italy. The cinematographer gave me this idea when I saw Dante’s Hell advertised as a ‘film’ at the Strand. I wouldn’t remain stuck in Inferno, but neither would I presume to reach Paradise; instead, I would end with the meeting with Beatrice.”

Nonetheless, several months had to pass before Busoni, now busily at work on his Indian Diary, could write to his wife from their Berlin apartment on 18 July 1913: “The Indian melodies are not very forthcoming, nor are they fruitful; I will have to stuff a lot of myself into them, into the rhapsody [i.e. the Indian Fantasy for piano and orchestra, op. 44; see Repertoire Explorer Study Score 945]. The Nocturne symphonique seems to me, after a final inspection and read-through, to have a sort of perfection about it.”
Busoni had started work on the Nocturne symphonique in October 1912 and put the finishing touches on it in July 1913. It is dedicated to the great conductor (and composer) Oskar Fried (1871-1941). The première was given in Berlin on 12 March 1914, with the Berlin Philharmonic conducted by Busoni himself. The full score was issued in print that same year by Breitkopf & Härtel in Leipzig.

On 8 October 1912 Busoni gave Egon Petri an account of his recently begun Third Sonatina for piano, which, he claimed, had the character of a butterfly in that it undergoes a process of metamorphosis – a process which, for Busoni himself, was wholly completely unpredictable. Four days later he was at work with this material on his “second elegy for orchestra,” and a short while later he lit on the definitive title: Nocturne Symphonique. At this time his plan was to have the work open with a slow introduction in an advanced style, to lead via a recitative to a march in A-B-A form, and to combine and interweave “all five melodies” above a pedal point in the final section. Moreover, he also intended to use a glass harmonica in this final section, the instrument that E.T.A. Hoffmann already considered closest to the music of the spheres. In the event, Busoni did not adhere to these plans at all, and ultimately the Nocturne symphonique contained neither a recitative, nor a march, nor a glass harmonica in its final section.

The further progress of the work, which consisted of nothing more than an eight-bar sketch by the time Busoni left London, may well have been influenced to a certain extent by his meeting in St. Petersburg with “that other master of the occult” (Antony Beaumont), Alexander Scriabin.

Hugo Leichtentritt, who wrote an introductory text for the première and served somewhat as Busoni’s authorized and expanded spokesman, discussed the Berceuse élégiaque and the Nocturne symphonique in his Ferruccio Busoni (Leipzig, 1916): “[Both works] are stages en route to uncharted musical territory that Busoni has only in recent years entered upon with full conviction. The Sonatinas for piano fall into the same category. Here he attempts to dissolve the mass of the orchestra into separate elements; the translucence, delicacy, and intimacy of color he seeks has caused him to dispense entirely with such massive and penetrating instruments as trumpets and trombones. Here he applies a sort of ‘contrapuntal harmony’ in which, rather than one voice or one group of instruments being pitted against the other, note is set against note, and each instrument against each other instrument. The music looks very simple on the page, but it calls for infinite subtlety in its execution. Such pieces, when performed without a knowledge of their distinctive style, can easily devolve into caricature. Various chords often interweave, major and minor sound simultaneously, while all the time unexpected chords collide. The performer’s task is to calibrate each and every sound against the others so that the result no longer sounds disconcerting.”

Leichtentritt had heard the works conducted by Busoni! He continues: “The resultant overall sound is not the smooth sum of its components, as in arithmetic, but something entirely new and previously unknown. Striking sonorities of seconds, ninths, sevenths, and fourths are not infrequently to be heard, revealing that the chordal effects are attained by means other than traditional tertian harmony. The listener is perhaps best advised to treat these novel and unusual sonorities so to speak in a spirit of naïveté. He should simply follow the course of the melody and take the harmony as a setting or means of emphasis, as shading or a tinted background, innocently yielding himself to the pictorial effect. […] “If the Berceuse is wrapped in twilit colors and evening sha-dows, the deeper, darker shadows of night fall on the Nocturne symphonique. Here the chiaroscuro of the lullaby gives way to the cool yet warm breath of a summer night. Southerly breezes waft through both pieces. The contrapuntal fabric of the Nocturne is denser and more intricate. If the Berceuse conveys the overall impression of a monologue, the Nocturne feels more like a conversation between two persons. Here, too, the conversation is sad, muted, trembling with pain. Low, high, and medium instruments take turns in the melodic line, interrupting each other, walking alongside and toward each other, often enshrouded in a fine-knit skein of fluctuating threads of sound. The ear must first become accustomed to this confluence of timbres, just as the eye must first become adjusted before it can gradually recognize the outlines of things in the dark. Further, the melodic line is unusual in itself, no longer resembling the melody of song, but more akin to delicately hued recitation.”

In this music of esoteric nocturnal solitude, we can imagine hearing the lonely Leonardo da Vinci as Busoni imagined him (or imagined himself): the genius striding ahead of his age. It is in this world of manifestations that Busoni envisaged his final magnum opus, the opera Doktor Faust, in which, among other things, the recurrent music of the Nocturne symphonique again casts its “fine-knit skein of fluctuating threads of sound.”

Translation: J. Bradford Robinson

 

For performance materials please contact Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (www.breitkopf.de).