Giovanni Gabrieli
(geb. Venedig [?], ca. 1554-57 — gest. Venedig, 12. August 1612)

Canzoni e Sonate (ed. 1615)
per sonar con ogni sorte de instrumenti

Vorwort
Giovanni Gabrielis Name steht wie kein anderer für die doppelchörige bzw. mehrchörige venezianische Musik, wie sie vor allem in San Marco gepflegt wurde. Obwohl dafür nur wenige Belege existieren, dürfen wir davon ausgehen, dass der hauptsächliche formende Einfluss auf den jungen Giovanni von seinem Onkel, dem großen Komponisten Andrea Gabrieli (1532/33 [?] – 1585) ausging, der wiederum entscheidend vom Stil Cipriano de Rores geprägt worden war (freilich ohne dessen chromatische Neigungen weiter zu verfolgen). Genau wissen wir, dass er in München (wie schon zuvor sein Onkel Andrea) mehrere Jahre lang Schüler Orlando di Lassos am Hof des bayerischen Herzogs Albrecht V. war. Dort erschienen bereits 1575 in einem Sammelband einige Madrigale des jungen Giovanni Gabrieli, und man nimmt an, dass er wie viele andere Musiker 1579 nach dem Tod den Hof verlassen hat. In Venedig scheint er spätestens 1584 wieder auf und wird 1585 Nachfolger Claudio Merulos als erster Organist an San Marco. Da zuvor Andrea Gabrieli von Merulo bei dessen Beförderung den Posten des zweiten Organisten übernommen hatte, versahen nun Onkel und Neffe Gabrieli nebeneinander diesen Dienst – wenn auch nur für einige Monate, denn am 30. August 1585 starb Andrea Gabrieli. Nach seinem Tode veröffentlichte Giovanni mehrere Bände mit Andreas Werken, insbesondere Concerti (1587), Terzo libro de madrigali a cinque voci (1589) und zwei Bände mit Orgelwerken, wo er jeweils zu den Kompositionen seines Onkels auch eigene hinzufügte. Mit Andrea Gabrielis Tod übernahm Giovanni auch dessen Pflichten als Hauptkomponist für zeremonielle Musiken an San Marco, und zugleich folgte er Vincenzo Bellavere als Organist der Scuola Grande di San Rocco nach. Diese parallelen vertraglichen Bindungen machten ihn zum mächtigsten Kirchenmusiker Venedigs und zu einem so unglaublich vielbeschäftigten Mann, dass die Wissenschaftler heute davon ausgehen, dass dies nur möglich war, indem sich Gabrieli allerortens zuverlässiger Vertretungen bedienen konnte.

Die erste große Druckausgabe, die exklusiv Werken Giovanni Gabrielis gewidmet war, sind die Sacrae symphoniae von 1597. Sie fanden rasch internationale Verbreitung, vor allem in Deutschland, wo Gabrieli längst ein Idol war und bereits 1598 in Nürnberg bei Kauffmann ein Nachdruck erschien. Es war in den germanischen Ländern ein besonderes Privileg, bei Gabrieli zu studieren, und sei es aus Graz, Kopenhagen oder Westfalen: die adligen Herren schickten ihre begabtesten jungen Komponisten zur Veredelung und Vollendung ihrer Ausbildung nach Venedig zu Giovanni Gabrieli – so auch 1609 der sächsische Hof Heinrich Schütz, den bedeutendsten deutschen Kom-ponisten für die nächsten Generationen, der bis kurz nach Gabrielis Tod 1612 in Venedig blieb. Enge Freundschaft verband Giovanni Gabrieli besonders mit Hans Leo Haßler. Ein Schüler, der Augustinermönch Taddeo dal Guasto, genoss das besondere Vertrauen des Meisters, wurde zu seinem Nachlassverwalter und gab postum seine noch unveröffentlichten Kompositionen heraus. So erschienen 1615 sowohl die zweite Folge der Symphoniae sacrae als auch die hier vorliegenden Canzoni e sonate im Druck. Während der erste Band der Sacrae symphoniae von 1597 auch viele Instrumentalsätze beinhaltet, sah Guasto bei der postumen Veröffentlichung auf klare Trennung: die Symphoniae sacrae, liber secundus sind durchgehend geistliche Vokalkompositionen mit Instrumen-talbegleitung, während die Canzoni e sonate ausschließlich aus Instrumentalmusik bestehen.

Interessanterweise sind bis heute die bekanntesten Instrumentalstücke Giovanni Gabrielis, die besonders gerne von den Blechbläserformationen der amerikanischen Symphonieorchester mit mächtiger Klangentfaltung und großem, sonorem Effekt dargeboten werden, der zu seinen Lebzeiten erschienenen Sammlung Sacrae symphoniae entnommen, die so rasch in ganz Europa Verbreitung fand und im 19.Jahrhundert ganz besonders von der Wiederentdeckung Giovanni Gabrielis durch Karl von Winterfeld (Johannes Gabrieli und sein Zeitalter, Berlin 1834) und den Winterfeld seriös ausgeführten und in Umlauf gebrachten Arrangements für moderne Instrumente profitierte. Aus dieser Sammlung stammt auch Giovanni Gabrielis berühmtestes Einzelwerk, die Sonata pian e forte. Die Canzoni e sonate sind später entstanden und fraglos eine Weiterentwicklung des früheren Stils. Doch wurden sie lange nicht nachgedruckt, da sich in keiner Bibliothek eine zusammenhängende Sammlung der 13 Stimmbücher befand. So fand Michel Sanvoisin als Quellen für die hier vorliegende, 1971 bei Heugel in Paris erschienene und hiermit unverändert zum Nachdruck übernommene Partiturausgabe 12 Stimmbücher in der Augsburger Staatsbibliothek und die dort fehlende Stimme des Basso in der Konservatoriumsbibliothek zu Rom. Die Canzoni e sonate bestehen aus 16 Canzonen und 5 Sonaten (lediglich die achte Canzon zu 8 Stimmen war bereits vor 1615 in den Canzoni per sonare von 1608 veröffentlicht worden, alle anderen Stücke blieben zu Gabrielis Lebzeiten ungedruckt und daher in ihrer Wirkung dem engen Schüler- [und Hörer–] Kreis vorbehalten). Michel Sanvoisin schreibt in seinem Vorwort zur 1971er Originalausgabe vorliegender Partitur zum Stil der Werke:
„Wenn ihrem Stil nach die ersten vier Canzoni von 1615 zweifellos die älteren und traditionelleren sind, so erscheint die Technik des mehrchörigen Satzes ab dem fünften Stück vielfältiger. Ganz neuartig der Pulsschlag und die rhythmische Vielfalt, die alle Sätze belebt, verbunden mit einem Wechsel von Polyphonie und Homophonie, der sich als Strukturprinzip der Komposition zu erkennen gibt. Vor allem die letzten Sonaten (XVIII – XX) dürfen als Höhepunkt der Gattung begriffen werden; sie scheinen alle Möglichkeiten des Klangraums auszuschöpfen. Die fünf Chöre der Sonata XX werden nacheinander eingeführt, um in ein Tutti von 22 Stimmen zu münden, das in der Musik der Zeit kein Gegenstück hat, während das letzte Werk, die Sonate XXI für drei Violinen und Bass, das einzige Beispiel bei Gabrieli für eine konzertante Instrumentalkomposition mit obligatem Continuo ist.“
Was die Besetzung betrifft, gibt es vielfältige Möglichkeiten sowohl auf historischem Instrumentarium als auch bei der Ersetzung der alten Instrumente durch moderne, wie beispielsweise der Zinkpartien, die etwa auf Trompeten oder Oboen ausgeführt werden können – hier hängt die Wahl natürlich auch von der instrumentalen Umgebung ab: während zu Posaunen sicher Trompeten passen, kombiniert man eine soloistische Geige besser mit einer Oboe. Alle Instrumentationsangaben (wie auch die modernen Schlüsselungen) sind vom Herausgeber Michel Sanvoisin vorgenommen, und er betrachtet sie lediglich als seriös abgewogene, persönliche Entscheidungen und vielen weiteren Möglichkeiten. Dazu kommentiert Sanvoisin noch: „Die instrumentationstechnischen Angaben Gabrielis sind so kostbar wie selten.Während der Bass der Posaune anvertraut wird, dialogisieren Zink und Violine, häufig imitativ verknüpft. Oft führen diese beiden Melodieinstrumente Diminutionen aus, rasche Passagen, die im 16. Jahrhundert improvisiert wurden, die die italienischen Komponisten seit dem Ende dieses Jahrhunderts aber schriftlich fixierten. […] Von Gabrieli instrumentiert ist die Sonate XVIII. Sie enthält drei Chöre mit 4 Zinken und 10 Posaunen. Verfügt man nicht über Zinken, so kann man an ihrer Stelle 4 Trompeten verwenden, um ein zufriedenstellendes Gleichgewicht zu gewährleisten. Weitere Instrumentenfamilien, deren Zusammenstellung ungewöhnlich erscheint, können Verwendung finden: So etwa, wenn 4 Lauten eines Chors von 4 Stimmen einem ersten Chor von 4 Violen antworten. T. Massaino veröffentlicht 1608 eine Canzon ‚per quattro viole e quattro Chitaroni ò Leuti’.“

Überdies merkt Sanvoisin zu seiner Ausgabe an: „Die Versetzungszeichen der Originalausgabe von 1615 druckt die Partitur in das Liniensystem. Diese Versetzungszeichen gelten für den ganzen Takt. Nur für den betreffenden Ton gelten zusätzliche, über die Noten gedruckte Akzidentien, die vom Herausgeber vorgeschlagen werden.“

Christoph Schlüren, Februar 2010

 

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Heugel & Cie., Paris, zu beziehen.

Giovanni Gabrieli
(b. ? Venice, ca. 1554-57 — d. Venice, 12 August 1612)

Canzoni e Sonate (ed. 1615)
per sonar con ogni sorte de instrumenti

Preface
Giovanni Gabrieli’s name is second to none as a byword for Venice’s double- and polychoral music of the sort cultivated especially at St. Mark’s. Though there is little documentary evidence, it is safe to assume that the formative influence on young Giovanni came from his uncle, the great composer Andrea Gabrieli (?1532-33 – 1585), who was in turn decisively influenced by the style of Cipriano de Rore, though without the latter’s gusto for chromaticism. It is certain that, like his uncle Andrea, he spent several years in Munich studying with Orlando di Lasso at the court of Duke Albrecht V of Bavaria. It was there that the young Gabrieli published several madrigals in a collection as early as 1575, and it is likely that he left the court in 1579, as did many other musicians following the duke’s death. He returned to Venice no later than 1584 and succeeded Claudio Merulo as principal organist at St. Mark’s in 1585. As Andrea Gabrieli had previously assumed the post of second organist from Merulo when the latter was promoted, the two Gabrielis now performed these duties in tandem. This situation lasted only a few months, however, for Andrea Gabrieli died on 30 August 1585. After his death, Giovanni published several volumes of Andrea’s works, in particular Concerti (1587), Terzo libro de madrigali a cinque voci (1589), and two volumes of organ works to which he also contributed some pieces of his own in each volume. With his uncle’s death, Giovanni also took over his duties as principal composer of ceremonial music at St. Mark’s. He also succeeded Vincenzo Bellavere as organist at the Scuola Grande di San Rocco. These parallel contractual ties made him the most powerful church musician in Venice and a man so incredibly busy that scholars today assume that he could only cope with the workload by employing reliable deputies at every turn.

The first large printed edition devoted entirely to Giovanni Gabrieli’s music was the Sacrae symphoniae of 1597. It soon enjoyed international dissemination, especially in Germany, where Gabrieli had long been idolized, and where the volume was already reprinted a year later by Kauffmann in Nuremberg. In the Germanic countries, whether Graz, Copenhagen, or Westphalia, it was considered a special privilege to study with Gabrieli, and aristocratic lords sent their most gifted young composers to Giovanni Gabrieli in Venice in order to polish and perfect their training. Among them was Heinrich Schütz, the leading German composer for the next few generations, whom the Saxon court sent to Venice in 1609 and who remained there until shortly after Gabrieli’s death in 1612. Gabrieli developed an especially close friendship with Hans Leo Hassler. One pupil, the Augustine friar Taddeo dal Guasto, enjoyed the master’s particular confidence, eventually becoming the executor of his estate and posthumously editing his unpublished compositions. Thus, the year 1615 witnessed the publication of the second series of Symphoniae sacrae as well as the present Canzoni e sonate. While the first volume of Sacrae symphoniae (1597) has many instrumental numbers, Guasto insisted on a clear distinction in the posthumous publications: Symphoniae sacrae, liber secundus consists entirely of sacred vocal pieces with instrumental accompaniment, whereas Canzoni e sonate contains only instrumental music.

Interestingly enough, even today Giovanni Gabrieli’s best-known instrumental pieces, frequently played by the brass sections of American orchestras with mighty phalanxes of sound and grand sonorous effects, stem from the Sacrae symphoniae volume published during his lifetime and rapidly disseminated throughout Europe. This volume profited greatly from Karl von Winterfeld’s rediscovery of Gabrieli in the nineteenth century (Johannes Gabrieli und sein Zeitalter, Berlin, 1834) and from the arrangements for modern instruments that he conscientiously prepared and circulated. Gabrieli’s most famous work altogether, Sonata pian e forte, comes from this collection. Although Canzoni e sonate originated later and doubtless represents a further development of Gabrieli’s earlier style, many years had to pass before it was reissued for the simple reason that no library had a full set of all thirteen partbooks. For the present edition in full score, published by Heugel of Paris in 1971 and faithfully reproduced in our vo-lume, Michel Sanvoisin found twelve partbooks in the Augsburg State Library and the missing basso part in the library of Rome Conservatory. Canzoni e sonate contains sixteen canzonas and five sonatas; of these only the eighth Canzon, in eight parts, had already appeared prior to 1615 in the Canzoni per sonare of 1608, the remainder having been left unpublished in Gabrieli’s lifetime and thus limited in their impact to his close circle of students (and listeners). Sanvoisin describes the style of these works in his preface to the original score edition of 1971: “The first four Canzoni published in 1615 are undoubtedly the earliest and more traditional, judging by their style; from the fifth Canzon onwards, however, the polychoral writing is handled with more variety. All are imbued with an original vitality and richness of rhythm, along with an alternation of polyphonic and homophonic passages that serves are their structural principle. The last Sonatas (XVIII to XX) notably represent the pinnacle of their genre and seem to exhaust every possibility of sonic variation. In Sonata XX, the five choirs enter successively, culminating in a tutti of twenty-two parts that has no equivalent in the repertoire of the time. The last, Sonata XXI for three violins and bass, is the sole example in Gabrieli’s music of an instrumental work in concertante style with basso continuo obbligato.”

Regarding the scoring, there is a wide range of options both on period instruments and their modern-day equivalents (the cornett parts, for example, may be taken by trumpets or oboes). The choice depends, of course, on the instrumental surroundings: trumpets are certain to sound well with trombones, but a solo violin should preferably be combined with an oboe. All the instrument names (as well as the modern clefs) were added by the editor, Michel Sanvoisin, who regarded them merely as judiciously chosen personal preferences among many other options. He went on to explain: Gabrieli’s indications are the more precious for being rare. The cornett and violin often play in imitative dialogue, while the bass is given to the trombone. These two treble instruments frequently play diminutions, rapid passages that were improvised in the sixteenth century but written down by Italian composers from the end of the century. […] Sonata XVIII, orchestrated by Gabrieli, comprises three choirs made up of four cornetts and ten trombones. If cornetts are not available, four trumpets may be used to achieve a satisfactory balance. Other families, outwardly less homogeneous, can be formed. Four lutes constituting a four-part choir play in dialogue with four viols in the first choir. In 1608 T. Massaino published a Canzon “per quattro viole e quattro Chitaroni ò Leuti.”
Sanvoisin also remarked on his edition: “In the score, accidentals placed in front of the notes appear in the original edition of 1615, and are valid for the whole bar. Accidentals placed above the notes are editorial and affect only the note in question.”

Translation: Bradford Robinson

For performance materials please contact the publisher Heugel&Cie., Paris ().