Sergey Mikhaylovich Lyapunov
(geb. Yaroslavl, 30. November 1859 - gest. Paris, 8. November 1924)

Violinkonzert d-moll op. 61 (1915-21)

Vorwort
Wer sich heute über unbekanntere Komponisten ausführlicher informieren will, muss nicht zwangsläufig eine Bibliothek aufsuchen. Elektronische Medien bieten zumeist eine schnelle und bequeme Alternative. Wer jedoch auf der Suche nach dem russischen Komponisten Ljapunow die einschlägigen Suchmaschinen des Internets mit dem Nachnamen füttert, sieht sich plötzlich mit Differenzialgleichungen oder Wahrschein-lichkeitstheorien konfrontiert. Dabei ist der Suchende schon in der richtigen Familie angekommen, aber wie oft auch später stand der Komponist Sergej Ljapunow in puncto Bekanntheit und Nachhaltigkeit selbst innerfamiliär im Schatten eines anderen, in diesem Fall in dem seines zwei Jahre älteren Bruders Alexander, einem erfolgreichen Mathematiker und Physiker.

Sergej Ljapunow wird 1859 in Jaroslavl geboren, der Vater Michajl ist als Astronom und Physiker Leiter des benachbarten Observatoriums und somit sicher Wegbereiter für den beruflichen Werdegang des erstgeborenen Sohnes Alexander, während die Mutter Sofia als Pianistin wohl eher die beiden anderen Brüder, Sergej und Boris, in Bezug auf die Berufswahl beeinflusst. Nach dem frühen Tod des Vaters zieht die Mutter mit den drei Söhnen 1870 nach Nischnij-Nowgorod, der Geburtsstadt von Balakirew, einem weiteren wichtigen „Schattenspender“ im Leben Ljapunows, wenngleich die erste persönliche Begegnung der beiden wohl erst später stattfand.

Nach dem Besuch des Gymnasiums und einer Klasse der Russischen Musik Gesellschaft, in der Sergej seine bei der Mutter begonnene musikalische, insbesondere pianistische Ausbildung fortsetzte, wechselt der junge Musiker auf Anraten Nikolai Rubinsteins 1878 an das Moskauer Konservatorium. Dort erhält er nicht nur fundierten Klavier-unterricht, sondern besucht auch Kompositionsklassen mehrerer Lehrer, darunter die letzte Klasse Tschaikowskys vor dessen Ausscheiden aus dem Dienst. Den größten Einfluss als Kompositionslehrer dürfte jedoch Sergej Tanejew auf den Studenten eingeübt haben.

1883 legt Ljapunow sein Examen in den Fächern Klavier und Kompositionskunde mit Auszeichnung ab. Im selben Jahr trifft er zum ersten Mal auf Balakirew, mit dessen Musik er sich schon sehr lange beschäftigt hat. Zwei Jahre später zieht er endgültig nach Petersburg um und schließt sich vollständig dem Balakirewkreis an. Mili Balakirew ist ein guter und dankbarer Lehrer und Mentor, aber auch eine überaus dominante Persönlichkeit. Anders als nahezu alle anderen Schüler Balakirews wird Ljapunow eine lebenslange Freundschaft zu seinem Förderer unterhalten, was schon angesichts der gelegentlich schroffen Umgangsformen Balakirews seinen Mitmenschen gegenüber als bemerkenswert angesehen werden muss. Doch diese Freundschaft hat ihren Preis: Balakirews starker Einfluss hemmt geradezu die Ausbildung eines individuellen Kompositionsstils seiner Mitstreiter, und Ljapunow ist diesbezüglich auch nicht besonders ambitioniert. So hat der Zuhörer bei seinen Werken häufig den Eindruck, einem Plagiat oder Imitat zu begegnen. Schon die komponierenden Zeitgenossen haben dies mit dem Unterton der Missbilligung zum Ausdruck gebracht.

Für Ljapunow selbst stellt dieser Umstand aber zunächst kein Problem dar, er sieht seine Rolle als Musiker nicht auf das Komponieren beschränkt, seine Tätigkeiten sind breit gefächert. Infolge seiner brillanten Technik ist er als Klaviersolist gefragt, darüber hinaus nimmt er z.T. leitende Positionen an diversen musikpädagogischen Insti-tutionen ein (u.a. an der von Balakirew gegründeten Musikalischen Freischule von 1908 bis 1911). Ferner betätigt er sich auf dem Gebiet der Musikwissenschaft. Er ist an der Herausgabe der Werke Glinkas beteiligt, sammelt Volkslieder, vervollständigt oder instrumentiert unvollständig hinterlassene Werke russischer Komponisten und publiziert die Briefe zwischen Balakirew und Tschaikowsky bzw. Rimski-Korsakow.

Mit dem Tod Balakirews im Jahr 1910 setzt bei Ljapunow langsam eine Veränderung beim Komponieren ein, die vielleicht als Unsicherheit oder Orientierungslosigkeit gedeutet werden kann. Die Anzahl seiner „Kompositionsvorbilder“ wird erweitert, z.T. über den Balakirewkreis hinaus, doch der ohnehin schmale Werkkatalog wird seltener um größere, symphonische Werke vermehrt, und diese werden z.T. auch nicht publiziert. Stärker noch als zuvor tritt er nun als Pianist und Dirigent in Erscheinung. Von 1910 bis 1917 hat Ljapunow eine Musikprofessur für Theorie und Klavier am Petersburger Konservatorium inne, ab 1919 lehrt er am neugegründeten Kunsthistorischen Institut der Stadt. Doch die Arbeitsbedingungen sind nach der Oktoberrevolution in jeder Hinsicht äußerst schwierig, und so kehrt Ljapunow 1923 der Sowjetrepublik den Rücken und siedelt nach Paris um. Dort gründet er eine Musikschule für russische Emigranten, doch eine lange Wirkungszeit ist ihm in Paris nicht beschieden: schon 1924 stirbt er an den Folgen eines Herzinfarkts.

Ljapunows Werkkatalog umfasst nicht besonders viele Werke, die sich zudem auf nur wenige Gattungen verteilen. Den größten Teil seiner Kompositionen machen Lieder und Klavierstücke aus, daneben existieren noch einige Orchesterwerke, darunter zwei Symphonien, zwei Klavierkonzerte und ein Violinkonzert.

Das Violinkonzert entstand 1915 unter Einfluss und Mitwirkung des Violinisten Johannes Nalbandjan, einem Schüler bzw. später Assistenten von Leopold Auer am Petersburger Konservatorium. Für Ljapunow, von Haus aus Pianist, war die Beschäftigung mit der Solovioline Neuland, und so überrascht es nicht, dass das Violinkonzert sowohl hinsichtlich der Anlage der Solostimme, darüber hinaus aber auch in Gestus und Form sehr deutlich Anklänge an das im Jahr 1904 entstandene Violinkonzert von Glasunow aufweist. Beide Konzerte sind durchkomponiert, weisen aber eine strukturelle Dreisätzigkeit auf, wobei jeweils der langsame Mittelsatz formal in den ersten Satz integriert ist. Vor Beginn des Finalabschnitts ist bei beiden Konzerten für den Solisten eine breit angelegte Kadenz angelegt. Beide Widmungsträger der Konzerte, Auer bei Glasunow und Nalbandjan bei Ljapunow, haben die Komponisten sicherlich in Bezug auf die technische und klangliche Einrichtung der Solostimme eingehend beraten, und beiden Konzerten ist anzuhören, dass sie quasi aus der gleichen Violinklasse des Konservatoriums stammen.

Die erste Aufführung des Violinkonzerts von Ljapunow erfolgte 1916 am Konservatorium mit Nalbandjan als Solisten, allerdings nur mit Klavierbegleitung. Die Instrumentation der Partitur wurde endgültig erst 1921 fertiggestellt, zu Lebzeiten des Komponisten wurde das Konzert nicht publiziert. Aus handschriftlichem Material wurde das Werk offensichtlich einige Male in den folgenden Jahren von Geigern der Petersburger Schule öffentlich gespielt, so z.B. von Jascha Heifetz im Jahre 1930 in der Carnegie Hall, allerdings auch nur mit Klavierbegleitung. Die erste Aufführung mit Orchester lässt sich erst für den 19. Dezember 1944 nachweisen. Solist war der junge Geiger Yulian Sitkovetsky, der auch auf der einzigen bis heute verfügbaren CD-Einspielung des Konzerts (von 1946 !) zu hören ist. Am Dirigentenpult stand Vladimir Degtjarenko.

1946 veröffentlichte der Musikwissenschaftler und Geiger I. Jampolskij einen Aufsatz über das Violinkonzert, im gleichen Jahr erschien im Russischen Staatsverlag der Klavierauszug und die Solostimme, von Jampolskij eingerichtet, erstmalig im Druck. Die vollständige Orchesterpartitur erschien erst 1964 im gleichen Verlag.

Ein Kritiker schrieb nach der Aufführung von Heifetz im Jahr 1930, das Konzert sei vielleicht dankbarer zu spielen als anzuhören. Doch selbst wenn dies zuträfe - schon der reizvolle Vergleich mit dem Violinkonzert von Glasunow mag Rechtfertigung genug sein, Ljapunows Beitrag zu dieser Gattung nicht gänzlich der Vergessenheit anheimfallen zu lassen.

Wolfgang Eggerking, 2009

 

In Fragen des Aufführungsmaterials wenden Sie sich bitte an den Verlag. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

Sergey Mikhaylovich Lyapunov
(b. Yaroslavl, 30 November 1859 - d. Paris, 8 November 1924)

Violin Concerto in D minor
op. 61 (1915-21)

Preface
Nowadays those seeking further information on lesser-known composers need not ne-cessarily visit a library; the electronic media usually provide a quick and convenient alternative. But anyone who types the name of the Russian composer Lyapunov into the standard search engines will be suddenly confronted with differential equations and probability theories. True, the seeker will have found his way into the right fami-ly. But the composer Sergey Lyapunov was later eclipsed in fame and longevity even within his own family, namely, by his brother Alexander, a successful mathematician and physicist two years his senior.

Sergey Lyapunov was born in Yaroslavl in 1859. His father Mikhail was an astronomer and physicist who headed the neighboring observatory, thus paving the way for the professional career of his first-born son Alexander. Sergey’s mother, Sofia, was a pianist who probably influenced the choice of profession of the other two brothers, Sergey and Boris. Following his father’s untimely death, Sergey’s mother moved with her three sons to Nizhniy-Novgorod in 1870. This was the birthplace of Mily Balakirev, who was to become another lodestone in Lyapunov’s life, although it was probably only much later that the two men actually met.

Sergey attended the local high school and a class at the Russian Music Society in which he could continue the musical, and especially pianistic training he had begun with his mother. In 1878, at the suggestion of Nikolai Rubinstein, he switched to Moscow Conservatory, where he received solid instruction at the piano and attended several composition classes, including Tchaikovsky’s last class before he left the faculty. The composition teacher with the greatest influence on the young Lyapunov was probably Sergey Taneyev.

In 1883 Lyapunov passed his examinations in piano and composition with distinction. In the same year he made the personal acquaintance of Balakirev, whose music he had already been studying for years. Two years later he moved permanently to St. Petersburg and wholeheartedly joined Balakirev’s circle. Balakirev, though a good and ingratiating teacher and mentor, had a thoroughly domineering personality. Nevertheless, unlike virtually all the other disciples, Lyapunov maintained a lifelong friendship with his patron – a remarkable circumstance considering Balakirev’s frequently gruff manner towards other people. But this friendship came at a price: Balakirev’s heavy influence virtually stalled the emergence of a personal style of composition in his followers. Nor was Lyapunov particularly ambitious in this respect. Thus, his music frequently leaves the listener with an impression of plagiarism or imitation – an impression also voiced by his fellow-composers with overtones of disapproval.

For Lyapunov himself, this did not at first pose a problem, for rather than limiting his musical activities to composition he kept them broad and many-sided. His brilliant technique made him a much sought-after pianist. He also held leading positions at se-veral educational institutions, including the Free School of Music founded by Balakirev (1908-11). Lastly, he was active in musicology, co-editing the works of Glinka, collecting folk songs, orchestrating incomplete works left behind by Russian composers, and publishing Balakirev’s correspondence with Tchaikovsky and Rimsky-Korsakov.

Balakirev’s death in 1910 initiated a gradual change in Lyapunov’s music that may be interpreted as uncertainty or a lack of direction. The number of his “compositional models” expanded to include musicians outside the Balakirev circle, but his already slender body of music was seldom augmented by large-scale symphonic works, and of those many never reached publication. His appearances as pianist and conductor became more frequent than ever before. From 1910 to 1917 he held a professorship in piano and theory at St. Petersburg Conservatory, and from 1919 he taught at the city’s newly founded Institute of Art History. But his working conditions became diffi-cult in every respect following the Russian Revolution, and in 1923 he left the Soviet Union and relocated to Paris, where he founded a music school for Russian émigrés. His period of activity in Paris was unfortunately cut short by his death in 1924 from the effects of a heart attack.

Lyapunov left behind a rather slender oeuvre limited to relatively few genres. The bulk of his music is made up of songs and piano pieces, besides which we also find a few orchestral works, including two symphonies, two piano concertos, and a violin concerto.

The Violin Concerto was composed in 1915 under the influence of the violinist Johannes Nalbandyan, a pupil and later assistant of Leopold Auer at St. Petersburg Conservatory. For Lyapunov, who was by nature a pianist, the violin was terra incognita, and it comes as no surprise to learn that his concerto very closely resembles Glazunov’s Violin Concerto of 1904 in its mood, form, and handling of the solo part. Both concertos are through-composed but reveal an underlying three-movement form, with the slow middle movement incorporated into the first. Each has a broadly conceived cadenza before the beginning of the finale. Further, each is dedicated to a violinist who surely advised its composer in the technical and timbral handling of the solo part – Auer in the case of Glazunov, and Nalbandyan for Lyapunov. Both works clearly evince that they stem from the same violin class at the Conservatory.

Lyapunov’s Violin Concerto was premièred by Nalbandyan at the Conservatory in 1916, albeit with piano accompaniment. The orchestration was not completed until 1921, and the work remained unpublished during the composer’s lifetime. Evidently it was publicly performed several times thereafter from manuscript by violinists of the St. Petersburg school, e.g. by Jascha Heifetz in Carnegie Hall (1930), again with piano accompaniment. The first known orchestral performance did not take place until 19 December 1944, when it was played by the young Yulian Sitkovetsky, who also made what is today the only available CD recording (dated 1946!). The orchestra was conducted by Vladimir Degtyarenko.

In 1946 the musicologist and violinist I. Yampolskiy published an article on the Violin Concerto. That same year a piano reduction with solo part was issued by the Russian State Music Publishing House, edited by Yampolskiy. The complete orchestral score did not appear until 1964, when it was issued by the same publishers.

Following the Heifetz performance of 1930, one reviewer wrote that the concerto was perhaps more ingratiating to play than to listen to. Even if this were the case, the appealing comparison with Glazunov’s concerto may be sufficient justification for preventing Lyapunov’s contribution to the genre from falling completely into oblivion.

Translation: Bradford Robinson

 

For performance material please contact the publishing house. Reprint of a copy from the Musik-abteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.