Milij Balakirev
(geb. Nishnij-Novgorod, 21. Dezember 1836/2. Januar 1837 — gest. St. Petersburg, 29. Mai 1910)

Ouvertüre über drei russische Themen
(1858/rev. 1881)

Vorwort
Milij Balakirev war der Anführer der russisch-nationalen Kompositions-‘Schule’. 1855 begann er mit der Komposition seines I. Klavierkonzerts. 1856 trat er in St. Petersburg am Klavier mit dem Kopfsatz jenes Werkes erstmals als Komponist an die Öffentlichkeit. Am 2. Januar 1859 wurde in Moskau seine (I.) Ouverture über drei russische Themen uraufgeführt, am 27. November 1859 in St. Petersburg seine »König Lear«-Ouverture. 1860 reiste Balakirev ans Kaspische Meer und sammelte Volksweisen. 1861 begann er mit der Arbeit an seinem II. Klavierkonzert, die er jedoch abbrach (erst nach seinem Tode vollendete sein engster Schüler Sergej Liapunov [1859-1924] das Werk). 1863 scharte er um sich einen legendären Kreis von Musikern, den er mit seinen Ideen stimulierte, eine eigenständige russische Kunstmusik zu schaffen, die sich gegen die deutsche Stilherrschaft abhob. Zu jener Zeit gründete er auch die Freie Musikschule in St. Petersburg. 1866 reiste er nach Prag, wo er im folgenden Jahr Michail Glinkas Opern Ruslan und Ludmilla und Ein Leben für den Zaren dirigierte. Am 24. Mai 1867 veranstaltete er mit tschechischen Musikern in St. Petersburg ein Programm mit Werken der jüngeren Russen Alexander Borodin (1833-87), César Cui (1835-1918), Modest Mussorgsky (1839-81), Nikolai Rimsky-Korssakov (1844-1908) und aus seiner eigenen Feder, worauf der führende Kritiker Vladimir Stasov (1824-1906) einen Artikel schrieb, in welchem er die Bezeichnung vom “Mächtigen Häuflein” (mogutchaya kutchka) einführte, als welche die Gruppe national-russisch gesinnter Komponisten um Balakirev (heute auch als “die mächtigen Fünf” bekannt) in die Geschichte eingehen sollte. Während seiner Kaukasus-Reisen begeisterte sich Balakirev für die orientalische Melodik und Rhythmik, die er nun in seinen Werken nachahmte, womit er auf viele seiner Kollegen starken Einfluss ausübte (so Rimsky-Korssakov mit Scheherazade oder Antar und Borodin mit der Steppenskizze aus Mittelasien). Das berühmteste Stück jener Art von seiner Hand wurde die 1869 entstandene Fantasie orientale für Klavier solo mit dem Titel »Islamey«. Allmählich verlangsamte sich Balakirevs Schaffenstempo beträchtlich, und er hatte große Schwierigkeiten mit der Vollendung der in Angriff genommenen Werke. Ab 1872 wirkte er in verschiedenen administrativen Positionen, um erst ab 1881 wieder offenkundig im Musikleben tätig zu werden. Am 29. März 1882 dirigierte er in St. Petersburg die I. Symphonie des blutjungen, hochbegabten Alexander Glasunov (1865-1936) und machte sich zunehmend an die Revision früherer eigener Werke (so überarbeitete er 1882 seine am 18. April 1864 uraufgeführte II. Ouverture über russische Themen und verlieh ihr den neuen Titel Russia). Er vollendete die von kaukasischen Weisen inspirierte und Franz Liszt gewidmete symphonische Dichtung Tamara, sein vielleicht bedeutendstes Orchesterwerk, dessen Uraufführung er am 19. März 1883 in St. Petersburg leitete. 1883 wurde er Musikdirektor der Kaiserlichen Kapelle (bis 1894). Zwischen ihm und seinem langjährigen Schüler, Freund und Mitstreiter Rimsky-Korssakov kam es 1886 zur Entfremdung und 1890 zu offener Feindschaft, was Rimsky-Korssakov für viele Jahre nicht davon abhielt, weiterhin Musik Balakirevs in seinen Konzerten zur Aufführung zu bringen. Von 1900 bis 1908 schrieb Balakirev an seiner II. Symphonie d-moll, die am 10. (23.) April 1909 in einem Konzert der Freien Musikschule in St. Petersburg unter Sergej Liapunovs Leitung zur Uraufführung kam.

Der 21-jährige Balakirev hatte sich nicht nur als Komponist bereits einen herausragenden Ruf erworben, sondern auch als Pianist. So spielte er im Februar 1858 in einem Konzert der St. Petersburger Konzertgesellschaft mit überwältigendem Erfolg in Gegenwart des Zaren und seiner Familie Ludwig van Beethovens Fünftes Klavierkonzert, gegen ein nicht zu verachtendes Honorar von 100 Rubel. Nachdem er in der ersten Jahreshälfte 1857 mit der Ouverture über ein spanisches Marschthema sein (abgesehen von einer Polonaise-Fantaisie zu Gogols Taras Bulba, die er später in der 1909 abgeschlossenen Suite für Klavierduett wiederverwendete) erstes Orchesterwerk komponiert hatte, ließ er nun ein zweites folgen, in welchem er sich bereits auf voller Höhe eigentümlicher Inspiration und handwerklicher Meisterschaft zeigt: die am 19. September (1. Oktober) 1857 in St. Petersburg begonnene Ouverture über drei russische Themen (eigentlich Ouverture über die Themen von drei russischen Liedern), die er, im April und Mai unterbrochen von einer lebensbedrohenden Erkrankung, am 26 Juni (8. Juli) 1858 in Ludmila Schestakovas Datscha in Zamanilovka vollenden konnte. Die Dmitrij Stassov (1828-1918), dem bewährten Freund und einflussreichen Mitbegründer der Russischen Musikgesellschaft, gewidmete Ouverture über drei russische Themen gelangte am 21. Dezember 1858 (2. Januar 1859) in einem Moskauer Universitätskonzert zur Uraufführung.

Die Ouverture ist von einer frappierenden Frische, Originalität und kompakten Stimmigkeit der Form, in allen Details bestechend klar ausgeführt und brillant orchestriert, auch im kontrapunktischen Geschick imponierend. Das offensichtliche Vorbild mag Michail Glinkas Kamarinskaya. Fantasie über zwei russische Volkslieder gewesen sein, doch unterscheidet sich Balakirevs Ouverture in ihrer Form grundsätzlich von diesem Pionierwerk in der Hinzufügung eines weiteren Themas für die langsamen Rahmenabschnitte. Einem kurzen Allegro-Eingangsstatement (in der Manier des-jenigen aus Hector Berlioz’ Ouverture Le Carnaval Romain) folgt eine Andante- Einleitung, die das erste der drei russischen Liedthemen (‚Die silberne Birke’) vorstellt. Dann folgt übergangslos der Allegro moderato-Hauptsatz, der zunächst die zwei weiteren Themen einführt (Themen, die später in vereinfachter Form, das eine – ‚Im Felde stand ein kleiner Birkenbaum’ – im Finale von Tschaikowskys Vierter Symphonie, das andere – ‚Da war auf dem Fest…’ – in betont vulgärer Weise in Strawinskys epochalem Fastnachtsjahrmarkt-Ballett Petrouchka, in noch weit populäreren Werken zum Einsatz gebracht werden sollten) und gegeneinander durchführt. Das Werk schließt nobel im Andante-Tempo der Einleitung, wie Balakirev dies später auf zauberhafte Weise auch in seiner großen Tondichtung Tamara tun sollte. In der Ouverture über drei russische Themen entfaltet Balakirev eindrücklich das Panorama seines künftigen Stils. 1863 vollendete er ein Werk, das ursprünglich eine viersätzige ‚Russische Symphonie’ hatte werden sollen, das er 1864 aber als seine Zweite Ouverture über russische Themen in die Öffentlichkeit brachte, 1869 mit dem auf die Tausendjahrfeiern Russlands bezogenen Titel Musikalisches Bild. 1000 Jahre im Druck erscheinen ließ, um es ab 1884 nach einer grundlegenden Revision und Reorchestrierung endgültig als Tondichtung Russland in seinem Werkkatalog zu führen (auch Tamara hatte ursprünglich einen anderen ‚Arbeitstitel: Lezghinka, und die Tondichtung In Böhmen firmierte zunächst in den Kreisen der Freunde als Tschechische Ouverture). Drei Jahre zuvor schon, 1881, hatte Balakirev die (erste) Ouverture über drei russische Themen einer gründlichen Revision und Reorchestration unterzogen. In dieser Fassung wurde die Ouverture 1882 von Jurgenson (dem in Moskau ansässigen Verlagshaus des durch die unerschütterliche Zusammenarbeit mit Pjotr Tschaikowsky legendär gewordenen Petr Jurgenson [1836-1904]) gedruckt und wird hiermit in unveränderter Form im Studienformat zugänglich gemacht.

Christoph Schlüren, Oktober 2009.

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Jurgenson (www.p-jurgenson.com) zu beziehen.

Mily Balakirev
(b. Nizhny-Novgorod, 21 December 1836/2 January 1837 — d. St. Petersburg, 29 May 1910)

Overture on the Themes of Three Russian Songs
(1868, rev. 1881)

Preface
Mily Balakirev was the leader of Russia’s national “school” of composition. He started work on his First Piano Concerto in 1855 and gave his public début as a composer by playing its first movement in St. Petersburg the following year. On 2 January 1859 his (first) Overture on the Themes of Three Russian Songs was premièred in Moscow, followed by his “King Lear” Overture in St. Petersburg on 27 November 1859. In 1860 he traveled to the Caspian Sea to collect folk songs. The following year he embarked on his Second Piano Concerto, only to leave it unfinished (the work was completed after his death by his closest pupil, Sergey Lyapunov [1859-1924]). In 1863 he gathered together a legendary circle of musicians, stimulating them with his ideas to create an independent Russian species of art music in opposition to the prevailing German style. It was at this time that he also founded the Free Music School in St. Petersburg. In 1866 he traveled to Prague, where he conducted Mikhail Glinka’s operas Ruslan and Ludmilla and A Life for the Tsar the following year. On 24 May 1867, using Czech musicians, he mounted a program of young Russian composers in St. Petersburg, including works by Alexander Borodin (1833-1887), César Cui (1835-1918), Modest Mussorgsky (1839-1881), Nikolai Rimsky-Korsakov (1844-1908), and himself. The concert prompted the leading critic Vladimir Stasov (1824-1906) to write an article in which he introduced the term “Mighty Handful” (moguchaya kuchka), the label by which this group of nationally-minded Russian composers centered on Balakirev would go down in history (today they are also known as the “Mighty Five”). During his travels in the Caucasus Balakirev took a keen interest in Oriental melodies and rhythms, which he proceeded to imitate in his own music, thereby heavily influencing many of his fellow composers (such as Rimsky-Korsakov in Scheherazade and Antar or Borodin in In the Steppes of Central Asia). The most famous piece of this sort from Balakirev’s pen was his “oriental fantasy” Islamey of 1869 for solo piano. Gradually Balakirev’s pace slowed down considerably, and he had great difficulty completing the works he had started. Beginning in 1872 he worked in various administrative positions. It was not until 1881 that he again became musically active in the public arena. He conducted the First Symphony by the adolescent genius Alexander Glazunov (1865-1936) in St. Petersburg on 29 March 1882 and increasingly set about revising his earlier works. In 1882, for example, he reworked his Second Overture on Russian Themes, renaming it Russia and premièring the work on 18 April 1864. He completed what is perhaps his most significant orchestral work, the symphonic poem Tamara, inspired by Caucasian melodies and dedicated to Franz Liszt, and conducted its première in St. Petersburg on 19 March 1883. That same year he became music director of the Imperial Chapel, a post he retained until 1894. In 1886 he fell out with his long-term pupil, friend, and comrade-in-arms Rimsky-Korsakov, an estrangement that developed into undisguised enmity in 1890. Still, for many years this did not prevent Rimsky-Korsakov from continuing to perform Balakirev’s music in his concerts. From 1900 to 1908 Balakirev worked on his Second Symphony in D minor, which was premièred at the Free Music School, St. Petersburg, on 10 (23) April 1909 under the baton of Sergey Lyapunov.

By the age of twenty-one Balakirev had acquired an outstanding reputation not only as a composer but as a pianist. In February 1858, for example, he played Beethoven’s Fifth Piano Concerto with stunning success at a concert of the St. Petersburg Concert Society in the presence of the Tsar and his family, earning a not unappreciable fee of one-hundred rubles. Having completed his first orchestral work, Overture on a Spanish March, in the first half of 1857 (it was preceded only by a Polonaise-Fantaisie on Gogol’s Taras Bulba that he later reused in the suite for piano duet, completed in 1909), he now followed it with a second orchestral work that revealed him at the pinnacle of willful inspiration and masterly craftsmanship: the Overture on the Themes of Three Russian Folk Songs, begun in St. Petersburg on 19 September (1 October) 1857 and completed on 26 June (8 July) 1858 in Ludmila Shestakova’s dacha in Zamanilovka, after an interruption in April and May to recover from a grave illness. The work is dedicated to Dmitri Stasov (1828-1918), his trusty friend and an influential co-founder of the Russian Musical Society, and was premièred at a Moscow University concert on 21 December 1858 (2 January 1859).

The Overture has a striking freshness, originality, and terse formal rigor; it is executed with winning lucidity in every detail, brilliantly orchestrated, and even impressive in its command of counterpoint. The obvious model may well have been Glinka’s Kamarinskaya: Fantasy on Two Russian Folk Songs, but it differs from that groundbreaking work in the addition of another theme for the slow outside sections. A brief opening allegro flourish (in the manner of Hector Berlioz’s Roman Carnival Overture) is followed by an andante introduction that presents the first of the three Russian themes (The Silvery Birch). This leads seamlessly to the main thematic group, marked Allegro moderato, which begins by introducing the other two themes and subjects them to contrasting development. (These two themes – “A small birch tree stood in the field” and “There was at the feast…” would later reappear in simplified form in far more popular works, the former in the finale of Tchaikovsky’s Fourth Symphony, the latter, heavily vulgarized, in Stravinsky’s epic-making Shrovetide ballet Petrushka.) The overture ends nobly in the andante tempo of the introduction, just as Balakirev would later do to magical effect in his great tone painting Tamara. The Overture on the Themes of Three Russian Folk Songs impressively unveils the panorama of his future style.

In 1863 Balakirev completed a work originally intended to become a four-movement “Russian Symphony.” He presented it to the public in 1864 as his Second Overture on Russian Themes and published it in 1869 with the title “Musical Picture: One-Thousand Years” in reference to Russia’s millennial celebrations. Finally, beginning in 1884, he subjected the work to thorough revision and reorchestration and entered it in his catalogue of works as Russia. (Similarly, Tamara originally had a different “working title” – Lezghinka – and the tone poem In Bohemia was initially known among his circle of friends as Czech Overture.) Three years earlier, in 1881, Balakirev had also thoroughly revised and reorchestrated the (first) Overture on the Themes of Three Russian Folk Songs. It was in this form that the overture was published in 1882 by the Moscow-based publishing house run of Petr Jurgenson [1836-1904], who achieved legendary fame for his unflinching support of Tchaikovsky. Our study score is a faithful reproduction of the Jurgenson print.

Translation: J. Bradford Robinson

 

 

For performance materials please contact the publisher Jurgenson (www.p-jurgenson.com ).