Charles-Marie Widor
(geb. Lyon, 21. Februar 1844 — gest. Paris, 12. März 1937)
Choral et Variations pour Harpe et Orchestre op. 74
Vorwort
Der Begriff „Choral“ scheint nicht ungewöhnlich zu sein, wenn von
Charles-Marie Widor die Rede ist. Immerhin ist er bis heute als
Orgelvirtuose und Komponist von Orgelmusik bekannt, und damit verbindet
man unter anderem Choralmelodien und -variationen. Ungewöhnlich
hingegen scheint die Tatsache zu sein, dass es sich hierbei nicht
um Orgelmusik handelt. Offensichtlich gilt es, den Komponisten
Widor, der viel zu lange auf die Orgel festgelegt wurde, in seiner
Vielfalt neu zu entdecken.
Charles-Marie Widor
Am 21. Februar 1844 wurde Charles-Marie-Jean-Albert Widor in Lyon
in eine musikalisch renommierte Familie hineingeboren und erhielt
von seinem Vater den ersten Orgelunterricht. Früh zeigte sich seine
außergewöhnliche musikalische Begabung, so dass er auf Empfehlung
des berühmten Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll in Brüssel vom
renommierten Organisten Jacques-Nicolas Lemmens im Orgelspiel und
François-Joseph Fétis in Kontrapunkt, Fuge und Komposition ausgebildet
wurde. 1870 erfolgte Widors Ernennung zum Titular-Organisten der
Pariser Kirche Saint-Sulpice — eine Position, die er schließlich
64 Jahre lang innehatte. Außerdem war er auch als Pianist und Dirigent
tätig, als Professor am Pariser Konservatorium (1890 übernahm er
die Orgelklasse, 1896 die Kompositionsklasse) und in vielen anderen
Bereichen des französischen Musiklebens. Daneben schrieb er Musik
von nahezu allen musikalische Gattungen: Klavier- und Kammermusik,
Opern, Ballette, Schauspielmusiken und profilierte Orchesterwerke
symphonischer und konzertanter Schreibweise. Seine Orgelmusik —
so bedeutend sie auch ist — bildet keineswegs den größten Teil
seines Oeuvres. Auch als Musikkritiker und Essayist war er übrigens
tätig, wodurch eine ganze Reihe seiner Gedanken zur Musik überliefert
sind. Seine 1904 veröffentlichte Revision des Traité d’instrumentation
von Hector Berlioz unter dem Titel Technique de l’Orchestre moderne
wurde für französische Komponisten zum Standard.
Widors Musiksprache blieb bis zu seinem Tod der spätromantischen
Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Daher galt er nach 1900
mehr und mehr als konservativ und wurde zu einer lebenden Legende
mit einer langen Liste von Ehrungen. Er verstarb am 12. März 1937
mit 93 Jahren.
Choral et Variations pour Harpe et Orchestre, op. 74
Die Harfe, die im 18. Jahrhundert Eingang ins Opernorchester gefunden
hatte, bekam in der Romantik zuerst in den Partituren symphonischer
Dichtungen einen Platz und wurde erst im späten 19. Jahrhundert
auch in die Gattung Symphonie integriert. In konzertanten Werken
jedoch ist sie selten geblieben. Es existieren nur wenige große
Werke für Harfe und Orchester (darunter die Harfenkonzerte von
C. Saint-Saens, C. Reinecke und R. Gliere). Schon deshalb ist dieses
Werk Widors etwas Besonderes.
Zu den Persönlichkeiten, die die Geschichte des Harfenspiels entscheidend
beeinflusst haben, gehört der Harfenist Alphonse Hasselmans (1845
– 1912). Er war Virtuose und seit 1884 bis zu seinem Lebensende Professor
für Harfe am Pariser Konservatorium — und damit viele Jahre Widors
Kollege. Choral et Variations ist Hasselmans gewidmet und dieser
spielte denn auch den Solopart bei der Uraufführung am 12. März 1900
im Salle Erard. Die Kritik sprach daraufhin von einem sehr großen
Erfolg und lobte den zauberhaften, eleganten Charme der Komposition
sowie den gut konzipierten Dialog zwischen Harfe und Orchester. Auch
30 Jahre später waren die Kritiken immer noch enthusiastisch.
Die Verwendung einer Choralmelodie in einem Instrumentalwerk (sowohl
für Orgel als auch für Orchester) ist bei Widor übrigens kein Einzelfall
sondern ein Stilmittel, das er sich in seiner reifen Zeit angeeignet
hat. Choral et Variations gehört in eine Reihe von Kompositionen
Widors, die alle auf gregorianische Choräle aufgebaut sind: Symphonie
gothique (1895), Symphonie romane (1900), Sinfonia Sacra (1907),
Symphonie antique (1911) und Suite latine (1927). Der Einsatz von
solchen Chorälen ist zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die kirchenmusikalische
Situation des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Frankreich zurückzuführen.
Die Bestrebungen um eine Rückbesinnung auf musikalische Traditionen
auf der Grundlage des gregorianischen Gesanges fanden ihren Ausdruck
auch in musikhistorischen Forschungen, an denen Widor reges Interesse
fand.
Widor wählte für sein virtuoses Werk nicht die Form eines traditionellen
dreisätzigen Solo-Konzerts. Es handelt sich aber auch nicht um einen
einfachen Variationszyklus, sondern um freie Variationen, die in
einem einzigen Satz von 361 Takten zusammengefasst sind. Beginnend
mit eine Soloflöte exponiert ein zarter Satz von Holzbläsern und
Streichern die Choralmelodie. Melodische und harmonische Wendungen
sowie ein Geflecht von polyphonen Linien geben dem ganzen einen archaischen
Charakter. Die Harfe nimmt das Thema im Unisono auf und es entsteht
ein abwechslungsreiches Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester.
Dann löst sich die Harfenstimme immer mehr in Figurationen, Skalen
und Arpeggien auf, was zu einer großen Steigerung und schließlichem
Höhepunkt mit nachfolgender Solo-Kadenz der Harfe führt (Takte 110
– 132). Der nächste Teil bringt eine symphonisch anmutende Verarbeitung
des Kopfmotivs. Scherzohafte Elemente sind in den darauffolgenden
Variationen enthalten. Das Werk findet seinen Abschluss in einer
energischen Apotheose in Fis-Dur. Die Konzeption beinhaltet also
nicht eine einfache Variationsreihe sondern ist teilweise nach symphonischen
Vorbild gestaltet.
Daniel Barbarello, 2009
Aufführungsmaterial ist bei Heugel, Paris erhältlich.
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Charles-Marie Widor
(b. Lyon, 21 February 1844 — d. Paris, 12 March 1937)
Choral et Variations pour Harpe et Orchestre
op. 74
Preface
The term “chorale” is never far away when conversation turns to Charles-Marie
Widor. He is, after all, known today as an organ virtuoso and a
composer of organ music, which naturally conjures up associations
with hymn tunes and chorale variations. What seems unusual, however,
is the fact that the present work is not a piece of organ music.
Quite obviously Widor the composer has been consigned to the organ
far too long and must be rediscovered in his full breadth and variety.
Charles‑Marie Widor
Charles‑Marie‑Jean‑Albert Widor was born on 21 February 1844 in Lyons
to a musically renowned family and received his earliest organ
lessons from his father. His extraordinary talent soon became evident,
and in 1863, at the recommendation of the famous organ builder
Aristide Cavaillé‑Coll, he was sent to Brussels to study with the
celebrated organist Jacques‑Nicolas Lemmens and to learn counterpoint,
fugue, and composition from François‑Joseph Fétis. In 1870 he was
appointed titular organist at the Church of Saint‑Sulpice in Paris
‑ a position he would hold for a total of sixty‑four years. By
the turn of the century Widor had written a large number of compositions
in almost every musical genre: orchestral works, chamber music,
organ works, piano pieces, operas, ballets, incidental music, and
sacred works. Around 1880 he took up a secondary career as a music
critic and essayist, thereby leaving behind a large number of his
thoughts on music. He took over the organ class at the Paris Conservatoire
in 1890 and the composition class in 1896. His prowess as an orchestrator
is amply demonstrated not only by his own works but by his revised
version of Berlioz’s Traité d’instrumentation, entitled Technique
de l’Orchestre moderne (1904). It became the standard manual for
French composers.
For the whole of his life Widor’s musical language remained beholden
to the nineteenth‑century tradition of late romanticism. As a result,
after the turn of the century, he was increasingly regarded as conservative
and a grand seigneur of French music, a living legend and the recipient
of a long list of awards and distinctions. He died on 12 March 1937
at the age of ninety‑three.
Choral et Variations pour Harpe et Orchestre, op. 74
By the eighteenth century the harp had found its way into the opera
orchestra, and in the Age of Romanticism it entered the scores
of symphonic poems. Only in the late nineteenth century was it
integrated into the symphony, and it has remained a rarity in the
concerto. There are few great works for harp and orchestra, of
which the harp concertos by C. Saint-Saëns, C. Reinecke, and R.
Glière are worthy of mention. For this reason alone Widor’s Choral
et Variations is something special.
One of the figures who had a formative impact on the history of
harp playing is Alphonse Hasselmans (1845-1912), a harp virtuoso
and, from 1884 until his death, professor of harp at the Paris Conservatoire,
and thus for many years Widor’s colleague. Choral et Variations is
dedicated to Hasselmans, and he played the solo part when the work
was premièred in the Salle Erard on 12 March 1900. The critics spoke
of a huge success, praising the work’s magical and elegant charm
no less than its well-conceived dialogue between harp and orchestra.
Thirty years later the critics were still enthusiastic.
This was, incidentally, not the only time that Widor used a chorale
melody in an instrumental work, whether for organ or for orchestra;
it was a stylistic device that he adopted in his maturity. Choral
et Variations belongs to a series of compositions that Widor built
on Gregorian chant: Symphonie gothique (1895), Symphonie romane (1900),
Sinfonia sacra (1907), Symphonie antique (1911), and Suite latine
(1927). The use of plainchant is perhaps best understood in connection
with the state of French church music in the late nineteenth century.
The efforts to revert to musical traditions based on Gregorian chant
also found expression in musical scholarship, in which Widor took
an avid interest.
For his virtuoso composition Widor rejected the form of a traditional
three-movement concerto, nor is the work a conventional set of variations.
Instead, he wrote free variations, gathering them together in a single
361-bar movement. Beginning with a solo flute, the chorale melody
is stated by a gentle combination of woodwinds and strings, the whole
taking on an archaic character through melodic and harmonic turns
of phrase and a contrapuntal texture. The harp takes the theme in
unison, giving rise to a varied conversation between the soloist
and the orchestra. Then the harp part increasingly dissolves into
figurations, scales, and arpeggios, leading to a grand escalation
and finally to a climax followed by a solo cadenza (mm. 110-32).
The next section develops the head motif in symphonic fashion. Scherzo-like
elements can be heard in the variations that follow, and the work
comes to a conclusion in an energetic F-sharp-major apotheosis. In
short, rather than a standard set of variations, Widor’s op. 74 is
partly modeled along symphonic lines.
Translation: Bradford Robinson
For performance material please contact the publisher Heugel, Paris.
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