Johan Severin Svendsen
(geb. Christiania (Oslo), 30. September 1840 — gest. Kopenhagen, 14. Juni 1911)

Die vier Norwegischen Rhapsodien für Orchester

Erste Norwegische Rhapsodie h-moll op. 17
Andante (p. 3) – Allegro (p. 10) – Andante (p. 26) – Allegro (p. 31 - (p. 58)
Zweite Norwegische Rhapsodie A-Dur op. 19
Allegro (p. 2) – Andantino (p. 15) – Allegro (p. 24) – Molto allegro
Dritte Norwegische Rhapsodie C-Dur op. 21
Allegro molto (p. 1) – Allegro moderato (p. 2) – Tempo primo (p. 24) – Andante (p. 27) – Allegro (p. 36)
Vierte Norwegische Rhapsodie d-moll op. 22
Andante (p. 3) – Allegro moderato (p. 8) – Allegretto quasi moderato (p. 33) – Andante (p. 48) – Allegro (p. 55) – Presto (p. 66)

 

Vorwort
In den skandinavischen Ländern ist die Geschichte bekannt, im Rest der Welt weniger. Ein Schicksalsschlag des Komponisten Johan Severin Svendsen diente Henrik Ibsen in Hedda Gabler als Vorbild zu einer der dramatischsten Begebenheiten in seinem Bühnenwerk. Svendsen hatte, mutmaßlich im Winter 1882-83, seine Dritte Symphonie vollendet. Er war als großer Dirigent und weltmännisch offener, liebenswürdiger Grandseigneur von der Damenwelt unschwärmt, was seine Gattin Sally in die Defensive brachte. Eines Tages erhielt er von einer der umworbensten Schönhei-ten Oslos ein Blumenbouquet mit einem Liebesbrief, das in Sallys Hände fiel. In rasender Eifersucht nahm sie das frische Manuskript der Dritten Symphonie und warf es ins Feuer. Svendsen war zutiefst verzweifelt. Er behielt zwar auch in dieser Situation die Contenance, doch verstummte er von da an – mit 42 Jahren – als Komponist und schrieb in den verbleibenden 28 Jahren nur noch ein paar kleinere, recht unbedeutende Gelegenheitsstücke. Die berühmte Violinromanze op. 26 (vollendet 1881) und die Orchester-Polonaise op. 28 (vollendet 1882) sind somit seine letzten zwei maßstabsetzenden Kompositionen geblieben.

Im Lichte dieser Entwicklung sind die hier vorliegenden Norwegischen Rhapsodien ‚Spätwerke’, jedenfalls Produkte der Reifezeit. Allerdings muss man bei ihm – wie beispielsweise auch, in anderer Schattierung, bei anderen frühreifen Komponisten wie Mendelssohn, Bizet oder Eugene Goossens – sehen, dass er von seinen ersten Werken an im vollen Glanz vollendeten Könnens strahlt und – bei allen Verwand-lungen – von den ersten zu den letzten Werken keine Entwicklung zu höherer Ver-vollkommnung festzustellen sein wird.

1874 hatte Svendsen seine Zweite Symphonie op. 15 und den Norwegischen Künstlerkarneval op. 14 geschrieben und damit seinen Rang als der – gemeinsam mit Edvard Grieg – führende norwegische Komponist unterstrichen. Die vier Norwe-gischen Rhapsodien sind 1876-77 entstanden (außerdem vollendete er 1876 auch die Orchesterfantasie Romeo und Julia op. 18). Sie sind in ihrer Form zweifellos von den Ungarischen Rhapsodien Franz Liszts inspiriert, mit denen Svendsen als Dirigent vertraut war. Doch war er anscheinend der erste, der in seinen Rhapsodien originale Volkslied- und Volkstanzmelodien verwendete – es handelt um 17 Originalmelodien, von denen 15 aus der damals in zwei Volumen veröffentlichten Sammlung Ältere und neuere Melodien aus den norwegischen Bergen von Ludvig Mathias Lindeman (1812-87) stammten – in den bewegteren Abschnitten Tanzmelodien (Hallings und Springars), in den lyrischeren, breiteren Abschnitten Volksballaden. Von diesen 17 Melodien hatten zuvor bereits Halfdan Kjerulf (1815-68) sechs und Edvard Grieg (1843-1907) vier für Klavier gesetzt, und später verwendete Grieg drei dieser Melodien in den Norwegischen Tänzen, der Altnorwegischen Melodie mit Variationen und den Symphonischen Tänzen.

Svendsen ging mit den überlieferten Weisen frei um und scheute nirgendwo Änderungen, wenn sie der symphonischen Verarbeitung dienten, wobei er stets den ur-sprünglichen, frischen Charakter bewahrte und unterstrich.

Die Erste Rhapsodie beendete Svendsen am 10. Februar 1876 in Oslo, wo sie am 25 September 1876 erstmals erklang. Sie ist Ludvig M. Lindeman gewidmet und enthält die folgenden Volksweisen: in der langsamen Einleitung eine Ballade aus Henrik Wergelands musikalischer Komödie Fjeldstuen (1845) mit dem Titel Air norvégien; im darauffolgenden Allegro eine Halling (Nr. 8 aus Lindemans Sammlung: L 8). Im darauffolgenden Andante das Lied Astri, mein Astri (Lindeman L 77), welches nach der Reprise der Halling in der Coda machtvoll wiederkehrt.

Die Zweite Rhapsodie, 1876 in Oslo entstanden, ist ihrer komprimierten symphonischen Architektur wegen seit jeher von Kennern besonders bewundert worden. Es ist nicht sicher, wann sie uraufgeführt wurde, möglicherweise jedoch erst 1880 in München. Gewidmet ist sie Ole Bull (1810-80), dessen Besuch der Seter für Violine und Orchester von 1849 in der Verwendung von folkloristischem und volksliedhaftem Material ein wichtiger Vorläufer von Svendsens Rhapsodien war. Die folgenden von Lindeman aufgezeichneten Volksweisen sind integriert: zunächst der zweite Abschnitt der Halling Elland und die Märchenjungfer (L 71); dann im Andantino die Ballade Sjugur und die Trollbraut (L 22; die Melodie, die später bei Grieg die Grundlage der Altnorwegischen Melodie mit Variationen op. 51 bilden sollte); im folgenden A-B-A-Scherzino im ‚Scherzo’- wie im ‚Trio’-Teil je ein Springar (L 328, E-Dur, und L 386, g-moll). Im vierten Teil wird die erste Halling wieder aufgenommen.

Die Dritte Rhapsodie, gleichfalls 1876 in Oslo komponiert, kam im Januar 1879 in Paris zur Uraufführung und ist Edvard Grieg gewidmet. Sie beginnt mit einem Springar (L 464) als Hauptthema, gefolgt von einem anderen Springar in e-moll (L 194) als Seitenthema, worauf der erste wiederkehrt. Der breitere Mittelteil lässt in seiner feinen Chromatik deutlich die fünf Jahre später entstandene Violinromanze vorausahnen, worauf die Ballade Aasmund Fregdegjœvar (L 42) intoniert wird. Im schnellen Schlussteil ertönen die Volksweisen Ho Guro (L 250) und Der Sheriff hatte eine Apfelschimmelstute (L 516).

Die Vierte Rhapsodie schrieb Svendsen 1877 in Oslo und Rom; das Manuskript trägt das Vollendungsdatum Rom, 10. Dezember 1877. Sie erklang erstmals am 1. Februar 1879 in Paris und ist Karl Hals (1822-98) gewidmet, dem musikbegeisterten Geschäfts-mann und konservativen Politiker, aber auch gelernten Klavierbauer und ab 1879 Schwiegervater des Komponisten und Organisten Ole Olsen (1850-1927). Nach der d-moll-Einleitung, deren melodisches Material im dritten Abschnitt zur Entfaltung gebracht wird, erklingt in D-Dur der Volkstanz für Hardangerfiedel Hildalshalling (nicht bei Lindeman, jedoch etwas ausführlicher in Kjerulfs ‚25 ausgewählten nordischen Volkstänzen’ zu finden), daraufhin in f-moll die Volksweise Letzten Samstagabend (L 303). Im Scherzo-artigen zweiten Teil erscheinen ein Springar (L 463) und Die Frau mit dem Stock (L 25), und im folgenden Andante die Volksweise Der Rückwärtsgesang (L587). Wie in der Zweiten Rhapsodie ist der Schlussteil Reprisecharakter, diesmal jedoch unter Verwendung des Scherzo-Springar.

Alle vier Rhapsodien wurden selbstverständlich unter Svendsens eigener Leitung urauf-geführt, und alle vier sind beim Osloer Verlagshaus Carl Warmuth im Druck erschienen: die ersten drei 1877, die Vierte 1878. Die Warmuth-Drucke wurden von Wilhelm Hansen in Kopenhagen übernommen, wo sie auch im Taschenpartiturfor-mat veröffentlicht wurden. Vorliegende Partitur ist die erstmalige Zusammenfassung der unverändert übernommenen Einzelpartituren der vier Norwegischen Rhapsodien in einem Band.

Christoph Schlüren, Juni 2009

Aufführungsmaterial ist vom Verlag Wilhelm Hansen, Kopenhagen, zu beziehen (www.ewh.dk).


Johan Severin Svendsen
(b. Christiania [Oslo], 30 September 1840 — d. Copenhagen, 14 June 1911)

The Four Norwegian Rhapsodies for Orchestra

First Norwegian Rhapsody in B minor, op. 17
Andante (p. 3) – Allegro (p. 10) – Andante (p. 26) – Allegro (p. 31) - (p. 58)
Second Norwegian Rhapsody in A major, op. 19
Allegro (p. 2) – Andantino (p. 15) – Allegro (p. 24) – Molto allegro
Third Norwegian Rhapsody in C major, op. 21
Allegro molto (p. 1) – Allegro moderato (p. 2) – Tempo primo (p. 24) – Andante (p. 27) – Allegro (p. 36)
Fourth Norwegian Rhapsody in D minor, op. 22
Andante (p. 3) – Allegro moderato (p. 8) – Allegretto quasi moderato (p. 33) –
Andante (p. 48) – Allegro (p. 55) – Presto (p. 66)

Preface
The story is well-known in the Scandinavian countries but less so in the world at large: a misfortune that befell the composer Johan Severin Svendsen served Henrik Ibsen as inspiration for the events of his play Hedda Gabler. Svendsen had just completed his Third Symphony, presumably in the winter of 1882-3. A cosmopolitan, open-minded, amiable grand seigneur, this great conductor was a darling of the ladies – a fact that rankled with his wife Sally. One day he received a bouquet from one of Oslo’s most sought-after beauties, accompanied by a love-letter that fell into Sally’s hands. In a jealous rage she seized the freshly written score of the Third Symphony and threw it into the fire. Svendsen was a picture of despair. True, he kept up appearances, but from then on, at the age of forty-two, he fell silent as a composer. In the remaining twenty-eight years of his life he only managed to complete a couple of brief and fairly insignificant pièces d’occasion. The famous Violin Romance, op. 26 (completed in 1881), and the Polonaise for orchestra, op. 38 (completed in 1882), are thus his last two compositions of any stature.

Given this situation, the Norwegian Rhapsodies included in the present volume are “late works,” or at any rate products of his maturity. Nonetheless, as with other precocious composers such as Mendelssohn, Bizet, and Eugene Goossens (albeit in a different vein), even his very earliest works evince all the brilliance of consummate work-manship, and notwithstanding his many metamorphoses we would be hard pressed to find any progress toward greater perfection from his first works to his last.

In 1874 Svendsen wrote his Second Symphony (op. 15) and Norwegian Carnival Overture (op. 14), thereby solidifying his stature alongside Edvard Grieg as Nor-way’s leading composer. The four Norwegian Rhapsodies were composed in 1876-7 (the year 1876 also witnessed the completion of his orchestral fantasy Romeo and Juliet, op. 18). Their form was undoubtedly inspired by Franz Liszt’s Hungarian Rhapsodies, with which Svendsen the conductor was thoroughly au fait. But his rhapsodies were evidently the first to employ genuine folk songs and folk dance melodies. They include seventeen such melodies, of which fifteen stem from the two-volume collection Earlier and More Recent Melodies from the Norwegian Mountains by Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887) – hallings and springars in the fast sections, folk ballads in the more lyrical and broad-breathed sections. Of these seventeen melodies, six had already been arranged for piano by Halfdan Kjerulf (1815-1868) and another four by Edvard Grieg (1843-1907). Later Grieg used three of the melodies in his Norwegian Dances, Old Norwegian Melody with Variations, and Symphonic Dances. Svendsen dealt freely with these traditional tunes and did not hesitate to make changes when it suited his symphonic purposes. But he always preserved and underscored their freshness and originality.

Svendsen finished the First Rhapsody on 10 February 1876 in Oslo, where it was heard for the first time on 25 September 1876. It is dedicated to Ludvig M. Lindeman and contains the following folk tunes: a ballad, entitled Air norvégien, from Henrik Wergeland’s musical comedy Fjeldstuen (1845) in the slow introduction; a halling in the following Allegro (No. 8 from Lindeman’s collection: L 8); and, in the following Andante, the song Astri, mein Astri (Lindeman L 77), which reappears in the coda to powerful effect after the recapitulation of the halling.

The Second Rhapsody was written in Oslo in 1876 and has always been specially admired by connoisseurs for its concise symphonic architecture. The date of its première, though uncertain, may be as late as 1880 in Munich. The piece is dedicated to Ole Bull (1810-1880), whose Et sæterbesøg (“A visit to the mountain pasture”) of 1849 for violin and orchestra was an important forerunner of Svendsen’s rhapsodies in its use of folk and folk-like materials. The piece incorporates the following tunes in Lindeman’s transcriptions: it begins with the second section of the halling Elland and the Fairy-Tale Maid (L 71); then, in the Andantino, comes the ballad Sjugur and the Troll Bride (L 22), whose melody later served as the basis of Grieg’s Old Norwegian Melody with Variations (op. 51); and there is one springar each in the “scherzo” and “trio” sections of the Scherzino (L 328 in E major, and L 386 in G minor). The opening halling recurs in the fourth section.

The Third Rhapsody was likewise composed in Oslo in 1876. It was premièred in Paris in January 1879 and is dedicated to Edvard Grieg. It opens with a springar (L 464) as its main theme, followed by another springar in E minor (L 194) as a second theme, after which the first returns. The broader middle section has a delicate chromaticism that clearly presages the Violin Romance of five years hence and is followed by a statement of the ballad Aasmund Fregdegjœvar (L 42). The fast final section presents the folk tunes Ho Guro (L 250) and The Sheriff has a Dapple-Gray Mare (L 516).
Svendsen wrote the Fourth Rhapsody in Oslo and Rome in 1877; the manuscript gives its date of completion as Rome, 10 December 1877. It was premièred in Paris on 1 February 1879 and bears a dedication to Karl Hals (1822-1898), a musically-minded businessman and conservative politician who was also a trained builder of pianos and, from 1879, the father-in-law of the composer and organist Ole Olsen (1850-1927). After the D-minor introduction, whose melodic material is elaborated in the third section, we hear a folk dance in D major for hardangar fiddle entitled Hildalshalling (Lindeman deest, but included in slightly more detail in Kjerulf’s Twenty-Five Selected Nordic Folk Dances), followed by the folk tune Last Saturday Evening in F minor (L 303). The scherzo-like second section contains a springar (L 463) and The Woman with the Cane (L 25), and the following Andante has the folk tune The Backwards Song (L587). As in the Second Rhapsody, the final section has the character of a recapitulation, this time using the springar from the scherzo.

All four Rhapsodies were, of course, premièred under Svendsen’s baton, and all four were published by the Oslo firm of Carl Warmuth, the first three in 1877, the fourth in 1878. The Warmuth prints were taken over by Wilhelm Hansen in Copenhagen, who also published them in pocket editions. Our edition is the first to include faithful reproductions of all four Norwegian Rhapsodies in a single volume.

Translation: J. Bradford Robinson

For performance materials please contact Wilhelm Hansen, Copenhagen (www.ewh.dk).