Mili Alexejewitsch Balakirew
(b. Nischni-Nowgorod, 2. Januar 1837 - gest. St. Petersburg, 29. Mai 1910)

„In Böhmen“
Symphonische Dichtung (1866-1906)

Vorwort
Die Entstehungsgeschichte der symphonischen Dichtung „In Böhmen“ von Balakirew umfasst insgesamt 40 Jahre (1866-1906), für ein Werk von knapp einer Viertelstunde Dauer ein bemerkenswerter Zeitraum, der nur dann verständlich wird, wenn man nicht nur die ungewöhnlichen Umstände der Entstehung, sondern auch die Biografie des Komponisten näher beleuchtet.

1866 befindet sich Balakirew auf der Höhe seines beruflichen Werdegangs. Vier Jahre zuvor hatte er mit Gawriil Lomakin zusammen in Sankt Petersburg die „Musikalische Freischule“ gegründet, eine Musikschule, an der jeder kostenfrei einen fundierten, national ausgerichteten und - in bewusster Abgrenzung zum eher westlich orientierten Konservatorium - unakademischen Unterricht erhalten konnte. Balakirew, der aus einfachen Verhältnissen stammend sich in seiner Jugend notgedrungen viele musikalische Fähigkeiten autodidaktisch aneignen musste, genießt hohes Ansehen in Bezug auf seine musikpädagogischen Fähigkeiten. Er ist auch eine Art Mentor des sog. „Mächtigen Häufleins“, zu dem außer ihm noch seine fast gleichaltrigen, aber anfangs im Komponieren vergleichsweise unerfahrenen „Schüler“ Rimski-Korsakow, Borodin, Mussorgski und Cui gehören. Zu den Idolen dieses Kreises zählt zweifellos der 1857 verstorbene Komponist Michael Glinka als Schöpfer einer nationalrussischen Musik. Es überrascht daher nicht, dass Balakirew sich im Juni 1866 nicht lange bitten lässt, auf Wunsch der Schwester Glinkas, Ludmilla Schestakowa, nach Prag zu reisen. Im Reisegepäck Balakirews befinden sich Opernpartituren Glinkas, diese soll der rührige Russe in der tschechischen Hauptstadt quasi „promoten“. Doch die Reise verläuft ganz anders als geplant!

Kaum in Prag angekommen, wird Balakirew zur sofortigen Abreise genötigt. Infolge des kurz zuvor ausgebrochenen preußisch-österreichischen Krieges stehen die preußischen Truppen vor den Toren Prags, Balakirew flüchtet Hals über Kopf nach Wien und beschließt, von dort aus über Leipzig nach Petersburg zurückzukehren. Doch die Truppen rücken so rasant vor, dass auch diese Reiseroute nicht zu Ende geführt werden kann. Nach einer aufregenden Odyssee durch Süddeutschland landet Balakirev unverrichteter Dinge erneut in Wien.

Den Zwangsaufenthalt in Wien nutzt Balakirev zum Besuch der großen „Öffentlichen Bibliothek“ (heute Wiener Stadtbibliothek). Hier findet er beim Stöbern ein Buch des tschechischen Gelehrten Benes Met(h)od Kulda (1820-1903) mit dem Titel „ Svadba v národe Cesko-slovanském“ (Die Hochzeit zwischen den tschechoslovakischen Völkern), Olomouc, 1858. In diesem Buch befindet sich eine Sammlung zahlreicher tschechischer Volksmelodien. Die unter den Nummern 57, 56 und 17 geführten Themen begeistern ihn derart, dass er sie sich notiert und - in der genannten Reihenfolge - zur Grundlage der vorliegenden Komposition mit dem vorläufigen Titel „Ouvertüre über drei tschechische Themen“ macht.

Einen weiträumigen Umweg über Ungarn in Kauf nehmend verlässt Balakirew schließlich Wien und gelangt nach tagelanger Fahrt wieder in seine Heimat. Noch im Juli 1866 macht er sich an die Ausarbeitung der Ouvertüre, fertiggestellt wird die Verlaufs-skizze aber erst im Januar 1867. Zu diesem Zeitpunkt ist der Komponist erneut in Prag, der Krieg ist beendet und Balakirew kann dort seinem ursprünglichen Vorhaben endlich nachkommen.

Fertig instrumentiert liegt das Werk schließlich am 2. Mai 1867 vor (Datum des Manus-kripts). Eile war geboten, denn schon 14 Tage später findet die Uraufführung des Werkes an der „Musikalischen Freischule“ in Petersburg statt. Eine tschechische Delega-tion auf dem Weg zu einer ethnografischen Ausstellung in Moskau machte in Petersburg Zwischenstation und sollte der Aufführung beiwohnen.

Nach der Uraufführung verliert sich zunächst die Spur des Werkes. Dass es überhaupt noch einmal wieder auftaucht verdanken wir im Wesentlichen der oben genannten Schwester Glinkas. Aus gutem Grund bittet L. Schestakowa im Jahr 1873 Balakirew, er möge ihr alle vorhandenen Manuskripte zur Aufbewahrung anvertrauen. Ab 1869 hatten sich die Lebensumstände Balakirews grundlegend verändert. Hierfür waren mehrere Faktoren ausschlaggebend. Zunächst entfremdeten sich Balakirews Mitstreitern zusehends von ihrem einstigen Mentor. Ihrer „Schülerrolle“ waren sie längst entwachsen, sie fühlten sich durch Balakirews Ratschläge zunehmend bevormundet. Hinzu kamen finanzielle Probleme der „Musikalischen Freischule“, nicht zuletzt bedingt durch fehlendes Geschick Balakirews im diplomatischen Umgang mit seinen Mitmenschen und insbesondere den Geldgebern dieser Institution. Schließlich starb 1869 der Vater des Komponisten, und er sah sich in der Verantwortung, die Fürsorge für seine jüngeren Schwestern zu übernehmen. All diesen Verantwortungen nicht gewachsen stürzt Balakirew in eine tiefe Persönlichkeitskrise, entledigt sich all seiner musikalischen Posten, verliert völlig das Interesse an seinen Kompositionen, nimmt diverse Gelegenheitsjobs an (z.B. bei der Warschauer Eisenbahngesellschaft) und flüchtet sich in eine streng orthodoxe Sekte.

Etwa fünf Jahre genehmigt sich der Komponist diese „Auszeit“ von der musikalischen Gesellschaft, dann kehrt er überraschend zurück. Ab 1876 hat er wieder Kompositions-schüler, und 1881 wird er sogar wieder Direktor „seiner“ Musikschule, wobei ihm auch diejenigen ehemaligen Mitstreiter aus Respekt und vielleicht auch Mitleid helfend unter die Arme greifen, von denen er sich Jahre zuvor abgewandt hatte.
Dank der Weitsichtigkeit L. Schestakowas kann Balakirew sogar auf angefangene oder nur vorläufig fertiggestellte Kompositionen vergangener Jahre zurückgreifen und er erledigt die Weiterarbeit, ohne dass den Werken der „Dornröschenschlaf“ stilistisch anzumerken ist.

In einem Brief erinnert sich Balakirew 1902 auch erstmalig wieder an seine Ouvertüre über die drei tschechischen Themen. Die Idee, diese noch einmal zu überarbeiten, wird aber erst 1905 realisiert, wobei hauptsächlich die damals unter Eile erstellte Instrumentation revidiert wird. Fortan bezeichnet Balakirew das Werk auch als symphonische Dichtung mit dem Titel „In Böhmen“, um „dem ernsten Charakter des Werkes mehr Ausdruck zu verleihen“ (Briefzitat Balakirews). Gewidmet ist das Werk Josef Kolar (1830-1910), der als Übersetzer von Operntexten Glinkas ins Tschechische Balakirew schon Jahre zuvor in Prag zur Seite stand. Mit der ersten Drucklegung der Partitur im Jahr 1906 beim Verlag J. H. Zimmermann in Leipzig endet schließlich die bewegte Entstehungsgeschichte dieses Werkes. 1960 wird die Partitur auch im Russischen Staatsverlag verlegt.

Die raffinierte Instrumentation, die für Balakirew typische straffe Formgebung und die fast schon an westliche Klassiker gemahnende, geschickte Verarbeitung der Motive aus den drei Themen sollten Anlass genug sein, diesem Werk öfter Gehör zu verleihen. Die vorliegende Partitur möge dazu beitragen.

Wolfgang Eggerking, 2009

Aufführungsmaterial ist von Zimmerman, Frankfurt zu beziehen.

Mily Alexeyevich Balakirev
(b. Nizhny-Novgorod, 2 January 1837 - d. St. Petersburg, 29 May 1910)

In Bohemia
Symphonic poem for full orchestra (1866-1906)

Preface
The genesis of Balakirev’s symphonic poem In Bohemia spans a total of forty years (1866-1906) - a remarkable length of time for a work lasting barely a quarter of an hour, and one which only becomes understandable when we examine the unusual circumstances of its origin and the life of its composer.

In 1866 Balakirev was at the zenith of his professional career. Four years earlier he and Gavriil Lomakin had founded the “Free Music School” in St. Petersburg, where every student could receive, free of charge, a solid musical education with a national alignment and a nonacademic curriculum deliberately contrasting with the western-oriented Conservatory. Balakirev, who came from a humble background and had to acquire many musical skills through self-instruction in his youth, was highly regarded for his abilities as a music teacher. He also became something akin to the mentor of the so-called “Mighty Handful,” a group of five age mates consisting of, besides himself, his musically untutored “pupils” Rimsky-Korsakov, Borodin, Mussorgsky, and Cui. One idol of this circle was unquestionably the composer Mikhail Glinka, the creator of Russia’s national music, who had died in 1857. It therefore comes as no surprise to discover that Balakirev, in June 1866, readily agreed when Glinka’s sister Ludmilla Shestokova asked him to travel to Prague. In his luggage were Glinka’s opera scores, which the enterprising composer was meant to promote in the Czech capital. But the journey turned out far differently from what he expected.

Hardly had he arrived in Prague than Balakirev was obliged to leave the city immediately. The Austro-Prussia War had just erupted, and Prussian troops stood before the city gates. Balakirev precipitously fled to Vienna and resolved to return to St. Petersburg via Leipzig. But the troops advanced so rapidly that this itinerary too had to be abandoned. After an exciting odyssey through southern Germany he finally returned to Vienna empty-handed.

Balakirev took advantage of his forced stay in Vienna to visit the great Public Library (now the Wiener Stadtbibliothek), where he stumbled upon a book by the Czech savant Beneš Metod Kulda (1820-1903) entitled Svadba v národe Česko-slovanském (“The Marriage of the Czecho-Slovakian Peoples”; Olomouc, 1858). The book contains a collection of many Czech folk tunes, of which nos. 57, 56 and 17 caught Balakirev’s imagination to such a degree that he wrote them down and used them (in the above-mentioned order) as the basis of the work in the present volume, to which he gave the provisional title Overture on Three Czech Themes.

Putting up with another lengthy detour via Hungary, Balakirev finally left Vienna and, after traveling for days on end, succeeded in returning home. By July 1866 he was already at work on the overture, but he only managed to complete the continuity draft in January 1867. By then he had returned to Prague; the war was over and he could now carry out his original plan.

According to the date on the manuscript, the complete orchestral score was finally fi-nished on 2 May 1867. Time was of the essence, for the première had to take place in the Free Music School two weeks later so that it could be witnessed by a Czech delegation stopping in St. Petersburg en route to an ethnological exhibition in Moscow.

After its première the new work initially vanished without a trace. The fact that it resurfaced at all was basically due to Glinka’s above-named sister. In 1873 Ludmilla Shesto-kova asked Balakirev to entrust all his existing manuscripts to her for safekeeping. She had good reasons for doing so, for beginning in 1869 the composer’s circumstances had changed dramatically. This was due to several factors. For one, Balakirev’s comrades-in-arms increasingly distanced themselves from their former mentor, having long outgrown their status as “pupils” and feeling increasingly patronized by his advice. For another, the Free Music School encountered financial difficulties, not least owing to Balakirev’s clumsiness in dealing with other people in general and the institution’s patrons in particular. Lastly, his father died in 1869, and he was forced to assume responsibility for the care of his younger sisters. Unequal to these tasks, Balakirev was plunged into a profound personal crisis. He dropped all his musical positions, completely lost interest in his compositions, accepted various forms of casual employment (including a job with the Warsaw Railway), and fled into a rigidly orthodox religious sect.

After granting himself a roughly five-year “break” from the music scene, Balakirev surprisingly returned. Beginning in 1876 he again had composition students, and in 1881 he even became director of his own music school. Acting from respect and perhaps from pity, the same comrades-in-arms that he had spurned years before now gave him a helping hand.

Thanks to Ludmilla Shestokova’s far-sightedness, Balakirev was even able to return to past compositions that he had abandoned or only temporarily completed. He continued work on them without the slightest evidence of a break in stylistic continuity.

It was only in a letter of 1902 that Balakirev first recalled his overture on the three Czech themes, and the plan to revise the work was not carried out until 1905. His revisions are mainly limited to the orchestration that he had produced in such haste. From then on he referred to the work as a symphonic poem entitled In Bohemia in order, as he claimed in a letter, to “lend more weight to the work’s serious character.” It bears a dedication to Josef Kolar (1830-1910), who had come to Balakirev’s aid in Prague years before by translating Glinka’s librettos into Czech. The score first appeared in print in 1906, when it was issued by J. H. Zimmermann in Leipzig. With this the work’s troubled gestation came to an end. In 1960 the score was also published by the Russian State Publishing House.

Balakirev’s clever orchestration, typically concise formal design, and adroit manipulation of motifs from the three themes (a technique reminiscent of western classical music) are reasons enough to give this work a more frequent hearing. The present study score is intended to serve that purpose.

Translation: Bradford Robinson

 

For performance material please contact Zimmerman, Frankfurt.