Frederic Cliffe
(geb. Low Moor, 2. Mai 1857 - gest. London, 19. November 1931)

Erste Sinfonie in c-Moll
Opus 1

Vorwort
Die Zahl der Komponisten, die in Großbritannien in den Schatten Edward Elgars gerieten, ist groß. Schöpferisch oft nicht weniger begabt, wurden sie vielfach durch die Folgegenerationen, die eigenen Raum auf der Musikszene beanspruchten, in Misskredit gebracht. Ihnen eilte ein Ruf verstaubter Akademiker voraus – meist ohne dass ihre Kompositionen bekannt waren. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts werden diese Komponisten langsam wiederentdeckt.

Einer von ihnen war Frederic Cliffe, am 2. Mai 1857 (exakt einen Monat vor Elgar) in Low Moor geboren, einem Vorort von Bradford (Yorkshire), wo fünf Jahre später Frederick Delius das Licht der Welt erblicken sollte. Mit sechs Jahren galt Cliffe bereits als Wunderkind auf dem Klavier und an der Orgel. Mit 11 Jahren wurde er Orga­nist in verschiedenen Kirchen und mit 13 konzertierte er in ganz Yorkshire; 1873 wurde er Organist der Bradford Festival Choral Society. Im selben Jahr dirigierte Arthur Sullivan hier sein Oratorium The Light of the World und war von dem Talent des Jungen sehr beeindruckt. 1876 erhielt Cliffe das Titus Salt-Stipendium für die National Training School of Music in London und wurde, als 1883 aus ihr das Royal College of Music hervorging, zu einem seiner ersten Klavierprofessoren ernannt (zu seinen Schülern gehörten John Ireland und Arthur Benjamin); außerdem unterrichtete er an der Royal Academy of Music. Er arbeitete als Begleiter, spielte Orgel oder Klavier für Chöre bei Festivals und überarbeitete den Orgelpart in Bachs h-moll-Messe für das Leeds Musical Festival im Jahre 1886; im selben Jahr spielte er in der Uraufführung von Sullivans The Golden Legend. Von 1888 bis 1894 war Cliffe überdies Organist des Bach Choir London sowie für mehrere Londoner Theater. Er starb am 19. November 1931 in London.

Cliffes kompositorisches Schaffen ist überschaubar, vor allem da er sich nicht kämpferisch für seine Musik einsetzte; vor seinem sechzigsten Geburtstag stellte er die kompositorische Tätigkeit ein. Bis dahin hatte zwei Sinfonien (1889 und 1892) geschaffen, ein Orchesterbild Cloud and Sunshine (1890), ein Violinkonzert d-Moll (1896), eine Scena für Alt und Orchester The Triumph of Alcestis (1902), eine Ode to the North-East Wind für Chor (1906), einen Krönungsmarsch für König George V (1910) sowie Kirchenmusik und Lieder. Cliffes erste Sinfonie in c-Moll, sein Opus 1, wurde im März 1889 vollendet und war seine erste groß angelegte Komposition überhaupt. Nachdem das Komitee des Leeds Festival die Sinfonie abgelehnt hatten, wurde sie am 20. April 1889 unter der Leitung von August Manns im Londoner Crystal Palace uraufgeführt, dessen Konzerte einen so guten Ruf genossen, dass zahllose wichtige britische Orchesterwerke hier ihre Uraufführung erlebten (darunter die vierte Sinfonie von Charles Villiers Stanford, das Klavierkonzert von Hubert Parry oder Josef Holbrookes Symphonische Dichtung The Raven). Der Daily Telegraph bezweifelte am Tage nach der Uraufführung von Cliffes Erstlingswerk, „dass die Musik­geschichte auf irgendeiner ihrer Seiten ein solches Opus 1 verzeichnet hat. Die Sinfonie ist ein Meis­terwerk“.

Am 6. Juni desselben Jahres dirigierte Cliffe die Sinfonie in einem Konzert der Philharmonic Society in London (der berühmte Kritiker Joseph Bennett schrieb enthusiastisch über das Werk), am 20. Januar des Folgejahres dirigierte Manns die Sinfonie in Edinburgh. Am 13. Februar 1902 leitete Cliffe eine Aufführung in Bournemouth, der bis 1917 sieben weitere folgten. Cliffes zweite Sinfonie in e-Moll konnte nicht an den Erfolg der ersten anknüpfen und blieb im Gegensatz zu der ersten trotz ihrer unbestreitbaren Qualitäten bis heute ungedruckt.

Wie bei einem Erstlingswerk nicht ganz unüblich, zeigt Cliffes Sinfonie in c-Moll die Einflüsse seiner Zeit – die Ausrichtung auf Zentraleuropa und die Sinfonien Schumanns, Brahms’ und Dvořáks ist immer wieder spürbar (mehr übrigens als in Cliffes zweiter Sinfonie, die genuin „britischere“ Qualitäten aufweist), doch ist überraschenderweise auch ein Einfluss Anton Bruckners anzutreffen (sonst in der britischen Sinfonik eher selten). Vor allem aber sind es Cowen und Prout, Parry und ganz besonders Stanford, die Cliffe als Modell dienten. Die melodische Erfindung ist äußerst reich und wurde von allen Kritikern besonders hervorgehoben, doch ist auch Cliffes Harmonik für die britische Sinfonik seiner Zeit durchaus gemäß. Wichtig war zu dieser Zeit noch das ästhetische Konzept, „Hässliches in der Musik“ zu vermeiden, ein Konzept, dem besonders am Royal College of Music angehangen wurde. Anders als sein ehemaliger Schüler John Ireland war es Cliffe im Alter nicht möglich, die neuen musikalischen Entwicklungen der Zeit gutzuheißen; auch das Kino verdammte er als künstlerischer Inspiration abträglich.

Der erste Satz der Sinfonie mit Streichertremoli und Blechbläserchorälen wurde durch einen Besuch Norwegens beeinflusst – und so überrascht es nicht völlig, dass auch Sinding und Grieg als Einflüsse auf Cliffe genannt werden könnten. In der Programmnotiz der Aufführung in Edinburgh steht zu lesen: „[...] der Eröffnungssatz soll die Eindrücke wiedergeben, die der Komponist bei seiner ersten Norwegen-Reise erlebte [...] Die Erhaben­heit und imposante Natur der norwegischen Küste, die gigantischen Felsriffe, die riesigen Fjorde, die tosenden Wasserfälle und hoch aufragenden Berge mussten ihren tiefen Eindruck auf ein künstlerisch sensibles Gemüt hinterlassen, und die Gefühle von Erstaunen, Ehrfurcht, Hochgefühl, Begeisterung and Sehnsucht, die im Gemüt des Komponisten hervorgerufen wurden, sind in diesem ersten Satz in all ihrer Schönheit widergespiegelt.“

Der kraftvolle erste Satz folgt einer ausgesprochen symmetrischen Formanlage, von einem tänzerischen, vornehmlich durch die Bläser geprägten Scherzo”gefolgt. Reiche Zwischenstimmen (der junge Musiker will beweisen, dass er kontrapunktische Fähigkeiten beherrscht) generieren fast ein Übermaß an musikalischer Aktion, immer wieder mit der Prominenz der Blechbläser. Die folgende Ballade war der erfolgreichste Satz der Sinfonie – sie erschien schon vor der Druckausgabe der Sinfonie separat – und ist unzweifelhaft das Zentrum der Sinfonie. Vorgeblich wurde der variative (doch nicht Variations-) Satz durch eine Musiker- und Künstlerzusammenkunft in dem mondänen Kurort Bad Ems an der Lahn inspiriert, berühmt im 19. Jahrhundert vor allem durch die Besuche russischer Prominenz, aber auch Richard Wagners (dennoch wäre es zu weit hergeholt, das eröffnende Englischhornsolo mit dem dritten Akt von Tristan und Isolde in Verbindung bringen zu wollen). Das Geschehen verdichtet sich und der Satz endet mit einer Art Reprise des Anfangs. Das abschließende Allegro vivace bringt die Sinfonie konventionell, doch durchaus überzeugend zu einem majestätischen Ende, nicht ohne auch in einer kurzen Fuge Cliffes kontrapunktischen Fähigkeiten zu beweisen.

Insgesamt ist Frederic Cliffes erste Sinfonie ein weit mehr als respektables Erstlingswerk, auch wenn es zum einen vielleicht an der zu häufigen Wahl kurzer Notenwerte krankt, wodurch ein Eindruck von Überaktivität geweckt wird, und Cliffe (noch) nicht die orchestrale Palette vollkommen beherrscht (zweimal fordert er vom Englischhorn ein nicht spielbares tiefes Es). Dennoch ist das Werk wegen ihrer herausragenden handwerklichen Qualitäten, ihres melodischen Einfallsreichtums und ihrer Frische zu den besten britischen Sinfonien der Jahre 1885–1895 zu zählen.

Das (stark korrigierte) Manuskript der Sinfonie hat sich im Londoner Royal College of Music erhalten. 1904 veröffentlichte der Musikverlag Novello & Co. Partitur und Orchesterstimmen der Komposition, die 2003 durch das Opernorchester Malmö unter der Leitung von Christopher Fifield eingespielt wurde (Sterling CDS-1055-2).

Dr. Jürgen Schaarwächter, 2009

 

Aufführungsmaterial ist von Chester Novello, London zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Jürgen Schaarwächter, Karlsruhe.

Frederic Cliffe
(b. Low Moor, 2. May 1857 - d. London, 19. November 1931)

Symphony No.1 in c-minor
Opus 1

Preface
The number of composers in Great Britain who wound up being eclipsed by Edward Elgar is large. Though often equally talented, they were frequently discredited by later generations who wanted to lay claim to their own space in the music scene. They were precipitately dismissed as mouldy academics, usually without hearing a note of their music. Only since the end of the twentieth century have these composers been gradually rediscovered.

One of them was Frederic Cliffe. He was born on 2 May 1857, exactly one month before Elgar, in Low Moor, a suburb of Bradford in Yorkshire, where Frederick Delius would come into the world five years later. At the age of six Frederic was already considered a child prodigy on the piano and the organ. He played the organ in various churches from the age of eleven and began concertizing throughout Yorkshire at thirteen. In 1873 he was appointed organist of the Bradford Festival Choral Society, where his oratorio The Light of the World was conducted that same year by Arthur Sullivan, who was highly impressed by the boy’s talent. In 1876 Cliffe was awarded the Titus Salt Scholarship for the National Training School of Music in London. When this institution gave rise to the Royal College of Music in 1883, he became one of its first professors of piano (among his pupils were John Ireland and Arthur Benjamin). He also taught at the Royal Academy of Music, worked as an accompanist, played the organ or piano for festival choruses, and revised the organ part of Bach’s B-minor Mass for the Leeds Festival in 1886, in which year he played in the première of Sullivan’s The Golden Legend. He was also the organist of the London Bach Society and several London theaters from 1884 to 1894. He died in London on 19 November 1931.

Cliffe’s compositional output is not large, particularly as he declined to fight on behalf of his music and ceased composing altogether before reaching the age of sixty. By that time he had produced two symphonies (1889 and 1892), an orchestral picture Cloud and Sunshine (1890), a D-minor Violin Concerto (1896), a scena for contralto and orchestra entitled The Triumph of Alcestis (1902), an Ode to the North-East Wind for chorus (1906), and a Coronation March for King George V (1910) in addition to church music and songs. The First Symphony in C minor - Cliffe’s “opus 1” and his first large-scale composition altogether - was completed in March 1889. After being rejected by the committee of the Leeds Festival, the work was premièred in London’s Crystal Palace on 20 April 1889 under the baton of August Manns. The concerts in this venue were so highly regarded that a great many British orchestral works received their first hearings there, including Charles Villiers Stanford’s Fourth Symphony, Hubert Parry’s Piano Concerto, and Josef Holbrooke’s symphonic poem The Raven. One day after the première The Daily Telegraph “doubted whether musical history can show on any of its pages the record of such an Opus 1. The Symphony is a masterpiece.” On 6 June of the same year Cliffe himself conducted the symphony in a concert of the London Philharmonic Society (the famous critic Joseph Bennett wrote an enthusiastic review), and on the following 20 January Manns conducted the piece in Edinburgh. On 13 February 1902 Cliffe led a performance in Bournemouth. Another seven performances were to follow by 1917. The Second Symphony, in E minor, was unable to match the success of the First and has remained, unlike its predecessor, unpublished to the present day, despite its incontestably high quality.

As is only typical of fledgling efforts, Cliffe’s C-minor Symphony betrays the imprint of its day: an alignment on Central Europe and the symphonies of Schumann, Brahms, and Dvořák is ever-present - more so than in his Second, which reveals genuinely “British” qualities. Surprisingly, we also sense the influence of Anton Bruckner, other-wise rarely encountered in British symphonies. But most of all was it Cowen and Prout, Parry and particularly Stanford whom Cliffe adopted as his models. The melodic invention is extraordinarily rich and was specially emphasized by all the critics, but the harmony is thoroughly typical of the British symphony of his day. At this time the aesthetic principle of “avoiding ugliness in music” still reigned supreme, a principle specially inculcated at the Royal College of Music. Unlike his former pupil John Ireland, Cliffe was unable in advanced age to approve of the new musical developments of his day. He even condemned the cinema as detrimental to artistic inspiration.

The symphony’s opening movement, with its string tremolandos and brass chorales, bears the impress of a visit to Norway. It is therefore not entirely surprising that Sinding and Grieg can be numbered among Cliffe’s influences. The program note to the Edinburgh performance reads as follows: “The opening movement is meant to record the impressions produced on the composer when he first visited Norway [...] The grandeur and impressive nature of the shores of Norway, the gigantic cliffs, the vast fjords, the roaring waterfalls and towering mountains, could not fail to make a deep impression on a mind full of artistic sensibilities, and the feelings of astonishment, awe, exultation, delight and yearning, which were excited in the mind of the composer are beau [sic] reproduced during the first movement.”

The powerful first movement is laid out in a strikingly symmetric formal design, follow-ed by a lilting Scherzo primarily dominated by the winds. A wealth of inner parts (the young composer was intent on demonstrating his skills in counterpoint) almost generates an excess of musical action, with the brass rising to prominence again and again. The Ballad that follows was the symphony’s most successful movement (it appeared separately in print even before the full symphony) and is unquestionably the heart of the work. This varied movement (though not a set of variations) was allegedly inspired by a “gathering of musicians and artists in the town of Ems,” a fashionable spa made famous in the nineteenth century above all by visits of Russian celebrities and Richard Wagner (though it would be far-fetched to detect a reference to the solo cor anglais that opens Act 3 of Tristan und Isolde). The musical events thicken, and the movement ends with a sort of recapitulation of the opening. The final Allegro vivace brings the symphony to a conventional, yet thoroughly convincing and majestic conclusion, not without another demonstration of Cliffe’s contrapuntal prowess in a brief fugue.

All in all, Frederic Cliffe’s First Symphony is far more than a respectable fledgling effort, even if it perhaps suffers from a superfluity of short note-values, conveying an impression of hyperactivity, and even if Cliffe did not yet have a perfect command of the orchestral palette (he twice calls for an unplayable low E-flat on the cor anglais). Nonetheless, with its outstanding craftsmanship, its wealth of melodic invention, and its overall freshness, the work is one of the best British symphonies written between 1885 and 1895.

The heavily revised manuscript of the symphony is preserved at the Royal College of Music in London. In 1904 Novello & Co. issued the work in full score and parts, and in 2003 it was recorded by the Malmö Opera Orchestra under the baton of Christopher Fifield (Sterling CDS-1055-2).

Translation: Bradford Robinson, 2009

 

For performance material please contact Chester Novello, London. Reprint of a copy from the collection Jürgen Schaarwächter, Karlsruhe.