Pjotr Iljitsch Tschaikowsky
(geb. Wotkinski, 7. Mai 1840 – gest. St. Petersburg, 6. November
1893)
Das Gewitter
op. 76 (1864)
Konzertouvertüre für großes Orchester
Tschaikowskys Ouvertüre Das Gewitter (Groza) – nicht zu verwechseln
mit seinem späteren Werk nach Shakespeares Der Sturm (Burja op. 18)
– entstand 1864 während eines angenehmen Sommerurlaubs in Trostinez,
dem Landgut seines Schulfreundes Alexej Golizïn im Gouvernement Kharkow.
Damals studierte Tschaikowsky noch am Konservatorium bei Anton Rubinstein,
der seinen Studenten die Aufgabe erteilt hatte, eine grosse Orchesterkomposition
zu verfassen. Tschaikowsky beschloß, eine Ouvertüre nach Alexander
Ostrowskys erfolgreichem Bühnenstück Das Gewitter zu komponieren,
das den Musikfreunden außerhalb Rußlands durch Janáčeks Oper Kát’a
Kabanová nach dem gleichen Stoff bereits bekannt ist.
Beim Gewitter handelt es sich um ein Drama häuslicher Unterdrückung,
das sich im Kaufmannsmilieu einer fiktiven Kleinstadt am Fluß Wolga
abspielt. Die Handlung dreht sich um die junge Ehefrau Katerina,
die mit dem schwachen und rückgratlosen Kabanow verheiratet ist,
dessen Leben wiederum – wie auch das Leben aller anderen Familienmitglieder
– durch seine tyrannische Mutter Marfa Ignatjewna zur Hölle gemacht
wird. Katerina hat sich in den jungen Boris verliebt, der durch einen
gewalttätigen Onkel (eine Marfa nicht unähnliche Bühnengestalt) gequält
wird. Der Gedanke, der Versuchung Boris’ zu erliegen, erfüllt Katarina
mit einem schleichenden Gefühl einer sich anbahnenden Katastrophe.
Als Kabanow jedoch auf eine zweiwöchige Geschäftsreise nach Moskau
geschickt wird, organisiert Katarinens Schwägerin Varvara ein Stelldichein
mit Boris. Die frühzeitige Rückkehr Kabanows versetzt Katerina jedoch
in eine tief verstörte Seelenlage. Während eines heftigen Gewitters
wird sie vom Bewußtsein ihrer Sünden überwältigt und gesteht alles.
Boris wird geschäftlich nach Sibirien abkommandiert, die verzweifelte
Katarina ertränkt sich in der Wolga.
Für seine Komposition entwarf Tschaikowsky folgendes Szenario:
Einleitung: Adagio (Katerinens Kindheit und voreheliches Leben);
(Allegro) Vorahnungen des Gewitters; das Streben nach dem wahren
Glück und der wahren Liebe (Allegro passionato); ihr innerer Kampf;
plötzliche Überleitung zum Abend am Wolgaufer; erneuter Kampf; Vorahnungen
des Gewitters (Wiederholung und äußerste Weiterent-wicklung des Motivs
nach dem Adagio); das Gewitter; Höhepunkt des verzweifelten Kampfes
und Tod.
Die endgültige Komposition verhält sich in etwa nach diesem Schema.
Offensichtlich jedoch beschreibt die Einleitung mehr als die glückliche
Kindheit Katarinens, denn sie fängt mit dunklen Ahnungen an und entfesselt
in T. 46-52 ein gewaltsames Fortissimo, das – wie Tschaikowsky seinem
Bruder Modest anvertraute – den ersten Auftritt Marfa Ignatjewnas
darstellt. Darüber hinaus enthält die Einleitung auch das Volkslied
Iskhodila mladenka („Das Mädchen wandelte über Flur und Hain“, T. 23–43),
das Ostrowsky angeblich nach dem Gesang des Zigeunersängers Anton
Sergejew aufschrieb. Das Lied erschien 1860 als Nr. 7 in der Liedersammlung
Russkije narodnïje pesni, dem Ergebnis einer Forschungsreise entlang
der Wolga, an der sowohl Ostrowsky als auch der Komponist Konstantin
Petrowitsch Villebois (Vilboa) teilnahmen und die das Bühnenstück
Das Gewitter und seine Vertonung inspirierte. Später sollte Tschaikowsky
eine Variante des gleichen Volkslieds als Nr. 1 in seine Sammlung
Fünfzig russische Volkslieder aufnehmen.
Zusätzlich zum programmatischen Inhalt verfolgt die Ouvertüre eine
klar gegliederte Sonatenhauptsatzform, in der das unruhige Allegro
vivo (T. 56) als Hauptthema erscheint. Das Seitenthema (poco meno
mosso, T. 128-34) dürfte dem Zuhörer eventuell bekannt vorkommen,
hatte es Tschaikowsky doch später als Rahmenthema des Adagio in seiner
Ersten Symphonie eingesetzt. Nach der Reprise des Seitenthemas kehrt
die Musik Marfas aus der Einleitung wieder und treibt die Ouvertüre
ihrem gewaltsamen, allerdings im Durmodus gehaltenen Ende entgegen.
In einem Brief, den Tschaikowsky aus Trostinez an seine Schwester
Alexandra schrieb, äußerte er sich zuversichtlich, daß Das Gewitter
bald durch die Russische Musikgesell-schaft in St. Petersburgaufgeführt
würde. Tatsächlich erlebte das neue Werk ein anderes Schicksal. Kurz
vor der geplanten Rückkehr nach St. Petersburg erkrankte der Komponist
und mußte das Manuskript seinem Kommilitonen Herman Laroche zuschicken
mit der Bitte, es Rubinstein vorzulegen. Tschaikowsky hatte wohl
vorausgesehen, daß die Ouvertüre seinem Lehrer nicht allzu sehr gefallen
würde, überschritt sie doch die Grenzen, die der konservative Gründer
des Konservatoriums seinen Studenten normalerweise zubilligte. Zum
Beispiel habe er – so Laroche – „den ketzerischsten Orchesterapparat
aller Zeiten“ einschließlich Englisch-Horn, Harfe, großer Trommel
und Becken vorgeschrieben. Der unglückliche Laroche berichtet, wie
das Werk seines Freundes aufgenommen wurde:
“Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Schimpftirade für
mein eigenes Fehlverhalten erduldet, wie ich damals – und es war,
wie ich mich entsinne, ein wunderschöner Sonntagvormittag – wegen
der Sünden eines anderen über mich habe ergehen lassen müssen. Mit
unfreiwilligem Humor drückte sich Rubinstein so aus: ‘Hätten Sie
es je gewagt, mir ein solches Stück aus Ihrer Feder vorzuzeigen …‘
— und fuhr fort, mich in Grund und Boden zu beschimpfen! Nachdem
er seinen ganzen Vorrat an Zorn aufgebraucht hatte, blieb dem hitzköpfigen
Leiter des Konservatoriums für den eigentlichen Missetäter nichts
mehr übrig, und als Pjotr Iljitsch einige Tage danach den Direktor
besuchte, um das Verdikt entgegenzunehmen, wurde er äußerst sanft
empfangen und erhielt für seinen Teil lediglich ein paar kurze Rügen.”
Heutzutage wird Das Gewitter als eines der bedeutendsten Frühwerke
Tschaikowskys angesehen, in dem sich viele Züge seines bekannten
Personalstils zum erstenmal zeigen. Das vernichtende Urteil Rubinsteins
stellt jedoch sicherlich einer der Gründe dafür dar, daß sich der
Komponist zeitlebens weigerte, die Ouvertüre zu veröffentlichen oder
aufführen zu lassen. Bald jedoch sollte er ihre Materialien teilweise
für andere Werke wiederverwenden. Neben dem bereits erwähnten Thema,
das schließlich in der Ersten Symphonie landete, wurden weite Strecken
der Einleitung in der Ouvertüre c-Moll sowie im Vorspiel zum 2. Akt
seines Opernerstlings Der Wojewode wiederverwendet. In ihrer ursprünglichen
Form wurde die Ouvertüre Das Gewitter erst posthum – am 24. Februar
1896 durch Glasunow – uraufgeführt und im gleichen Jahr als op. 76
bei Beljajew veröffentlicht.
Übersetzung: Bradford Robinson
Aufführungsmaterial ist von Belaieff, Pinneberg zu beziehen. Nachdruck
eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek,
München
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Pyotr Il’yich Tchaikovsky
(b. Votkinsky, 7 May 1840 – d. St. Petersburg, 6 November 1893)
The Storm
op. 76
Tchaikovsky’s overture The Storm (Groza)—not to be confused with
his later work based on Shakespeare’s The Tempest (Burya), op. 18—was
written in 1864, during a pleasant summer spent at Trostinets, the
estate of his schoolfriend Aleksey Golitsïn in the Kharkov district.
At that time Tchaikovsky was still a student at the Conservatory,
and his teacher Anton Rubinstein had given his students the assignment
to write an extended orchestral composition. Tchaikovsky decided
to write an overture based on Aleksandr Ostrovsky’s successful play
The Storm, which may be familiar to music lovers outside Russia thanks
to Kát’a Kabanová, Janáček’s opera on the same subject.
The Storm is a drama about domestic tyranny among the merchant class
in a fictive town on the Volga. It tells the story of Katerina, who
is unhappily married to the weak and spineless Kabanov, whose life,
like that of all members of his family, is made miserable by his
despotic mother Marfa Ignat’yevna. Katerina has fallen in love with
Boris, a young man tormented by his violent uncle, a character not
unlike Marfa. The idea of giving in to her temptations fills Katerina
with a sense of impending doom, but when Kabanov is sent on an errand
to Moscow for two weeks, Katerina’s sister-in-law Varvara finally
arranges a meeting with Boris. When Kabanov returns earlier than
planned, Katerina is severely upset, and during a violent storm,
overcome by her sense of sin, she confesses everything. Boris is
sent to Siberia for business, and desperate Katerina drowns herself
in the river Volga.
For his composition Tchaikovsky had drafted the following scenario:
Introduction: adagio (Katerina’s childhood and her entire life before
her marriage); (allegro) hints at the storm; the striving for real
happiness and love (allegro passionato); her spiritual struggle;
sudden transition to the evening on the Volga embankment; again struggle;
omens of the storm (repetition of the motif after the Adagio and
its furthest development); the storm; climax of the desperate struggle
and death.
His composition roughly adheres to this original plan. It is obvious,
though, that the introduction does not represent Katerina’s happy
childhood alone. It begins with some dark forebodings, and has a
violent fortissimo intrusion at bars 46–52, representing, as Tchaikovsky
himself has indicated to his brother Modest, the first appearance
of Marfa Ignat’yevna. The introduction also includes the folk song
‘Iskhodila mladen’ka’ (‘The girl wandered over meadow and field’,
m. 23–43), a melody Ostrovsky is said to have transcribed from the
gipsy singer Anton Sergeyev. It had been published in 1860 in a collection
of songs (Russkiye narodnïye pesni, nr. 7) that was the result of
a Volga expedition on which Ostrovsky and the composer Konstantin
Petrovich Villebois (Vil’boa) had collaborated, a trip that also
served as inspiration for The Storm and its setting. Later, Tchaikovsky
would include a variant of the same song in his own collection of
Fifty Russian Folk Songs (nr. 1).
Its programmatic content notwithstanding, the overture has clear
sonata structure, with the restless Allegro vivo (m. 56) serving
as the first theme. The second theme (poco meno mosso, m. 128-134)
may sound familiar, as it was later reused as the framing of the
Adagio of Tchaikovsky’s First Symphony. After the reprise of this
second theme, Marfa’s music from the introduction returns, and thrusts
the overture to its violent but major mode conclusion.
In a letter written at Trostinets to his sister Aleksandra, Tchaikovsky
confidently assumed that The Storm would soon be performed by the
Russian Music Society in St Petersburg, but the new work was to have
a different fate. Just before his planned return to St. Petersburg,
Tchaikovsky fell ill and sent the work to his fellow student Herman
Laroche, asking him to present it to Rubinstein. Tchaikovsky may
well have foreseen that his teacher would not be too pleased with
it, as his overture clearly overstepped the boundaries that the conservative
founder of the Conservatory normally set for his students. For one
thing, he had employed what Laroche called with some exaggeration
‘the most heretical orchestra there ever was’, including cor anglais,
harp, bass drum and cymbals. The unfortunate Laroche recorded how
his friend’s piece was received:
Never in my life had I received such a bawling out on my own account
as I then (I remember it was a beautiful Sunday morning) had to endure
for the sins of someone else. With unconscious humour Rubinstein
put it thus: ‘If you had dared to bring me such a piece of your own
work…’—and then proceeded to fulminate against me! Having completely
exhausted all his reserves of anger, the Conservatory’s hot-tempered
director had nothing left for the real culprit, so that when Pyotr
Il’yich arrived a few days later and went in his turn to hear the
verdict, he was given an extremely sweet reception and, for his part,
received only a few brief reproofs.
Nowadays, The Storm is recognized as one of Tchaikovsky’s most important
early efforts, in which many aspects of his familiar style are revealed
for the first time. Rubinstein’s harsh judgement, however, is surely
one of the reasons why Tchaikovsky never performed or published the
overture. The composer would soon recycle some of its materials in
other works. Apart from the theme that ended up in the First Symphony,
he used a large part of the introduction of The Storm in the Overture
in C minor, and in the introduction to Act 2 of his first operatic
effort The Voyevoda. In its original form, The Storm was only first
performed posthumously on 24 February 1896 by Glazunov, and published
by Belyayev as opus 76 in the same year.
Rutger Helmers, 2009
For performance material please contact the publisher Belaieff,
Pinneberg. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner
Stadtbibliothek, München.
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