Niels Wilhelm Gade
(* 22.2.1817, Kopenhagen, † 21.12.1890, Kopenhagen)

Ein Sommertag auf dem Lande
(„En Sommerdag paa Landet“). Fünf Orchesterstücke op. 55

I. Früh. Allegro vivo e grazioso
II. Stürmisch. Allegro molto
III. Waldeinsamkeit. Larghetto con moto
IV. Humoreske. [Im Fischerdorf] Allegro comodo e scherzoso
V. Abends. Lustiges Volksleben. Andantino – Allegro vivace

Besetzung: 2 Fl. – 2 Ob. – 2 Klar. – 2 Fg. – 3 Hr. - 2 Trp. – Pauke – Streicher
Spieldauer: ca. 24 Minuten

„Als ich mit dem ‚Sommertag’ kam, lachte das Orchester über das ganze Gesicht vor Vergnügen und freute sich über jedes Stück“, berichtete Niels W. Gade seiner Familie über die Begegnung des Hamburger Orchesters mit Ein Sommertag auf dem Lande. Der Däne befand sich im November 1880 gerade auf einer Europatournee und hatte nach Konzerten in Köln eine Einladung zum Musikfest in Hamburg angenommen, um dort seine Werken zu dirigieren. In einem Konzert am 3. Dezember 1880 erklang neben dem bis dato noch relativ unbekannten Ein Sommertag auf dem Lande, die in ganz Europa beliebte Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 20 sowie die Michel-Angelo-Ouvertüre op. 39.
Der Sommertag gehört zu den späteren Orchesterwerken Gades und entstand 1879. Die Uraufführung fand am 21. April 1880 in Kopenhagen im Musikverein („Musik-foreningen“), dem führenden Konzertunternehmen der Stadt, unter Gades Leitung statt. Die deutsche Erstaufführung leitete wenige Monate später Carl Reinecke am 28. Oktober 1880 im Leipziger Gewandhaus. Daneben wurden die Suite oder einzelne Sätze daraus auch in England und Finnland gespielt.

Obwohl Orchesterwerke in Gades Schaffen mit acht Sinfonien und acht Konzertou-vertüren das Zentrum bilden, ist die Form der Orchester-Suite neben dem Sommertag nur noch mit der ebenfalls spät, 1884 entstandenen Holbergiana op. 61 vertreten. Die Suite hatte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nach und nach aufgelöst und zu einer unpopulären Gattung entwickelt. Durch ihre ursprüngliche Anlage als eine Folge verschiedener Tanzsätze und ihren Unterhaltungscharakter war sie stark der höfischen Musik und damit der Epoche des Barock bis hin zur Wiener Klassik verhaftet. Mit dem Erstarken des Bürgertums als Träger des Musiklebens kam sie nach und nach aus der Mode. Erst im späten 19. und 20. Jahrhundert erlebte sie eine Renaissance. So sind Kompositionen in der vermeintlich „historischen“ Form der Suite zu finden, die mitunter zur Darstellung eines ebenso „historischen“, antiquierten Themas gewählt wurden. Dazu gehört beispielsweise Edvard Griegs Holberg-Suite, die zum 200. Geburtstag des Dichters Ludvig Holberg entstand. Daneben wurde sie Suite benutzt, um Miniaturen von facettenreichen Charakter- oder Stimmungsstücken zu komponieren.
Gade wählte eben für die Erlebnisschilderung eines Ausflugs aufs Land eine Folge von fünf verschiedenen Charakterstücken. Dabei schlägt der Däne einen stets heiteren, bisweilen idyllischen Ton an, der wenig an den düsteren, schwerfälligen Klang der nordischen Werke seiner frühen Schaffensperiode erinnert. Ähnlich wie in Ludwig van Beethovens Pastoral-Sinfonie werden im Sommertag keine Naturereignisse oder -geräusche in der Musik imitiert. Vielmehr geht es um Stimmungen und Eindrücke einer Szenerie, so dass die fünf Sätze eher die Erinnerung an einen Sommertag auf dem Land bedeuten als konkret die Ereignisse zu schildern. Deutlicher wird Gade jedoch bei der Wahl der Schauplätze. Die Waldeinsamkeit weist ebenso wie das Lustige Volksleben auf eine Landschaft in Dänemark oder Skandinavien hin, wo Traditionen wie Volksmusik und Volkstanz besonders gepflegt wurden. Hinzu kommt, dass in der dänischen Erstausgabe die Humoreske noch den Untertitel Im Fischerdorf trug. Schließlich erscheint es wenig plausibel, dass der Nationalpatriot Gade, der Dänemark in den letzten 10 Jahren seines Lebens nur noch selten verließ, eine andere als eine nordische Landschaft im Blick gehabt haben mag. Da die Suite im Sommer 1879 in Gades Sommerresidenz in Fredensborg in der Nähe von Kopenhagen entstand, weist dies möglicherweise auf eine konkrete Lokalität des Sommertages hin.

Das Thema des Sommertags und seiner Stimmungen weist letztendlich einen hohen Bezug zu Region und Zeit auf. Natur- und Landschaftsschilderungen treten in der nord-europäischen Musik gehäuft auf. Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der wachsenden Nationalstaaten, wurde die Frage nach der Besonderheit, nach der Identität eines Landes immer drängender. In Skandinavien zog man sich auf die Einzigartigkeit und den mächtigen Eindruck der Landschaft zurück. Die Schnittstelle zwischen Natur, (musikalischer) Kultur und Mensch stellte die Volksmusik dar, durch die nationale Identität zum Klingen gebracht wurde. Gade war in den 1840er Jahren der erste Skandinavier gewesen, dem es gelang, Volks- und Kunstmusik zu vereinen, als er ein dänisches Lied als Motto in seine geschichtemachende Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 5 integrierte. Später traten mit Edvard Grieg oder Jean Sibelius Komponisten in Erscheinung, die sich von der Landschaft inspirieren ließen und sich als regelrechte „musikalische Maler“ betätigten. Neben dem Rückzug auf die Natur als Bezug auf die eigene Identität ist zu bedenken, dass die Schilderung eines Sommertags auf dem Land auch den Ausdruck von Zeitgeist am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet. Die Vereinfachung der Mobilität und des Reisens brachte eine Unmenge von so genannten Reisepiècen hervor, in denen – häufig genug in Salonmusik-Manier – ein musikalisches „Souvenir“ komponiert wurde. Die unbeschwerte Stimmung des Gadeschen Sommertags verstärkt sich zusätzlich vor der wachsenden und sich beschleunigenden Industrialisierung und Verstädterung. Die Sehnsucht nach (Wald-)Einsamkeit, nach der ursprünglichen und ungebändigten Natur wuchs zusehend und stellte die gleichzeitig mit ihr aufkommende Technik- und Fortschrittsbegeisterung in Frage.

Yvonne Wasserloos, Februar 2009

Aufführungsmaterial ist von der Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Niels Wilhelm Gade
(b. Copenhagen, 22 February 1817 – d. Copenhagen, 21 December 1890)

En Sommerdag paa Landet
(“A Summer’s Day in the Country”)
Five Orchestral Pieces, op. 55

I. Früh. Allegro vivo e grazioso
II. Stürmisch. Allegro molto
III. Waldeinsamkeit. Larghetto con moto
IV. Humoreske. [Im Fischerdorf] Allegro comodo e scherzoso
V. Abends. Lustiges Volksleben. Andantino – Allegro vivace

Scoring: 2 fl – 2 ob – 2 cl – 2 bn – 3 hn - 2 tp – timp – str
Duration: ca. 24 min.

 

Preface
“When I came with my Summer’s Day, a smile of pleasure spread throughout the entire orchestra, which took delight in every piece.” Thus Niels W. Gade, writing to his family about the Hamburg Orchestra’s response to A Summer’s Day in the Country. In November 1880, the Danish composer was on a European tour, and having given performances in Cologne, he accepted an invitation to conduct his own music at the Hamburg Festival. The concert, held on 3 December 1880, featured not only the still relatively unknown Summer’s Day in the Country, but also his Fourth Symphony in B-flat major (op. 20), a work popular throughout Europe, and his Michelangelo Overture (op. 39).

A Summer’s Day in the Country originated in 1879, and thus belongs among Gade’s fairly late orchestral works. The première was given under his own baton on 21 April 1880 at the Copenhagen Musical Society (Musikforeningen), the city’s leading concert venue. A few months later, on 28 October 1880, Carl Reinicke conducted the first German performance in the Leipzig Gewandhaus. The suite was also given in England and Finland, both complete and in excerpt.

Although orchestral music forms the bedrock of Gade’s oeuvre, with eight symphonies and an equal number of concert overtures, he produced only one orchestral suite in addition to his op. 55, namely, Holbergiana (op. 61), likewise a late composition of 1884. Since the mid-eighteenth century, the suite had gradually declined and developed into an unpopular genre. Its light character and original formal design as a series of dance pieces made it closely associated with court music, and hence with the Baroque and Viennese classical eras. With the rise of the bourgeoisie as the carrier stratum of musical life, it gradually fell from favor. It was not until the late nineteenth and early twentieth centuries that it experienced a renaissance. As a result, we find compositions in the allegedly “historical” form of the suite, sometimes chosen to present an equally “historical” antiquated theme. One example is Edvard Grieg’s Holberg Suite, composed for the two-hundredth birthday of the poet Ludvig Holberg. The suite form was also used as a vehicle for multi-faceted character or genre pieces in miniature format.

Gade chose a series of five character pieces to depict his experiences on a trip to the countryside. The tone he struck was always merry, sometimes idyllic, but far removed from the dank and portentous sound of his early Nordic works. Rather than providing musical imitations of events or sounds in nature, A Summer’s Day in the Country attempted, as in Beethoven’s Pastoral Symphony, to evoke moods and impressions of a natural landscape. As a result, the five pieces tend to portray memories of a summer outing in the countryside rather than specific occurrences. Gade is more specific, however, in his choice of scene. Both Waldeinsamkeit (“Forest Solitude”) and Lustiges Volksleben (“Merry Country Life”) point to a landscape in Denmark or Scandinavia, where traditions of folk song and folk dance were specially cultivated. Further, the first Danish edition gave the Humoresque the subtitle Im Fischerdorf (“In the Fishing Village”). Finally, it is highly unlikely that Gade, a patriotic man who seldom left Denmark in the final decade of his life, had anything but a Nordic landscape in mind. The suite originated in the summer of 1879 at Gade’s summer retreat, Fredensborg near Copenhagen, thereby perhaps suggesting a specific locale.

In the final analysis, the theme of a summer’s day and its moods is closely tied to region and age. Depictions of nature and landscapes occur frequently in northern European music. In the nineteenth century, the age of emerging nation-states, the question of national uniqueness and identity became increasingly urgent. Scandinavian countries tended to focus on the power and uniqueness of their landscapes. The point at which nature, culture (music), and human beings intersected was folk music, which gave acoustical form to the national character. In the 1840s, Gade became the first Scandinavian to unite folk and art music when he used a Danish song as a motto in his epochal First Symphony in C minor (op. 5). Later other composers, such as Edvard Grieg and Jean Sibelius, sought inspiration in the landscape, eventually becoming fully-fledged “painters in notes.” Besides relating to nature and national identity, A Summer’s Day in the Country also expresses a late nineteenth-century zeitgeist. Growing mobility and transportation facilities led to a welter of so-called “travel pieces” that amounted to musical souvenirs, often enough in a salon style. The carefree mood of Gade’s op. 55 is accentuated by the growth and acceleration of industrialization and urbanization. A longing for (forest) solitude, for pristine and untrammeled nature, grew noticeably, casting doubt on the nascent mania for technology and progress.

Translation: Bradford Robinson

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.