Alexander Sergejewitsch Dargomyschski
(b. Troizkoje bei Tula, 14. Februar 1813 - gest. St. Petersburg, 17. Januar 1869)

Drei Orchesterwerke
Baba-Jaga (1862)
Kasatschok (1864)
Finnische Phantasie (1863-67)

 

Vorwort
Alexander Dargomyschski nimmt einen festen Platz in der russischen Musik-geschichte ein als Bindeglied zwischen dem brillanten Mickail Glinka im frühen 19. Jahrhundert und den Gipfelerscheinungen Tschaikowsky und dem „Mächtigen Häuflein” in der zweiten Jahrhunderthälte, die allesamt Dargomyschski für sich als Vorbild beanspruchten. Diese vermittelnde Rolle zeigt sich am deutlichsten im Musik-theater, wo sich seine heute noch beliebte Russalka (1848-54) als wichtigste Opern-komposition der Jahrhundertmitte etabliert hat, sowie im Kunstlied, wo direkte Entwicklungslinien bis Tschaikowsky und Mussorgsky nachgewiesen werden können. Kaum weniger Aufmerksamkeit jedoch verdient aus der gleichen Perspektive sein zahlenmäßig beschränktes, heute weitaus weniger beachtetes Orchesterschaffen.

Ironischerweise war es erst der Mißererfolg der heute noch regelmäßig aufgeführten Russalka im Jahre 1856, der Dargomyschskis Gedanken überhaupt auf die Orche-stermusik lenkte. In der festen Überzeugung, seine Theaterwerke fänden in Rußland keine richtigen Aufführungsmöglichkeiten (Russalka wurde, da das Opernhaus für russischsprachige Werke damals verschlossen blieb, in einem Zirkusbau uraufgeführt), beschloß er, sich einer ausgedehnten Europareise zu unterziehen, und brauchte daher Orchestermusik, um für seine Kunst die Werbetrommel zu rühren. In den drei so entstandenen Orchesterwerken, die hier allesamt als Studien-partitur erscheinen, knüpfte er ausgiebig an die Volksmusik Osteuropas an und setzte die brillante Instrumentationskunst ein, für die schon damals die russischen Orchestermusik bekannt war. Auch wenn keines der drei nämlichen Werke zu Lebzeiten des Komponisten im Druck erschien, haben sie heute einen wohlverdienten Platz im russischen Konzertrepertoire und werden nicht nur wegen ihrer fortschrittlichen historischen Vermittlerrolle, sondern auch wegen der eigenen Verdienste geschätzt.

Baba-iaga, ili S Volgi nach Riga: shutka-fantaziia
(Baba-Jaga, oder Von der Wolga nach Riga: Scherzo-Phantasie)

Baba-Jaga, obwohl 1862 als erstes entstanden, gelangte als letzes der drei hier dargebotenen Orchesterwerke zur Aufführung: Die Uraufführung erfolgte erst posthum am 31. Januar 1870 in St. Petersburg. Anders als bei der bekannten gleichnamigen Orchesterdichtung Lyadows (1905) – geschweige denn bei Mussorgskys berühmtem Porträt in den Bildern einer Ausstellung (1874) – richtet Dargomyschski sein Augenmerk weniger auf die boshafte Hexe Baba-Jaga als auf ihren fantastischen Flug durch die Luft von der Wolga bis zur deutschen Hafenstadt Riga im heutigen Lettland, wobei die Alltagsszenen unterwegs keineswegs mißachtet werden. Beim langsamen ersten Teil handelt es sich um Variationen über das bekannte russische Volkslied Den Wolgafluß hinunter, die in einer abschließenden Apotheose wirkungsvoll gipfeln. Darauf folgt ein seltsam unzusammenhängender Mittelteil über das Volkslied Zeig mir, Mutter, wie man den Flachs ausbreitet mit schrägen Akkordbil-dungen und einem grotesken Fagottsolo, das wohl die boshafte Baba-Jaga musikalisch verkörpert. Die Ankunft in Riga wird durch ein deutsches Volksthema in einem lebhaften Dreiertakt mit interessant eingeschobenen Scheintakten signalisiert. Die Erstausgabe von Baba-Jaga erschien – wiederum posthum – 1872/73 als Partitur sowie als vom Komponisten selber erstellte Fassung für zwei Klaviere beim Petersburger Verlag Bessel.

Malorossijskij Kozacëk
(Der Ukrainische Kasatschok)

Beim Kasatschok handelt es sich um einen ukrainischen Volkstanz im schnellen 2/4-Takt mit zunehmendem Tempo. Der Name entstammt der gleichen Wurzel wie „Kosake“, daher auch der Titel „Phantasie über einen Kosakentanz“, dem man gelegentlich beim vorliegenden Orchesterwerk begegnet. Dieser Volkstanz war nicht nur im französischen Ballett des 18. Jahrhunderts beliebt, sondern wurde auch zur Modeerscheinung in den 1820er Jahren in Paris, als er dort nach dem Ende der Napoleonischen Kriegen durch russische Truppen eingeführt wurde. Das 1864 entstandene Orchesterwerk Dargomyschskis wurde bei seiner Brüsseler Uraufführung am 26. Dezember des gleichen Jahres mit Begeisterung aufgenommen und erschien bereits 1867 als Partitur und als eine vom Komponisten verfaßten vierhändige Fassung in Druck. Die stark kontrastierenden Orchesterfarben, die fesselnden harmonischen Umdeutungen sowie das schwindelerregende Stretta-Finale machte großen Eindruck auf den jungen Tschaikowsky, der eine (1867 veröffentlichte) Klavierbearbeitung des Werks selbst anfertigte und 1872 deren kompositorische Grundprinzipien im Schlußsatz seiner Zweiten Symphonie als „wilder Tanz im Stile Dargomyschskis“ anwendete.

Chukhonskaja fantazija
(Finnische Phantasie)

In diesem zwischen 1863 und 1867 entstandenen Orchesterwerk versuchte Dargo-myschski erneut, Szenen aus dem Alltagsleben musikalisch darzustellen, wobei er sich diesmal zweier finnischer Volksmelodien bediente. Es handelt sich dabei um den einzigen Versuch einer Sonaten-Hauptsatzform in seinem gesamten Orchesterschaf-fen, was die Finnische Phantasie auch zum wichtigen Bindeglied zwischen Glinka und den großen russischen Symphonikern macht (sie wurde nachweislich von Borodin hochgeschätzt). Die absichtlichen kompositorischen Unbeholfenheiten, die teilweise gewagt unzusammenhängende Satzweise und die modern wirkenden Details, die einen Mussorgsky vorwegzunehmen scheinen, machen das Werk zum beliebten Gegenstand für Historiker, die gerne auf seine „fortschrittlichen“ Tendenzen hinweisen. Besonders auffällig ist die große Vielfalt der Orchestrierung, die sich innerhalb kürzester Zeit vom Orchestertutti bis zur Sologeige erstreckt. Die Finnische Phantasie erlebte 1869 in St. Petersburg ihre Uraufführung und wurde auch dort – wiederum posthum – 1872/73 als Partitur und als vierhändige Bearbeitung veröffentlicht. Die modernistischen Züge gingen an den Komponisten des „Mächtigen Häufleins“ nicht spurlos vorüber: Das Werk wurde nachweislich am 6. Januar 1873 bei einer musikaliscen Abendgesellschaft im Hause Bessel von Balakirew und Mussorgsky am Klavier vorgespielt.

Bradford Robinson, 2009

 

Aufführungsmaterial ist von Universal Edition, Wien (Baba-Jaga / Kasatschok) und Bessel, Paris (Finnische Phantasie ) zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

Alexander Sergeyevich Dargomyzhsky
(b. Troitskoye, Tula district, 14 February 1813 – d. St. Petersburg, 17 January 1869)

Three Orchestral Works:
Baba-Yaga (1862)
The Ukrainian Kazachok (1864)
Finnish Fantasy (1863-7)

Preface
Alexander Dargomyzhsky has earned a firm place in Russian music history as the major link between the brilliant Glinka in the early nineteenth century and, in its second half, the magnificent flowering of Tchaikovsky and the “Mighty Handful,” all of whom claimed him as an important forerunner. This intermediary role is most apparent in the musical theater, where his perennial Rusalka (1848-54) has established itself as unquestionably the most important mid-century Russian opera, and equally so in the art song, where direct links can be drawn to Tchaikovsky and Mussorgsky. But his orchestral works, though few in number and little-known today, merit no less attention from this same perspective.

Ironically, it was the initial failure of the now popular Rusalka in 1856 that turned Dargomyzhsky’s thoughts to orchestral music. Convinced that his stage works could not receive a proper hearing in his native Russia (Rusalka was premièred in a circus building, the opera house being then out-of-bounds to works in Russian), he decided to embark on an extended European tour and needed orchestral music in order to advertise his art. In all three works that followed, here published in miniature score, he drew on eastern European folk sources and applied the techniques of instrumentation that were already making Russian orchestral music famous for its brilliance. Though none of the three was published during his lifetime, they now form part of the Russian orchestral repertoire and are appreciated not only for their forward-looking historical role but on their own merits.

Baba-iaga, ili S Volgi nach Riga: shutka-fantaziia
(Baba-Yaga, or From the Volga to Riga: Scherzo-Fantasy)

Though composed in 1862, Baba-Yaga was the last of the three works in our volume to reach public performance (its première was given posthumously in St. Petersburg on 31 January 1870). Unlike Lyadov’s famous orchestral treatment of the same subject (1905), much less Mussorgsky’s in Pictures at an Exhibition (1874), Dargomyzhsky concentrates less on the witch figure of Baba-Yaga than on her fantastical air-born journey from the River Volga to the German town of Riga in present-day Latvia, with much attention given to scenes of everyday life encountered along the way. A slow introduction treats us to a set of variations on the well-known folk song Down on the Volga River, culminating in a final apotheosis. There then follows a strangely disjointed central episode on the folk song Show me, mother, how to spread flax, with contorted harmonies and a grotesque bassoon solo perhaps personifying the malevolent Baba-Yaga herself. The arrival in Riga is signified by a German folk theme in a lively triple rhythm shot through with interesting hemiola effects. Baba-Yaga was first published, likewise posthumously, by Bessel of St. Petersburg in 1872-3, both in full score and in a two-piano version prepared by Dargomyzhsky himself.

Malorossiysky Kazachok
(The Ukrainian Kazachok)

The kazachok is a fast Ukrainian folk dance set in 2/4 meter with a constantly increasing tempo. Its name derives from the same root as “Cossack” – hence the title “Fantasy on a Cossack Dance” occasionally encountered for the work in our volume. The dance was much featured in eighteenth-century French ballets and enjoyed a fad during the 1820s in Paris, where it was introduced by Russian troops at the end of the Napoleonic Wars. Composed in 1864, Dargomyzhsky’s piece achieved a notable success at its première in Brussels on 26 December that same year, and was published in full score and the composer’s own arrangement for piano four-hands in 1867. Its violent timbral contrasts, interesting reharmonizations, and exhilarating stretta finale made a great impression on Tchaikovsky, who prepared a piano arrangement of the piece (published in 1867) and incorporated its basic principles into the final movement of his Second Symphony (1872), calling it “a wild dance in imitation of Dargomyzhsky.”

Chukhonskaya fantaziya
(Finnish Fantasy)

In this piece, composed from 1863 to 1867, Dargomyzhsky again sought to depict scenes from everyday life, this time on the basis of two Finnish melodies. It is the only attempt at a sonata-allegro form in his orchestral music, and thus forms an interesting link between Glinka and the Russian symphonic tradition (Borodin is known to have admired it). The deliberate grotesqueries, disjoint textures, and modern touches in anticipation of Mussorgsky have endeared the work to music historians who enjoy pointing to its “progressive” tendencies. Especially noteworthy is the variety of its orchestration, which can range within the smallest compass from full tutti to solo violin. The Finnish Fantasy was premièred in St. Petersburg in 1869 and published there, again posthumously, in 1872-3 in full score, parts, and an arrangement for piano four-hands. Its modernisms were not lost on the Mighty Handful: it is known to have been played through at the piano by Balakirev and Mussorgsky at a soirée held by the publisher Bessel on 6 January 1873.

Bradford Robinson, 2009

For performance material please contact the publisher Universal Edition, Vienna (Baba-Yaga / The Ukrainian Kazachok) and Bessel, Paris (Finnish Fantasy). Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.