Jean-Baptiste Lully
(geb. Florenz, 28. November 1632 – gest. Paris, 22. März 1687)

Drei Grands Motets (1664)
für Soli, Doppelchor und Instrumente
Plaude laetare Gallia (1668) – Te Deum (1677) – Dies irae (1683)

Vorwort
Im Jahre 1661 schlug Jean-Baptiste Lully – in einem meisterhaften Schachzug des “career management” – aus seiner Jugendfreundschaft mit dem künftigen König Ludwig XIV. Kapital und wurde zum Surintendant de la musique du roi ernannt. Im Laufe der Zeit sollte er das Monopol über die sämtliche Instrumental - und Bühnen-musik am königlichen Hofe und daher in ganz Frankreich an sich reißen. Daraufhin schuf er die lange Reihe der musikalischen „Unterhaltungen“, die schließlich zum umfangreichen Korpus seiner vielen Ballettmusiken, der bedeutenden Zusammen-arbeiten mit Molière und vor allem der dreizehn Tragédies lyriques führen sollte, die sich auf königlichem Erlaß bis ins späte 18. Jahrhundert hinein im Opernrepertoire behaupteten. Ein Amt blieb Lully jedoch vorenthalten – die Chapelle royale – und die Frage, die heute die Musikwissenschaft beschäftigt, lautet: Warum sollte gerade dieser mit Abstand seinerzeit erfolgreichste Komponist in ganz Europa nicht weniger als 12 Grands motets und 11 Petits motets in einem Kunstbereich schaffen, den er genauso gut seinen weniger gut situierten Kollegen hätte überlassen können.

Die Antwort auf diese Frage ist wohl bei Lullys Dienstherrn, dem „Sonnenkönig“ höchstpersönlich zu suchen. Wie viele andere junge Männer hatte Ludwig XIV. für das umfangreiche katholische Hochamt nicht viel übrig und zog eher die kürzere „stille Messe“ vor, die nicht gesungen, sondern vorwiegend rezitiert wurde. Folglich hielt man es für angebracht, eine musikalische Liturgie zur Ehre des anwesenden Königs bei der stillen Messe zu schaffen. Diese Aufgabe fiel dem eher unbedeutenden Dichter und Librettisten Pierre Perrin (1620-1675) zu, der 1665 genau zu diesem Zweck eine Sammlung von Motettentexten veröffentlichte: die Cantica pro Capella Regis (Perrin hatte berits 1661 den Text einer Motette zur Feier der Taufe des Dauphins geschrieben). Im Vorwort zu dieser Ausgabe lieferte Perrin eine Begriffsbestimmung der „Motette“, die genau auf den Geschmack des Königs zugeschnitten war: „Bei der Motette handelt es sich um ein variiertes Stück, das aus mehreren miteinander verwandten, jedoch unterschiedlichen Abschnitten für Stimme oder Instrumente besteht [...]. Der Abwechslungsreichtum des Stücks wird umso größer und die kompositorische Ausführung für den Musiker umso leichter sein, wenn der gleiche Abwechslungsreichtum auf die Strophen und Versen angewandt wird und diese auf einen ständigen Wechsel angelegt werden.“ Kurzum: Das Hauptprinzip der neuen Motettenform sollte auf eine Einheitlichkeit in der Vielfalt zielen, d.h. kurze Textpassagen sollten mit kontrastierenden Stilmitteln innerhalb einer vereinheitlichenden formalen Anlage aneinandergereiht vertont werden. Die Motettentexte in Perrins Sammlung wurden als mustergültig für die Gottesdienste der Chapelle royale und daher für alle Kirchen Frankreichs angesehen. Was fehlte, war lediglich eine ebenso mustergültige Musik.

Da trat Lully auf den Plan, der bereits 1661 mit einer Grand motet Jubilate deo seinen Rivalen Cavalli überflügelte und der 1663 aus bisher unbekannten Gründen eine weitere großartige Motette verfaßt hatte: das zu Recht berühmt gewordene Miserere mei deus. Für diese Vertonung griff der Komponist auf die venezianische Doppelchortradition des frühen 17. Jahrhunderts – die Cori spezzati – zurück und schuf nach den Worten des Bußpsalmes (51. Psalm) ein äußerst prachtvolles Vokal-werk, das aus solistisch vorzutragenden Récits, einem Petit choeur, einem Grand choeur sowie einem fünfstimmigen Instrumentalensemble besteht, wobei letzteres (außer etwa in T. 87-92) lediglich die Gesangstimmen verstärkt. Zwar verhielt sich die musikalische Satzweise dieses Werks vorwiegend homophon, die ständig sich wechselnden Kombinationen von Solostimmen, einfach besetztem Chor und großem Chor vermitteln jedoch den Eindruck einer abwechslungsreichen Klangvielfalt von unterschiedlicher Dichte und Lautstärke – bunt, kontrastreich und dramatisch angelegt mit gelegentlichen kurzen kontrapunktistischen Einsprengseln. Bei der ersten Aufführung des Miserere im Jahre 1663 wurden die Zuhörer schlichtweg überwältigt, und das Werk diente als Vorbild für die Grands motets, die Lully fortan mit ziemlicher Regelmäßigkeit komponierte.

Zu diesen Grands motets gehören auch die drei in der vorliegenden Ausgabe versammelten Werke Plaude laetare Gallia (1668), Te Deum (1677) und Dies irae (1683). Beim erst genannten handelt es sich um die erste von insgesamt drei Vertonungen von lateinischen Texten, die Lully der oben erwähnten Gedichtsamm-lung Perrins direkt entnahm. Das Werk wurde 1668 zur Tauffeier des neugeborenen Dauphins komponiert, was auch der schwülstige Wortlaut des Textes mit seinem Hin-weis auf die heraldische Lilie als Symbol für Frankreich erklärt: „Freue dich und singe, Frankreich, denn die Lilie ist mit himmlischem Tau beträufelt. Der Dauphin ist im heiligen Taufbecken gebadet, der Christ Christi gewidmet.“ Das Werk erlebte am 24. März 1668 in St-Germain-en-Laye seine Uraufführung.

Das wohl berühmteste kirchliche Werk Lullys – das Te Deum – wurde ebenfalls anläßlich einer Tauffeier komponiert, diesmal jedoch 1677 für den eigenen Sohn des Komponisten, dem kein geringerer als der Sonnenkönig selber Pate stand. Das Werk erlebte am 9. September 1677 in Fontainebleau seine Uraufführung und wurde sofort zum Liebling der Zuhörer und des Königs zugleich; Le Mercure Galant konnte be-richten, daß „le Roy le trouva si beau qu’il voulut l’entendre plus d’une fois“. An späteren Aufführungen nahmen nachweislich bis zu 300 Musiker teil. Bei genau einer solchen Festaufführung mit rund 150 Musikern am 8. Januar 1687 kam es zu dem berühmten Vorfall, bei dem sich Lully mit dem Taktstab am Fuß schlug, sich eine brandige Wunde zuzog und zehn Wochen darauf an den Folgen davon starb. Bei seiner eigenen Trauerfeier in der Eglise des Feuillants ertönte ironischerweise ebenfalls das Lullysche Te Deum. Im 18. Jahrhundert wurden Aufführungen des Te Deum nachweislich gekürzt; eine wichtige, in Versailles aufbewahrte Quelle in der Hand von André-Danican Philidor des Älteren enthält immer noch Überklebungen, die auf die damals üblichen Striche hindeuten.

Der Text des Grand motet Dies irae entstammt bekanntlich der römisch-katholischen Totenmesse, und die Vertonung Lullys wurde dementsprechend auch anläßlich einer Todesfeier aufgeführt, nämlich 1683 für die französische Königin Marie-Thérèse, die am 30. Juli verstarb. Die Uraufführung fand am 1. September des gleichen Jahres in der Abtei St-Denis statt, wobei sich die Mönche der Abtei den Instrumentalisten und Sänger der königlichen Kammer musizierend zugesellten. Das Dies irae gehört zu den wenigen Werken Lullys, bei denen ein gregorianischer Choral eingesetzt wird; statt jedoch als Cantus firmus zu fungieren, wird er lediglich vom Baßsolisten am Anfang des Werkes (mit einer historisch nicht verbrieften Erhöhung der siebten Tonstufe) kurz zitiert.

Alle drei in diesem Band versammelten Motetten sind 1684 in der aufwendig hergestellten, liebevoll herausgegebenen Sammlung von Musik der Chapelle royale beim Pariser Verleger Ballard als Stimmbücher erschienen. Überliefert sind sie auch in einer Anzahl von handschriftlichen Quellen, von denen jedoch keine ein Autograph des Komponisten darstellt. Obwohl die Grands motets – vor allem das Te Deum – während des Ancien régime eher häufig zur Aufführung gelangten, wurden sie 1789 von der Revolution wie hinweggefegt und fielen – wie die Musik Lullys insgesamt – der Vergessenheit anheim. Ihre Wiederentdeckung verdanken wir einem einzigen engagierten französischen Musikwissenschaftler namens Henri Prunières (1886-1942), der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Musik des Grand siècle eigenhändig erneut ins Leben zu rufen. Nachdem er bereits 1910 eine Lully-Biographie veröffentlicht hatte, nahm Prunières 1930 eine Gesamtausgabe der Werke Lullys vor, die leider 1939 noch unvollständig abgebrochen werden mußte. Unsere drei Motetten erschienen alle mit einer Aussetzung des Generalbasses durch Henry Letocart und Mlle G. Sazerac de Forge im 2. Band, 3. Serie der Gesamtausgabe Prunières‘. Später wurde dieser Band 1966 vom New Yorker Verlag Broude Brothers auch nachgedruckt. Beim Dies irae wurden die in der Bibliothèque de France aufbewahrte Partiturhandschrift sowie der gedruckte Stimmensatz Ballards von den Éditions Fuzeau als Faksimileausgabe veröffentlicht. Unsere Ausgabe stellt eine getreue Wiedergabe der bahnbrechenden Ausgabe Prunières‘ aus dem Jahr 1935 in Studienformat dar.

Bradford Robinson, 2009

Aufführungsmaterial ist von Broude Brothers, Williamstown zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Jean-Baptiste Lully
(b. Florence, 28 November 1632 – d. Paris, 22 March 1687)

Three Grand Motets
(1664)
for solo voices, two choruses and instruments
Plaude laetare Gallia (1668) – Te Deum (1677) – Dies irae (1683)

Preface
In 1661 Jean-Baptiste Lully, in a masterly stroke of what would be known today as career management, capitalized on his teenage friendship with the future Louis XIV and advanced to become Superintendent of the King’s Music. Before long he held a royal monopoly on all instrumental and stage music at court, and therefore by definition in France. He thereupon proceeded to create a series of “entertainments” that would eventually lead to many splendidly staged ballets, noteworthy collaborations with Molière, and especially his thirteen tragédies lyriques, which remained in the repertoire by royal decree until well into the late eighteenth century. But one office eluded him – the Chapel Royal – and the question that exercises music historians today is why this composer, by far the most successful in the whole of Europe in his day, would produce no fewer than twelve grands motets and eleven petits motets in a field that he might just as well have left to his less well-appointed contemporaries.

The reason, perhaps, resides with his employer, the Sun King himself. Louis XIV, like young men everywhere, did not care for the lengthy High Mass and much preferred to attend the short Low Mass, which was mainly recited rather than sung. It was thus deemed necessary to create a musical liturgy for the Low Mass that would befit the glory of the royal presence. This task fell upon Pierre Perrin (1620-1675), a minor poet and librettist who, in 1665, published a collection of motet texts for precisely this purpose: the Cantica pro Capella Regis (he had already written the words to a motet for the baptism of the Dauphin in 1661). In a preface, Perrin provided a definition of “motet” tailored to suit the taste of the king: “The motet is a varied piece of several strains for voice or instruments, connected but different [...]. However, the variety of the piece will be all the greater, and the composition easier for the musician, if variety is practiced in the stanzas and verses and if they are composed for continual change.” In other words, the guiding principal behind the new motet at the Chapel Royal was to be unity in diversity: short passages of text set to contrasting styles of music, the whole to be contained within a large-scale formal design. The poems in Perrin’s collection were seen as exemplary for services at the Chapel Royal, and hence for all churches in France. What was lacking was exemplary music.

Enter Lully, who had already written a grand motet in 1661 (Jubilate deo) to outflank his rival Cavalli, and who, for still obscure reasons, had composed a splendidly effec-tive grand motet the previous year: the justly famous Miserere mei deus. For this sett-ing Lully recalled the early seventeenth-century Venetian double chorus tradition – the cori spezzati – to produce a work of great magnificence based on the words of the penitential Psalm 51. His setting called for solo récits, a petit choeur, a grand choeur, and a body of instrumentalists who mainly (except in mm. 87-92) doubled the vocal parts. The style of the music was for the most part strictly homophonic, but the changing combinations of solo voices, small chorus, and large chorus created an impression of constantly shifting densities and volumes of sound – rich, varied, and dramatic, with occasional brief passages of counterpoint. Lully’s Miserere overwhelmed its audience with its beauty at its first hearing in 1663, and it served as a model for the grands motets that Lully would compose with some regularity from then on.

Among those motets were the three collected in our volume: Plaude laetare Gallia (1668), Te Deum (1677), and Dies irae (1683). The first is one of Lully’s three direct settings of a Perrin poem, taken from the above-mentioned collection of 1665. It cele-brates the baptism of the new-born Dauphin in 1668, hence the flowery text with its reference to the fleur-de-lys: “Rejoice and sing, France: the lily is bathed with heavenly dew. The Dauphin is bathed in the sacred font, and the Christian is dedicated to Christ.” The work was premièred in St-Germain-en-Laye on 24 March 1668.

The Te Deum, Lully’s best-known sacred work, was likewise composed for a baptism, this time however that of Lully’s own son, for whom Louis XIV stood godfather in 1677. It was premièred at Fontainebleau on 9 September 1677, and immediately became a favorite with audiences and the king alike; Le Mercure Galant reported that “le Roy le trouva si beau qu’il voulut l’entendre plus d’une fois.” Later performances are known to have involved as many as three-hundred musicians. It was at just such a festive performance on 8 January 1687, involving one-hundred-fifty musicians, that Lully famously struck his foot while beating time to the music, inflicting the wound that would turn gangrenous and kill him ten weeks later. His funeral service in the Eglise des Feuillants was accompanied by this very same Te Deum. Performances in the eighteenth century are known to have been abridged; an interesting manuscript score in the hand of André-Danican Philidor l’ainé, preserved as Versailles, still contains paste-overs indicating the standard cuts.

The text of the Dies irae is, of course, taken from the Catholic Mass for the Dead, and accordingly Lully’s setting was performed at a Requiem service, namely for Queen Marie-Thérèse, who died on 30 July 1683. The première was given in the Abbey of St-Denis on 1 September 1683, when the instrumentalists and singers of the Chapel and the Royal Chamber were joined by the abbey’s monks. Lully’s work is one of his few sacred pieces to use a Gregorian chant, which, however, is merely quoted at the beginning by the solo bass (with an historically unsound raised seventh scalar degree) rather than serving as a cantus firmus.

All three of these motets were included in the lavish and lovingly edited collection of music from the Chapel Royal published in partbooks by Ballard in 1684. They have also come down to us in a large number of manuscript scores, none of which, however, is in Lully’s hand. Through frequently performed during the ancien régime (especially the Te Deum), they were swept aside by the Revolution and, like Lully’s music in general, fell into oblivion. Their rediscovery was the work of a dedicated scholar named Henri Prunières (1886-1942), who took it upon himself single-handedly to revive the music of the grand siècle. Having published a biography of Lully as early as 1910, he launched a complete edition of his works in 1930, which unfortunately had to cease publication in 1939 before reaching completion. Our three motets, with continuo realizations by Henry Letocart and Mlle G. Sazerac de Forge, occupy volume 2, series 3 of Prunières’ edition. Later the same volume was reprinted by Broude Brothers of New York (1966). The Dies irae has also been issued by Éditions Fuzeau in a facsimile of the handwritten score (preserved at the Bibliothèque de France) and the Ballard set of printed parts. Our volume reproduces the text from Prunières’ groundbreaking edition of 1935 in a study format.

Bradford Robinson, 2009

Aufführungsmaterial ist von Broude Brothers, Williamstown zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München