Antonín Dvořák
(geb. Nelahozeves, 8. September 1841 – gest. Prag, 1. Mai 1904)

Svatá Ludmila
(“Die Heilige Ludmila”) op. 71
Oratorum für Soli, Chor und Orchester (1885/86)

Vorwort
Alfred Littleton, Leiter des maßgebenden Londoner Musikverlags Novello, Ewer & Co., war besorgt: Sein Freund Dvořák war zwar mit einem neuen Oratorium fürs Leeds-Festival beauftragt worden, bevorzugte jedoch ein historisches Sujet aus der tschechischen Urzeit. „Um eines Erfolges beim englischen Publikum vollkommen sicher zu sein,“ – so schrieb er an den Komponisten am 31. März 1885 – „so ist es meines Erachtens absolut unerläßlich, daß das Sujet der Bibel entstammt. Ich hoffe also, daß Sie diese Angelegenheit freundlicherweise mit äußerstem Ernst in Erwägung ziehen werden.“ Trotz der kursiv hervorgehobenen Mahnworte hielt der glühende Patriot Dvořák an seinem Entschluß fest: Das Oratorium solle von Ludmila, der Schutzheiligen Böhmens, handeln und Begebenheiten aus dem frühen tschechischen Mittelalter beschreiben. Es blieb Littleton nichts anderes übrig, als resigniert an das Leeds-Festival zu schreiben: “Es stellt sich heraus, daß er fest entschlossen ist, seine eigene Idee als Sujet durchzuführen; und, da er sich langsam als eines der größten musikalischen Genies erweist, das wir je erlebt haben, so muß man die Entscheidung wohl am bestem ihm überlassen.“ Wir können nur raten, was aus diesem, dem dritten Oratorium Dvořáks geworden wäre, hätte er den Rat Littletons beherzigt; Tatsache ist jedoch, daß das so entstandene Oratorium Svatá Ludmila, obwohl vorwiegend zu Aufführungen im tschechischem Raum verurteilt, heute unter Dvořák-Kennern zu den grössten Schöpfungen des Komponisten zählt.

Bei der heiligen Ludmila handelt es sich um eine gut belegte historische Gestalt aus dem Böhmen des späten 9. bzw. frühen 10. Jahrhunderts, die bei der Christianisierung ihrer Heimat eine maßgebende Rolle gespielt hatte. Nachdem Ludmila im Jahre 874 als 14jährige den böhmischen Herzog Bořivoj heiratete, ließ sich das Ehepaar zwischen 882 und 885 – wohl aus politischen Überlegungen – zum Christentum bekehren. Bei der Taufe wirkte kein geringerer mit als der heilige Methodius, der mit seinem Bruder Kyrill die Heilige Schrift in die altkirchenslawische Sprache übersetzt hatte. So entstand auf diese Weise eine enge Beziehung zwischen dem Christentum Böhmens und dem orthodoxen Ritus. Die politischen Unruhen, die diese Bekehrung entfachte, führten jedoch zu Aufständen und schließlich zur Verbannung des Ehepaares. Nach dem Tod Bořivojs durfte sich die nunmehr 28jährige Ludmila in einer Burg in der Nähe von Prag niederlassen, wo sie später mit der Erziehung ihrer Enkelkinder – darunter auch des heiligen Wenzels – beauftragt wurde. In dieser Funktion geriet sie jedoch mit ihrer noch heidnischen Schwiegertochter Drahomíra in Konflikt, die Ludmila aus Angst vor deren Macht und Einfluß im Jahre 921 erdrosseln ließ. Schon kurz nach deren Hinrichtung erblühte um die Märtyrerin ein Kult, der sie bis heute zur Schutzheiligen von Böhmen und der Přemyslid-Dynastie kürte, darüberhinaus der von Winzern, Müttern, Großmüttern, Bekehrten, Witwen, Herzöginnen und christlichen Erziehern hat erheben lassen.

Nach diesen historisch belegten Ereignissen schuf der Schriftsteller und Übersetzer Jaroslav Vrchlický eine umfassende Tetralogie über das Leben der heiligen Ludmila. Daraus wählte Dvořák den ersten Teil, der sich mit der Jugend und Bekehrung der Heiligen befaßt und daher dem Komponisten größere Möglichkeiten zu großangelegten Chorsätzen im Stile Händels, romantischen Zwischenspielen und einem triumphierenden Schluß bot. Das Oratorium gliedert sich in drei Teile, wobei die historischen Begebenheiten leicht umgeändert wurden. um die dramatische Wirkung zu erhöhen:

1. Teil: Während der Einweihung einer heidnischen Statue der Göttin Baba vor dem versammelten Volk platzt der christliche Einsiedler Iwan (Baß) in die Feierlichkeiten hinein und zerstört das Götzenbild. Die aufgebrachte Menge will sich an ihm rächen, wird jedoch von Ludmila (Sopran) zurückgehalten, die den Eremiten in Schutz nimmt.
2. Teil: Ludmila befindet sich in der Einsiedelei Iwans. Da wird sie von einer Jagdpartie des Herzogs Bořivoj (Tenor) entdeckt, der zur Begleitung üppig-romantischer Liebesmusik von der Schönheit und Demut der jungen Frau berauscht wird und sich entschließt, sie zu ehelichen.

3. Teil: Bořivoj und Ludmila werden getauft und in einer großen Feier vermählt, bei der als christliches Symbol das altslawische Kirchenlied Hospodine, pomiluj ny (“Herr, erbarme dich unser”) aus dem 11. Jahrhundert in die Partitur eingeflochten und schließlich als C-Dur-Fuge verarbeitet wird.

Auch wenn sich das Oratorium Die Heilige Ludmila auf den ersten Teil der von Vrchlický anvisierten Tetralogie beschränkt, beinhaltet sie gut dreieinhalb Stunden Musik, und Dvořák fand sich bald unter großem Zeitdruck, um die Partitur vor der geplanten Uraufführung im Oktober 1886 rechtzeitig abzuschließen. Am 17. September 1885 machte er sich ans Werk und arbeitete praktisch ohne Unterbrechung bis in den Winter hinein, wobei er die Sorgen Littletons um die sofortige Drucklegung der Klavierauszüge beschwichtigte und die Vertonung in Teillieferungen abschickte. Im April zweifelte er sogar daran, das neue Werk überhaupt abschließen zu können (“Das Ganze ist sehr unangenehm und macht mir allergrößte Sorge”). Zum Glück jedoch fiel der 3. Teil kürzer aus als die beiden anderen, und am 30. Mai 1886 – nach gut neun Monaten Kompositionsarbeit – war es ihm gelungen, die vollständige Partitur abzuschließen.

Die Organisatoren des Leeds-Festival waren vom neuen Oratorium derart beeindruckt, daß sie die Uraufführung am vorletzten Tag des Festivals ansetzten. Vorher erschienen eine ausführliche Einleitung zum neuen Werk in der Novello-Zeitschrift The Musical Times sowie ein Interview mit dem Komponisten in der Pall Mall Gazette, in dem Dvořák seinen Patriotismus ausgiebig hervorheben konnte. Die Uraufführung fand am 15. Oktober 1886 unter der Leitung des Komponisten statt (und nicht am 16., wie Dvořák versehentlich in sein Manuskript eintrug). Das Publikum war äußerst angetan, die Presse ebenso, jedoch schlichen sich bald erste Zweifel am Werk ein, und zwar bezüglich seiner Länge, seines ausgesuchten Sujets sowie des holprigen, vom berühmt-berüchtigten Reverend Troutbeck besorgten englischen Texts. Obwohl Dvořák über sein Triumph in höchsten Tönen nach Hause schrieb, war ihm wahrscheinlich nicht bewußt, daß das abschließendeWerk des Festivals – The Golden Legend von Sir Arthur Sullivan – einen sogar noch größeren Triumph feierte und Die Heilige Ludmila in der Konzertplanung vieler vorgesehener Aufführungsorte in England, Schottland und den Vereinigten Staaten bald ersetzte. Weitere Aufführungen der Heiligen Ludmila fand in der Londoner St. James’s Hall (29. Oktober) sowie im Crystal Palace (6. November) statt, danach jedoch fristete das Werk in den unteren Bereichen des Oratoriumrepertoires ein eher tristes Dasein. Jahre danach versuchte Dvořák – wohl im Bewußtsein der vielen Gemeinsamkeiten seines Oratoriums mit der Grand opéra sowie mit feierlichen Nationalopern wie Smetanas Libuše –, das Werk in eine Bühnenfassung umzuarbeiten und zu kürzen. Auch diese Fassung, die am 30. Oktober 1901 in Prag über die Bretter ging, konnte sich jedoch nicht durchsetzten. Nichtsdestotrotz: Bis zum heutigen Tag hat Die Heilige Ludmila viele beredte Anwälte unter den großen tschechischen Dirigenten gefunden: Rafael Kubelík hat das Werk 1948 während des Prager Frühlings dirigiert, Karel Šejna 1954 im Prager Obecní dům, ebenfalls Vaclav Neumann 1987. Wohl die beeindruckendste neue Interpretation ist die von Jiří Bělohlávek, der das Werk zunächst 2004 mit der Tschechischen Philharmonie und dann 2007 unter tosendem Beifall in der Usher Hall in Edinburgh aufführte. Im gleichen Jahr wie die Prager Aufführung entstand auch eine herausragende CD-Einspielung unter der Leitung Bělohláveks, die auf dem Label Arco Diva erschien.

1886 – im Jahre der Uraufführung – wurde Die Heilige Ludmila vom New Yorker und Londoner Musikverlag Novello, Ewer & Co. als Partitur, Klavierauszug und Libretto (mit analytischen Bemerkungen von Joseph Bennett) veröffentlicht. Ein von František Bartoš, Jiří Berkovec und Antonín Čubr herausgegebene Neuausgabe erschien 1964 als Band II/3 der Dvořák-Gesamtausgabe. Bei dem vorliegenden Nachdruck der letztgenannten Ausgabe handelt es sich um die erste Veröffentlichung dieses großartigen Oratoriums als Studienpartitur.

Bradford Robinson, 2009


 

Aufführungsmaterial ist von der Dilia, Prag zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

eptember 1841 – d. Prague, 1 May 1904)

Svatá Ludmila
(“Saint Ludmila”)
Oratorio for solo voices, chorus and orchestra, op. 71 (1885-6)

Preface
Alfred Littleton, of the redoubtable London publishers Novello, Ewer & Co., was concerned: his friend Dvořák had been commissioned to write a new oratorio for the Leeds Festival, but was leaning toward a subject from Czech history. “In order to make a certain success with the English public,” Littleton wrote on 31 March 1885, “it is I think of the utmost importance that the subject should be taken from the Bible. I hope therefore you will kindly give this matter your most serious consideration.” Despite his heavily italicized pleading, the ardently patriotic Dvořák remained adamant: the oratorio would be about Ludmila, the patron saint of Bohemia, and would depict events from medieval history. Littleton could only write in resignation to Leeds: “I find he is determined to carry out his own idea as to subject, and, as he is distinctly proving himself to be one of the greatest musical geniuses we have ever had, he must be allowed to decide for himself.” We can only guess what might have become of this, Dvořák’s third oratorio, if he had followed Littleton’s advice; but the resultant Svatá Ludmila, though virtually limited to Czech performances, is regarded today by Dvořák’s admirers as one of his greatest creations.

St. Ludmila was a well-documented figure from late ninth- and early tenth-century Bohemia who played a leading part in the Christianization of her native country. Married to the Bohemian Duke Bořivoj at the age of fourteen in 874, she and her husband converted to Christianity, albeit most likely for political reasons, between 882 and 885. As they were baptized by none other than Saint Methodius, the co-translator with his brother Cyril of the Holy Scripture into Old Church Slavonic, their union established a close link between Bohemian Christianity and the Eastern Rite. The political turmoil that followed upon their conversion led to rebellion and exile; and when Ludmila was widowed at the age of twenty-eight she was settled in a nearby castle and entrusted with the education of her grandchildren, including the later St. Wenceslas. In this capacity she came into conflict with her pagan daughter-in-law Drahomíra, who, fearing Ludmila’s power and influence, had her strangled in 921. A cult immediately arose around the martyred Ludmila, and to the present day she has been honored as the patron saint of Bohemia and the Přemyslid dynasty and the protectress of vintners, mothers, grandmothers, converts, widows, duchesses, and Christian educators.

Drawing on these historical events, the librettist Jaroslav Vrchlický prepared an exhaustive tetralogy on the life of St. Ludmila. From this tetralogy Dvořák chose the first part, dealing with her youth and conversion, which gave him greater opportunities for festive Handelian choral writing and romantic interludes as well as a triumphant conclusion. The oratorio falls into three sections, with the historical facts now slightly altered for the sake of dramatic expediency:

Section I: A heathen statue to the goddess Baba is being consecrated before the people. A Christian hermit, Ivan (bass), disrupts the proceedings and smashes the statue. The outraged crowd is about to set upon him when Ludmila (soprano) offers her protection.

Section II: Ludmila is staying in Ivan’s hermitage. There she is discovered by the hunting party of Duke Bořivoj (tenor), who, to the accompaniment of much romantic love music, is smitten by her beauty and humility in equal measure and resolves to marry her.

Section III: Bořivoj and Ludmila are baptized and married with great pageantry, in which, as a symbol of Christianity, the eleventh-century Slavic hymn Hospodine, pomiluj ny (“Lord, have mercy upon us”) is woven into the score, ultimately forming a fugue in C major.

Though limited to the first part of Vrchlický’s projected tetralogy, Saint Ludmila nevertheless involved some three-and-a-half hours of music, and Dvořák found himself under great pressure to finish the score on time for the scheduled performance in October 1886. He set to work on it on 17 September 1885 and worked virtually without interruption into the winter, fending off worried reminders from Littleton that the vocal scores had to be printed immediately and shipping off the music in installments. By the next April he was already concerned that he would finish it at all (“The whole thing is very unpleasant and worries me greatly”). Fortunately Section III was the shortest of all, and he was able to complete the score punctually on 30 May 1886 after almost nine months of solid labor.

The new score impressed the organizers of the Leeds Festival sufficiently to schedule Saint Ludmila for the next-to-last day of the festival. The Musical Times ran a long introductory article on the new work, and the Pall Mall Gazette published an interview with the composer, giving him ample room to expatiate on his nationalist sentiments. The première, conducted by the composer, took place on 15 October 1886 (and not on 16 October, as Dvořák mistakenly entered in the manuscript). The audience was ecstatic, the press equally so, but doubts soon crept in in regarding the work’s length, subject-matter, and the clumsy English words by the notorious Reverend Troutbeck. Although Dvořák wrote home in raptures about his triumph, he was unaware that the festival’s final work, Sir Arthur Sullivan’s The Golden Legend, was even more rapturously received and soon ousted Saint Ludmila from many of its prospective performances in England, Scotland, and the United States. Further performances were given in London at St. James’s Hall (29 October) and the Crystal Palace (6 November), but thereafter the work languished in the nether reaches of the repertoire. Years later Dvořák, perhaps sensing his oratorio’s similarities with grand opéra and such static national ope-ras as Smetana’s Libuše, abridged and revised the work for a stage production which was premièred in Prague on 30 October 1901. This, too, failed to take hold. None the less, Saint Ludmila has never lacked for champions among the great Czech conductors: Rafael Kubelík conducted it at the Prague Spring in 1948, Karel Šejna at Prague’s Municipal Hall in 1954, and Vaclav Neumann again in 1987. Perhaps most impressive is the impassioned reading by Jiří Bělohlávek, first heard with the Czech Philharmonic in 2004 and presented to tremendous effect in Usher Hall, Edinburgh, in 2007. In the same year as the Prague performance, a CD recording under Bělohlávek’s baton was released by Arco Diva.

In the year of its première Saint Ludmila was issued by Novello, Ewer & Co. of New York and London in a full score, vocal score, and libretto (with analytical notes by Joseph Bennett). A later edition, prepared by František Bartoš, Jiří Berkovec, and Antonín Čubr, appeared in series, 2, volume 3 of the Dvořák Complete Edition in 1964. Our reprint of that edition marks the first time that Saint Ludmila has appeared in miniature score.

Bradford Robinson, 2009

 

For performance material please contact the publisher Dilia, Prag. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.