Albert Roussel
(geb. Tourcoing, Nord, 5. April 1869 – gest. Royan, 23. August 1937)

Evocations op. 15
Symphonische Dichtung (1912)

1. Die Götter im Schatten der Höhlen
2. Die rosenrote Stadt
3. An den Ufern des heiligen Stromes

 

Vorwort
Als Albert Roussel, der damals noch Seekadett war, im Jahre 1894 wegen schwacher Gesundheit seine vielversprechende Marinelaufbahn aufgeben musste, entschied er, sich seiner zweiten Leidenschaft zu widmen, nämlich der Musik. So setzte er seine Ausbildung in Paris bei dem Organisten Eugène Gigout fort und trat anschliessend in die Schola Cantorum ein, um dort die Orchestrationkunst bei Vincent d’Indy zu erlernen. 1907 erhielt er dort sein Reifezeugnis als Komponist. Aber vor allem war es die grosse, weite Welt, von der er allein die Hafenstädte flüchtig kennengelernt hatte, die den Ewig - Reisenden in seiner Traumwelt beschäftigte. Schon 1896 hatte er seinem Lehrer Gigout seine Absicht mitgeteilt, in den Osten zurückzukehren. Aber erst 1908, nach seiner Hochzeit, konnte er seinen Wunsch erfüllen. Am 22. September 1909 schiffte sich das Ehepaar für eine grosse Rundreise durch Indien ein.

Sofort nach seiner Rückkehr dachte Roussel daran, seine stärksten Reiseerinnerungen in einem Orchesterwerk zu verarbeiten. Während die meistens Komponisten aus dem Kreise der Schola Cantorum sich mehr an der engen Heimat ihrer Provinzen orientierten, brauchte er die Eingebung aus weiter Ferne. Dem Dichter Georges-Jean Aubry teilte er am 18. März 1910 brieflich mit: “Es wird gar keine fernöstliche Musik sein, sondern einfach die dort erlebte Empfindung, in unsere übliche Tonsprache übersetzt.”
Die ersten Takte wurden im folgenden Monat in Paris niedergeschrieben. Meister d’Indy, der damals mitten in den Arbeiten zu seinem monumentalen geistlichen Dramas ‘La Légende de Saint Christophe’ steckte, bestärkte Roussels Absicht in einem Schreiben vom 21. Juli: “Schauen Sie doch in Ihrem” Indien” viel mehr auf die von Ihnen selbst empfangenen Eindrücke – eher europäische als indische – als auf die orchestrale Nachahmung wahrgenommener Geräusche; dieses flache Vorgehen ist heute so geläufig, dass ein Geist wie der Ihre sich damit keinesfalls zufriedengeben kann.”

Der erste Teil der Komposition, Die Götter im Schatten der Höhlen, ist eine Beschwörung seines Besuches des Tempels von Kaisala in Ellora am 9. Oktober 1909, dessen in Felsen gehauene Reliefs aus dem 8. Jahrhundert mythologische Szenen darstellen. In die Fremdheit dieser Finsternis verkriecht sich Shiva, der Gott des Tanzes, des tödlichen Wahnsinns und der Liebe, dessen drei Eigenschaften je durch ein Thema dargestellt werden. Der lebhafte Mittelteil lässt bereits manche Stellen aus der 1914-18 komponierten Balletoper Padmâvatî (nach einer indische Legende) vorausahnen.

Der zweite Teil, Die rosenrote Stadt, beschreibt Jaipur und ihren Palast der Winde, dargestellt durch ein erstes fünftöniges und synkopiertes Thema. Die Form ist typisch für Roussels Scherzosätze, mit einem tief melancholischen Adagio - Mittelteil, und findet sich auch im Tanz der Sklavinnen aus Padmâvatî wieder. Jene Melodie, die auf den Einzug des Maharadjas und seiner Elefanten anspielt, wird durch Hörner mit erhobenen Schalltrichter intoniert. Roussel hatte sie bereits am 15. Oktober an Ort und Stelle in Udaipur in seinem Notizbuch niedergeschrieben. Die Orchesterpartitur dieser beiden Sätze wurde im Juli und September 1910 in Tréboul vollendet.

Während Roussel noch eine unklare Vorstellung vom dritten Satzes seiner ‘indischen Symphonie’ hatte, begegnete er rein zufällig dem Schriftsteller und Kritiker Michel-Dimitri Calvocoressi, der gerade Werke des Sanskritklassikers Kalidasa (353-420) als kleine Prosagedichte verarbeitet hatte. Im Herbst 1910 las Roussel diese Texte und entschloss sich, Singstimmen ins Finale seines Triptychons einzubeziehen. Er liess die ersten beiden Gedichte, die Nacht und Hymne an die Sonne, unberührt, aber das dritte bearbeitete er selbst, sodass sich die Worte dem Rhythmus der Psalmodie anpassen konnten, die er am 27. Oktober 1909 einen verzückten Brahmanen am Ufer des Ganges hatte singen hören. Die Chöre der Evocations wurden “in unserem kleinen Speiseraum, so dunkel und so kühl” in einem Vorort von Tunis vollendet, wo er mit seiner Frau von März bis Mai 1911 verweilte. Im nächsten Monat liess sich Roussel in Bois-le Roi nieder, um rastlos an der Orchesterpartitur von An den Ufer des heiligen Stromes zu arbeiten, die er am 30. Juli vollendete. Vier Teile entfalten sich in einer breiten Grossform: Hymne an die Nacht, Zwischenspiel, Rezitativ am heiligen Strome, Hymne an die Sonne. Als er sich ein weiteres Mal nach d’Indys Urteil erkundigte, hiess es: “ Hätte ich einen Einwand (ich glaube schon darauf hingedeutet zu haben, als Sie mir das Stück im Juni vorlegten), so wäre er, dass der Chorteil der Nacht mir stellenweise als etwas in die Länge gedehnt zu sein scheint: manchmal stockt er etwas. Ich weiss wohl, dass die Liebe von Stocken und Schmachten lebt (im 18. Jahrhundert sagte man es immer wieder), aber trotzdem wird man zum Schluss der Nacht ein wenig satt…das ist mindestens mein Eindruck, jedoch kann ich mich ja täuschen. Ab dem ‘gleichgültigen Gebet‘ des morgendlichen Priesters jedoch fliesst die Melodie ganz prima bis zum Schluss. Das Rezitativ wird wunderbar begleitet, und ich hoffe, dass der Sänger richtig artikulieren kann, so dass kein Wort verloren geht. Im übrigen ist das alles so unterhaltend und löst sich gut durch die Verzögerung des Themas bis zum grossartigen Aufgehen der Sonne auf (trotzdem gefällt mir das F der Violinen nicht!). Ab dieser Stelle wird es dann wirklich grossartig. Zusammenfassend, es ist ein schönes Werk, und es hat mich sehr gefreut, es in jeder Einzelheit kennenzulernen. Aber Sie werden Mühe haben, die Chorsätze den Sängern beizubringen, sie sind wirklich schwierig. Und trotzdem, da ihr Kommentar der Hauptzweck des Bilder ist, ist es unerlässlich, dass jedes Wort gut verstanden wird.”

Der Gesamtplan des Werks erinnert an Debussys Nocturnes, mit Schlusschor, jedoch
sind die Evocations seinem Partiturfragment Danse de l’Oiseau Sacré (1909) ähnlicher, dessen Struktur beibehalten wird: vom Schatten zum Licht, mit abschliessender Hymne an die Natur und die Liebe. “Habe ich die verschiedenen Orte in den Titeln nicht näher bestimmt, so ist der Grund meines Vorgehens, dem Ausdruck der Musik keine Begrenzung zu setzen “, bemerkt der Komponist im Jahre 1928.

Die Uraufführung seines Opus 15. fand am 18. Mai 1912 im Pariser Salle Gaveau im Rahmen eines Konzertes der Société Nationale statt, unter der Leitung von Rhené-Baton. Léon Carbelly sang das Barytonsolo. Albert Roussel imposante Meisterschaft wurde mit grosser Anerkennung vom Publikum aufgenommen. Obwohl als “Symphonische Dichtung” ( ähnlich wie die frühe Résurrection op. 4 ) bezeichnet, handelt es sich eigentlich um eine mächtige Symphonie, bereichert durch tausende bezaubernder Echos, Düfte und dem Schillern und Schaudern eines feenhaften Abenteuers. Das Rousselsche Orchester entfaltet seine sinnliche Klangpracht, aber lässt auch der Reinheit der einzelnen Instrumentalfarben Raum: Solostellen für Bassklarinette, Fagott in hoher Tonlage, im Gegensatz dazu für die tiefen Töne des Solohorn am Schluss des ersten Satzes … und unverändert bleibt der Einsatz der Singstimmen als zusätzliche Klangfarbe. Wortlose Chöre in Vokalisen sind ein französischer Brauch: Berlioz in den Trojanen, Frank in Psyché, d’Indy in Ferval, Debussy in Sirènes, Ravel in Daphnis et Chloé, de Castéra in Nausicaa.

Gemeinsam mit “orientalischen” Werken wie La Péri (Dukas), Istar (d’Indy) und La Tragédie de Salomé (Schmitt) bildet die Evocations ein Gegenstück zu d’Indys Jour d’Eté à la Montagne (Sommertag in den Bergen), drei Eindrücke aus dem Vivarais.

In höchsten Tönen lobte Pierre Lalo das Werk in Le Temps vom 6. August 1912: “Das kraftvolle und glänzende Finale und die ganze Symphonie, in welcher die merkwürdigsten, geistreichsten, scharfsinnigsten Stilverfeinerungen mit dem festesten Sinn für Konstruktion, Gleichgewicht und Einheit verschmelzen, sind das bisher vollkommenste und schönste Ergebnis des Schaffens von Roussel: ein Hauptwerk der Musik unserer Zeit.”
Ähnlich wie bei seinen anderen Werken änderte Roussel auch nach der Urauffühung Einzelheiten in Dynamik, Tempi und Agogik, um die Interpretation noch zu verfeinern. Zum Beispiel teilte er Louis Fleury am 20. Mai 1920 mit: “Manche Tempoangaben sind zu schnell.” Diese nachträglichen Bemerkungen, die in der gedruckten Partitur fehlen, sind in Damien Top ‘Le Lyonnais et le Flamand’ in ‘Le mouvement Scholiste de Paris à Lyon’, édition Symétrie 2004, zu finden.

Übersetzung: Harry Halbreich

Das Orchestermaterial ist bei Durand in Paris zu beziehen.

 Albert Roussel
(b. Tourcoing, 5 April 1869 – d. Royan, 23 August 1937)

Evocations, op. 15
Symphonic poem for full orchestra and chorus (1912)

1. Les dieux dans l’ombre des cavernes
2. La ville rose
3. Aux bordes du fleuve sacré

Preface
In 1984 Albert Roussel, at that time still a marine cadet, was forced by ill health to abandon his promising naval career, and he decided to take up his second passion, music. He resumed his training with the organist Eugène Gigout in Paris, after which he enrolled in the Schola Cantorum to study orchestration with Vincent d’Indy. It was here that he took his final degree in composition in 1907. But above all this ceaseless traveler dreamt of the great wide world, of which he had made only a fleeting acquaintance with its harbor cities. As early as 1896 he had told his teacher Gigout about his plan to return to the East; but it was not until 1908, after his marriage, that this dream became reality. On 22 September 1909 the newly-wed couple boarded a ship for a grand tour of India.

Upon his return Roussel immediately set about capturing his most vivid memories of the tour in a work for orchestra. If most of the composers associated with the Schola Cantorum tended to take their bearings on their provincial home territories, Roussel needed inspiration from abroad. As he put it in a letter to the poet Georges-Jean Aubry on 18 March 1910, “It will definitely not be music of the Far East, but simply the impressions I received there, translated into our customary musical language.”

The opening bars were written down the following month in Paris. D’Indy, at that time preoccupied with his monumental sacred drama La légende de Saint Christophe, encouraged his young pupil in a letter of 21 July: “Take a closer look in your India at the impressions you yourself have received – more European than Indian – rather than imitating perceived sounds with the orchestra, a bland approach that is so prevalent today that no spirit like yours could possibly be satisfied with it.”

The first section of the piece, Les dieux dans l’ombre des cavernes (“The gods in the shadow of the caves”), is an invocation of a visit that Roussel made on 9 October 1909 to the Temple of Kaisala in Ellora, whose rock-cut eighth-century bas-reliefs represent mythological scenes. Into this dark and alien world creeps Shiva, the god of dance, of deadly madness, and of love. Each of his three characteristics is depicted by its own theme. The lively central section seems to foreshadow many a passage in Roussel’s ballet-opera Padmâvatî (1914-18), which is likewise based on an Indian legend.
The second section, La ville rose (“The pink city”), describes Jaipur and its Palace of the Winds, initially represented by a syncopated pentatonic theme. The form is typical of Roussel’s scherzos, with a deeply melancholy slow middle section, and recurs in the Dance of the Slave Girls from Padmâvatî. The melody heard at the entrance of the maharaja and his elephants is played by horns with raised bells. Roussel had already written it down in his notebook on location in Udaipur on 15 October. The orchestral scores of these two movements were completed in Tréboul in July and September 1910.

For the moment Roussel had only a vague notion of the third movement of his “Indian symphony.” It was then that he fortuitously met the writer and critic Michel-Dimitri Calvocoressi, who had just prepared a short prose-poem based on the writings of the classic Sanskrit poet Kalidasa (353-420). After reading Calvocoressi’s work in autumn 1910, Roussel decided to incorporate voices into the final movement of his triptych. He left untouched the first two poems, Night and Hymn to the Sun, but adapted the third himself to match the rhythm of a chant he had heard an ecstatic Brahman sing on the banks of the Ganges on 27 October 1909. The choruses of Evocations were completed “in our little dining room, so dark and so cool,” in a suburb of Tunis, where he and his wife lived from March to May 1911. One month later Roussel settled in Bois-le-Roi to work ceaselessly on the orchestral score of Aux bordes du fleuve sacré (“On the banks of the sacred river”), completing it on 30 July. Its four sections unfold in a broadly conceived overall form: Hymn to the Night, Interlude, Recitative at the Sacred River, and Hymn to the Sun. When he again sought d’Indy’s opinion he was told: “If I had any objection (I believe I already hinted at this when you showed me the piece last June), it would be that the choral section of Night seems to me slightly drawn out in certain passages: sometimes it seems to falter. I realize full well that a love for faltering and languishing is alive (we were told so again and again in the eighteenth century), but even so one becomes a bit tired of it by the end of Night … That at least is my impression, but of course I could be wrong. Beginning with the ‘indifferent prayer’ of the auroral priest, however, the melody flows splendidly to the very end. The accompaniment of the recitative is wonderful, and I hope that the singer can articulate it properly so that not a single word is lost. Beyond that, everything is so entertaining and well resolved owing to the postponement of the theme until the magnificent sunrise (although I don’t like the F in the violins!). From this point on it becomes truly magnificent. In sum, it is a beautiful work, and I was very happy to get to know it in every detail. But you will have trouble teaching the choral parts to the singers; they are truly difficult. Nevertheless, since the principal object of these images is your commentary, it is essential that every word be clearly understood.”

Though the overall design of Evocations recalls Debussy’s Nocturnes with its final chorus, the piece more closely resembles Roussel’s own fragmentary Danse de l’oiseau sacré (1909), whose structure it retains – from shadow to light, with a concluding hymn to nature and love. “If I have refrained from defining the various locations more precisely in the titles,” Roussel explained in 1928, “the reason lies in my intention to set no limits to the expression in the music.”
The première of Evocations took place on 18 May 1912 in the Salle Gaveau, Paris, during a concert of the Société Nationale conducted by Rhené-Baton, with Léon Carbelly singing the baritone solo. Roussel’s impressive mastery was very warmly received by the audience. Though titled a “symphonic poem” (like the early Résurrection, op. 4 ), the work is actually a mighty symphony enriched with a thousand magical echoes, fragrances, and the flashes and thrills of a fairy-tale adventure. Roussel’s orchestra displays its sensual splendor while granting space to the purity of isolated timbres: solo passages for bass clarinet, high-register bassoon, and, in contrast, low-register notes on the solo horn at the end of the first movement … with the use of human voices remaining unchanged as an additional timbre. Wordless choruses in vocalise are a French speciality, as witness Berlioz in Les troyens, Frank in Psyché, d’Indy in Fervaal, Debussy in Sirènes, Ravel in Daphnis et Chloé, and de Castéra in Nausicaa.

Along with such “oriental” works as Dukas’ La péri, d’Indy’s Istar, and Schmitt’s La tragédie de Salomé, Evocations forms a counterpart to d’Indy’s Jour d’été à la montagne (“A summer’s day in the mountains”), three impression from the Vivarais region of France.

Pierre Lalo, writing in Le Temps on 6 August 1912, praised the work to the skies: “The powerful and radiant finale and the entire symphony, in which the strangest, most ingenious, and shrewdest refinements of style blend with a solid sense of construction, balance, and unity, are the most perfect and beautiful product of Roussel’s work to date: a magnum opus in the music of our time.”

After the première, as in his other works, Roussel altered details in the dynamics, tempi, and agogics to further refine the work’s performance. For example, as he wrote to Louis Fleury on 20 May 1920, “many of the tempo marks are too fast.” These later comments are missing in the printed score, but can be found in Damien Top’s “Le Lyonnais et le Flamand,” Le mouvement Scholiste de Paris à Lyon (édition Symétrie, 2004).

Translation: Bradford Robinson

 

Performing material available from Editions Durand, S.A., Paris.