Léo Delibes
(geb. Saint-Germain-du-Val, 21. Februar 1836 – gest. Paris, 16. Januar 1891)

Sylvia ou La Nymphe de Diane
Ballett in drei Akten (1875/76)
nach dem Hirtendrama Aminta von Torquato Tasso (1573)

Vorwort

Wer hätte am Anfang der künstlerischen Laufbahn von Léo Delibes gedacht, daß er zu den beliebtesten Komponisten des 19 Jahrhunderts zählen würde? Wenn er sich als mittelmäßiger Musikstudent am Pariser Conservatoire nicht einmal die Mühe gab, sich für den Prix de Rome zu bewerben, so wurde er am Ende seiner glänzenden Laufbahn selber Professor für Komposition an der gleichen Institution und konnte erleben, wie seine Musik von Moskau bis San Franzisko in allen Musikmetropolen der Welt ertönte. Selbst heute – auch wenn der Name dieses Komponisten (außer in Ballettkreisen) nicht überall bekannt ist – sind einige seiner Werke derart vertraut geworden, daß sie mittlerweile zum kollektiven Unbewußten der abendländischen Kultur gehören. Grund hierfür sind vor allem die drei hervorragenden Bühnenwerke seiner späteren Jahre: die Ballettmusiken Coppélia (1870) und Sylvia (1876) sowie die Oper Lakmé (1883).

Dem Ballett Coppélia, das den ersten großen Erfolg Delibes’ darstellt, ging eine Reihe von nicht weniger als 20 Bühenwerken voraus, die mit der “lyrischen Erstickung” Deux sous de charbon (“Zwei Groschen Kohle“) aus dem Jahr 1856 anfing und sich mit Operetten, Opéras-comiques und Divertissements fortsetzte. Obwohl keines dieser Werke besonderen Erfolg hatte, änderten sich die Glückschancen Delibes’ erheblich im Jahre 1864 durch seine Ernennung zum Chorleiter an der Pariser Opéra, die ihn mit den Größen des damaligen Welttheaters in Kontakt brachte. Das unmittelbare Ergebnis davon war das Ballett La Source (1866), für das Delibes zusammen mit Louis Minkus eine Ballettpartitur für den weltbekannten Choreographen Arthur Saint-Léon (1821-1870) schuf. Das Werk wurde vom Publikum mit viel Beifall aufgenommen, woraufhin Delibes aufgefordert wurde, zusammen mit Saint-Léon an einem Nachfolgeballett Coppélia mitzuwirken – einem Werk, das neben der Giselle von Adolphe Adam zum meistaufgeführten französischen Ballett des 19. Jahrhundert werden sollte.

Durch den Erfolg von Coppélia wurde Delibes zu einer “sicheren Nummer” unter den französischen Ballettkomponisten. Als das neuerrichtete Palais Garnier (die heutige Pariser Opéra) 1876 eingeweiht werden sollte, wurde Delibes ausgesucht, die Partitur zu einem Ballettlibretto von Jules Barbier und Baron Jacques de Reinach zu liefern. Bis zur ersten Probe am 15. August 1875 war jedoch erst ein Drittel der Musik fertig, der Rest mußte in Zusammenarbeit mit dem Choreographen und Haupttänzer Louis Mérante und der 27jährigen Prima Ballerina Rita Sangalli während der Proben entstehen. Delibes nahm auf die Launen des Choreographen nachgiebig Rücksicht, mit dem Ergebnis, daß das fertige Werk eine ungewöhnlich dichte Einheit von Musik, Libretto und Tanz darstellt.
Uraufgeführt wurde das neue Werk am 14. Juni 1876 an der Pariser Opéra als erstes Ballett in der Geschichte des neuen Hauses. Passend zur aufwendigen Architektur Garniers erhielt die Inszenierung eine ebenfalls aufwendige Bühnendekoration und Kostüme sowie eine Choreographie, die seinerzeit – vor allem wegen des Einsatzes von Tänzerinnen in männlich anmutenden Jägerrollen – als modernistisch-kühn galt. Insgesamt jedoch wurde dem Ballett als Ganzem nur einen mäßigen Erfolg beschert, und lange Zeit lag es vorwiegend an der hohen Qualität von Delibes’ Musik, daß sich das Werk über Jahrzehnte hinweg im Repertoire behaupten konnte. Ein Teil des Problems war sicherlich das wenig aussagekräftige, hoch stilisierte klassizistische Libretto, das auf dem Hirtendrama Aminta (1573) des großen italienischen Renaissancedichters Torquato Tasso basiert. Heute beruht das hohe Ansehen des Balletts hauptsächlich auf seiner Wiederentdeckung durch den britischen Choreographen Frederick Ashton, der 1952 eine neue Choreographie lieferte und zugleich die Handlung wesentlich umarbeitete, um damit ein Paradestück für seine Haupttänzerin Margot Fonteyn zu kreieren. Neben Ashton haben sich auch andere namhafte Choreographen Sylvia angenommen, darunter Serge Lifar (1941), Georges Balanchine (1950, 1964), László Seregi (1972), John Neumeier (1997) und Mark Morris (2004).

Unabhängig von der Rezeption des Balletts wurde die hohe Qualität der Partitur Delibes‘ nie in Frage gestellt. Zu den ersten Zeitzeugen, die den Wert dieser Musik erkannten, gehörte kein geringerer als Tschaikowsky, der gerade den Schwanensee erfolgreich beendet hatte, als ihm er zum erstenmal die Musik zu Sylvia begegnete. In einem Brief an seiner Mäzenin Nadezhda von Meck beklagte er: “Ohne jegliche falsche Bescheidenheit sage ich Ihnen, daß mein Schwanensee der Sylvia nicht das Wasser reichen kann.” Die nachhaltige Wirkung, die die Musiki Delibes‘ auf ihn ausübte, wird 1877 ausführlicher in einem Brief an seinen Komponistenfreund Sergei Tanejev ausgebreitet: Es handle sich – so der Komponist –, um das erste Ballett, in dem die Musik nicht nur das Haupt - , sondern das alleinige Interesse darstelle. Was für ein Reiz, was für eine Eleganz, welcher Überfluß an Melodie, Rhythmik, Harmonie!“ Diese Eigenschaften, zu denen auch der Einsatz von Leitmotiven, die farbenfrohe Instrumentation (am auffälligsten im Pizzikatosatz und dem Einsatz des Altsaxophons im dritten Akt) sowie die Abwesenheit jeder rein dekorativer Nummern hatte eine nachhaltige Wirkung auf die Ballettmusik Tschaikowskys, wie später in den Partituren zu Dornröschen (1888/89) und Nußknacker (1891/92) leicht zu erkennen. Sylvia wurde nach Bizets Carmen zu Tschaikowskys beliebtester französischenr Komposition, Delibes zum „sympathischsten aller französischen Komponisten“. Seine eigene Musik – so der arg betroffen Komponist – sei dagegen ein einziges Machwerk: „Ich schämte mich. Hätte ich diese Musik früher gekannt, so hätte ich natürlich den Schwanensee nie geschrieben.“

Nicht weniger reizvoll ist die Orchestersuite, die kurz nach der Pariser Uraufführung der Partitur zu Sylvia entnommen und vom Pariser Verlag Heugel veröffentlicht wurde. Diese Suite, die hier als Studienpartitur erscheint, besteht aus den folgenden Sätzen aus dem Ballett: I. Prélude (Les chasseresses), II. Intermezzo et valse lente, II. Pizzicati sowie IV. Cortège de Bacchus.
Zusammenfassung der Handlung

I. Akt, in einem heiligen Hain: Das Ballett fängt mit einer Szene der Ehrerbietung an, als die Geschöpfe des Hains einen Tanz vor Eros vollführen. Unterbrochen werden sie von Aminta, einem Hirten niedrigen Standes, der in ihr Ritual hineinplatzt. Nun erscheint jedoch der Gegenstand von Amintas Begierden – Sylvia –, zusammen mit ihrer Jägerschar, um den Gott der Liebe zu verhöhnen. Aminta versucht sich zu verstecken, wird jedoch von Sylvia entdeckt, die entrüstet ihren Pfeil gegen Eros richtet. Aminta beschützt den Gott und wird dabei selbst verwundet. Eros wiederum trifft Sylvia mit seinem Pfeil. Obwohl getroffen, ist sie nicht ernsthaft verletzt und wird lediglich von der Bühne vertrieben.

Der Jäger Orion, der Sylvia ebenfalls beobachtet hat, vollführt einen Tanz des Jubels um den unbewußten Aminta. Er versteckt sich erneut, als Sylvia zurückkehrt. Diesmal zeigt sie sich jedoch Aminta zugetan. Als die Jägerin ihr Opfer beklagt, wird sie von Orion gepackt und entführt. Das Bauernvolk trauert um Amintas Leiche, bis Eros inkognito eintritt und den Hirten zum Leben neu erweckt. Eros gibt sich zu erkennen und erzählt Aminta von den Missetaten Orions.

II. Akt, in einer Höhle auf der Insel des Orion: Sylvia wird nun auf der geheimen Insel Orions gefangen gehalten, der sie mit Edelsteinen und mit Wein für sich erfolglos zu gewinnen versucht. Nun beklagt Sylvia den totgeglaubten Aminta und betrachtet wehmütig den Pfeil, der ihrer Brust entnommen wurde. Als Orion den Pfeil an sich reißt, gelingt es Sylvia, ihren Geiselnehmer betrunken zu machen, bis er in Ohnmacht fällt, worauf sie den Pfeil wiedergewinnt und Eros um Hilfe anfleht. Ihr Flehen wird erhört, denn Eros betritt rasch die Bühne und eröffnet ihr eine Vision von Aminta, der auf sie wartet. Die beiden verlassen die Insel in Richtung des Tempels der Diana, in dem der Hirt seiner Geliebten harrt.

III. Akt, eine Meeresküste in der Nähe des Tempels der Diana: Aminta trifft am Tempel der Diana ein. Dort findet sie zwar ein Bacchanale in vollem Gange, jedoch keine Spur von Sylvia, die aber bald mit Eros erscheint. Nach einigen Augenblicken der Heiterkeit trifft Orion auf der Suche nach Sylvia ein. Es folgt ein Kampf zwischen Aminta und Orion, während sich Sylvia in Dianas Heiligtum verbarrikadiert. Orion versucht in den Tempel einzudringen – eine Freveltat, die die keusche Diana damit bestraft, daß sie Orion schlägt und die Vereinigung von Aminta und Sylvia verbietet. Der barmherzige Eros schickt jedoch der Diana eine Vision: Die Göttin entsinnt sich ihrer eigenen Jugendliebe zu Endymion, der ebenfalls Hirt war. Sie gibt nach und hebt ihr Verbot auf. Aminta und Sylvia werden unter den Jubeln der Götter vereint.

Übersetzung: Bradford Robinson

 

Aufführungsmaterial ist von Heugel, Paris zu beziehen.

 Léo Delibes
(b. Saint-Germain-du-Val, 21 February 1836 - d. Paris, 16 January 1891)

Sylvia ou La Nymphe de Diane
Ballet in three acts (1875-6)
after Torquato Tasso’s Aminta (1573)

Preface

Who could have imagined, early in his illustrious career, that Léo Delibes would become one of the most beloved composers of the nineteenth century? A mediocre student at the Paris Conservatoire who did not even bother to apply for the Prix de Rome, by the end of his life he had served as professor of composition at that same institution and his music was being performed from Moscow to San Francisco, with all musical capitals in between. Even today, though not exactly a household name (except in ball-et circles), some of his music has become so familiar as to earn a place in the collective unconscious of western civilization, mainly owing to three outstanding works from his later career: the ballets Coppélia (1870) and Sylvia (1876) and the opera Lakmé (1883).

Coppélia, Delibes’ first great triumph, was preceded by no fewer than twenty other works for the stage, beginning with a “lyrical asphyxiation” of 1856 entitled Deux sous de charbon (“Two groats of charcoal”) and continuing with a steady series of ope-rettas, opéras-comiques, and divertissements. Though none of these was particularly successful, his fortunes began to change in 1864, when he was appointed chorus master at the Paris Opéra and found himself in close contact with the leading figures of the world’s musical theater. The immediate upshot of this was a ballet La Source (1866), for which Delibes, in collaboration with Louis Minkus, supplied music for the world-famous choreographer Arthur Saint-Léon (1821-1870). The piece scored a great hit with the public, and Delibes was invited to work with Saint-Léon on a sequel, Coppélia, that would eventually become, along with Adolphe Adam’s Giselle, the most enduring French ballet of the century.

The success of Coppélia made Delibes a “preferred risk” among French ballet composers, and when the time came to inaugurate the newly-built Palais Garnier (the pre-sent Paris Opéra) in 1876 Delibes was chosen to produce a new score to a ballet scenario by Jules Barbier and Baron Jacques de Reinach. By the time of the first rehearsal, on 15 August 1875, only a third of the music had been composed; the rest of the score arose during rehearsal in close conjunction with the choreographer and lead dancer, Louis Mérante, and the twenty-seven-year-old prima ballerina Rita Sangalli. Delibes indulgently adjusted his music to meet the whims of the choreographer, with the result that the work forms an unusually tight unity between music, libretto, and dance.

The new ballet went on the boards of the Paris Opéra for the first time on 14 June 1876 – the first such work to be mounted in the new building. As befitted Garnier’s lavish architecture, the production was given sumptuous décor and costumes, and the choreography was considered daringly modern in its day, especially the casting of balle-rinas as masculine huntresses. On the whole, however, the new work failed to please, and it was only the high quality of Delibes’ score which kept the piece in the repertoire for so many decades. Part of the problem was the bland, heavily stylized classical libretto, based loosely on the renaissance pastoral drama Aminta by the great Italian poet Torquato Tasso (1573). The ballet’s fame today rests largely on its rediscovery by Frederick Ashton, who re-choreographed the piece in 1952 and revised the plot to create a showpiece for his leading ballerina, Margot Fonteyn. Besides Ashton, among the major choreographers who later took up the work are Serge Lifar (1941), Georges Balanchine (1950, 1964), László Seregi (1972), John Neumeier (1997), and Mark Morris (2004).

Whatever the fate of the ballet as a whole, the quality of its music has never been in doubt. One of the first to recognize its value was Tchaikovsky, who had just completed Swan Lake when he first encountered the score in 1876. Writing to his benefactress Nadezhda von Meck, he lamented: “Without any false modesty I tell you that Swan Lake is not fit to hold a candle to Sylvia.” The effect that Delibes’ music had on Tchaikovsky is more explicitly laid out in a letter to his fellow composer Sergei Taneyev: it was, he said, “the first ballet in which the music constitutes not only the main, but the only interest. What charm, what elegance, what richness of melody, rhythm, harmony.” This, plus the use of letimotifs, the vivid orchestral effects (most obviously the use of pizziccato and the alto saxophone in Act III ), and the absence of purely de-corative numbers had an immediate impact on Tchaikovsky’s own ballet music, as would become apparent later in his scores for Sleeping Beauty (1888-9) and The Nutcracker (1891-2). Sylvia became, after Bizet’s Carmen, his favorite French composition, and Delibes his “most sympathetic of French composers.” His own music, he went on, was poor stuff in comparison: “I was ashamed. If I had known this music early then, of course, I would not have written Swan Lake.”

No less charming is the orchestral suite that was extracted from Sylvia and published by Heugel soon after the ballet’s première. The work, issued here in miniature score, consists of four movements from the ballet: I. Prélude (Les chasseresses), II. Intermezzo et valse lente, II. Pizzicati, and IV. Cortège de Bacchus.

Synopsis of the Plot

Act I, a sacred grove: The ballet begins with a scene of worship as denizens of the forest dance before Eros. Aminta, a lowly shepherd, stumbles upon them, disrupting their ritual. Sylvia, the object of Aminta’s desire, arrives on the scene with her troupe of hunters to mock the god of love. Aminta attempts to conceal himself, but Sylvia eventually discovers him and, enraged, turns her bow on Eros. Aminta protects the deity and is himself wounded. Eros in turn shoots Sylvia. She is struck, and though not badly wounded, the injury is enough to drive her offstage.
A hunter, Orion, has also been watching Sylvia and is seen reveling over the unconscious Aminta. Orion hides himself again as Sylvia returns; this time she is sympathetic towards Aminta. As the huntress laments over her victim, she is seized by Orion and carried off. Peasants grieve over Aminta’s body until a cloaked Eros revives the shepherd. Eros reveals his true identity and informs Aminta of Orion’s nefarious deeds.

Act II, a cave on Orion’s island: Captive in Orion’s island hideaway, Sylvia is tempted by him with jewels and wine – to no avail. She now grieves over Aminta and nostalgically fondles the arrow pulled from her breast. When Orion steals it from her, Sylvia gets her captor drunk until he is unconscious, whereby she retrieves her arrow and appeals to Eros for help. Sylvia’s invocations are not in vain, for Eros quickly arrives and shows her a vision of Aminta waiting for her. The two figures depart for the Temple of Diana, where Sylvia’s love awaits her.

Act III, a sea coast near the Temple of Diana: Aminta arrives at the Temple of Diana to find a bacchanal but no Sylvia, who will soon arrive with Eros. After a few moments of mirth at the reunion, Orion shows up, seeking Sylvia. He and Aminta fight; Sylvia barricades herself in Diana’s shrine and Orion attempts to follow her. The chaste goddess of the hunt, outraged at this act, smites Orion and forbids Aminta and Sylvia from uniting. Compassionate Eros gives Diana a vision. The goddess reminisces over her own young love for Endymion, also a shepherd. She has a change of heart and repeals her decree. Aminta and Sylvia are united with the blessing of the deities.

Bradford Robinson, 2008

 

 

For performance material please contact the publisher Heugel, Paris.