Peter Ilych Tchaikovsky
(b. Votkinsk, 7 May 1840 - d. St. Petersburg, 6 November 1893)

14 Werke aus Studententagen

Vorwort

Nur wenige Komponisten haben ihre studentischen Übungen der Einsicht und dem kritischen Urteil der Nachwelt überlassen. Dies ist auch nicht verwunderlich: Selbst die größten Komponisten sind notgedrungen gezwungen, zunächst ihr Handwerk zu erlernen, genauso wie der große Romancier zunächst die Rechtschreibung beherrschen muß. Wenn einige Künstler imstande waren, noch während der Ausbildung unsterbliche Meisterwerke hervorzubringen – man denke etwa an Mendelssohn oder Chopin –, so benügten sich die meisten damit, die vorgegebenen Aufgaben so gut wie irgend möglich zu lösen, in der festen Überzeugung, sie würden dadurch im späteren Leben der eigenen Muse umso besser Folge leisten können. Sobald die Noten ins Zeugnis eingetragen worden waren, wurden jedoch die Übungen selber zu Makulatur.

Umso interessanter also, daß nicht weniger als 14 Übungen aus dem ersten Studienjahr Tschaikowsky am Petersburger Konservatorium (1862/63) erhalten sind, die uns den studentischen Werdegang eines jungen Musikers zeigen, der gerade eine vielversprechende Karriere im Petersburger Justizministerium aufgegeben hatte und sich nun auf dem Weg zum Berufskomponisten befand. Auf diese studentischen Bemühungen blickt die Tschaikowskyforschung, die darin die heißersehnten frühen Genieblitzen vermissen, nicht gerade wohlwollend. Hier z.B. spricht der maßgegebende Tchaikowsky-Biograph David Brown:

„ Alle sind gleichermaßen stilistisch gesichtslos und besitzen nur wenig oder gar keinen musikalischen Wert. Einige sind grobschlächtig und unbeholfen, während andere versuchen, innerhalb ihrer enggesteckten Grenzen zuviel zu erreichen, so daß die Ideenfolge und die Überleitungen linkisch wirken. Und dennoch: Einige dieser studentischen Übungen verraten zukunftsträchtig eine lobenwerte Fähigkeit zu sauberen kleinen dekorativen Nebenstimmen, vor allem aber zu kurzen laufenden Sechszehntelpassagen. Noch wichtiger: Einige bestätigen eine beachtenswerte Vielseitigkeit in der Harmonik, nicht nur in der kühnen Handhabung von Septakkorden, sondern auch in der Bereicherung der polyphonen Faktur mit dissonierendem Beiwerk. Melodisch sind jedoch diese studentischen Übungen bemerkenswert enttäuschend und verraten kaum eine Spur von dem großen Reichtum an großartiger, charakteristischer Melodik, über die Tschaikowsky bald verfügen sollte.“

Die Mißbilligung Browns wäre eventuell  dann angebracht, wenn es sich etwa um frühe Veröffentlichungen des Komponisten handele, jedoch erscheint es kaum gerecht, die Melodik dieser Übungen zu bekritteln, wenn die Melodien durch den Lehrer als Teil der Aufgabe womöglich vorgegeben wurde. Weitaus interessanter sind die innewohnenden Tendenzen dieser Stücke: der Drang dazu, den Streichersatz durch Doppel- oder sogar Tripelgriffe zu bereichern; ein Hang zur imitativen Satzweise, auch wenn das Ergebnis manchmal kaum mehr als einen Fugenhauptsatz ohne Gegenthemen darstellt; und immer das Bedürfnis, ein Maximum an Ausdruck aus einem Minimum an Platz und Material herauszuholen. Selbst in diesem frühen Stadium hatte es Tschaikowsky nicht darauf abgesehen, Salonkomponist zu werden.

Die Übungen in der vorliegender Studienausgabe werden nach aufsteigender Größe des Instrumentalapparats angeordnet, vom einfachen Streichtrio (Nr. 1) bis zum großen Orchester mit zweifachem Holz und jeweils zwei Hörnern und Trompeten (Nr. 14). Einige sind ganz offensichtlich auf spezifische Problemstellungen abgezielt, wie etwa die Handhabung von transponierenden Blechinstrumenten (z.B. Nr. 5 für die absurd wirkende Zusammenstellung von vier Hörnern jeweils in G, Es, E und C) oder von der chromatischen Harfe (Nr. 7, in den der teuflisch schwierige Harfenpart einem denkbar schlichten Streichquartettsatz gegenübergestellt wird). Die ersten Übungen sind recht kurz, oft nicht mehr als eine einzige Seite lang. Bei Nr. 1 wird ein Streichtrio in eine fünfstimmige Faktur durch einfache Doppelgriffen auf den leeren Saiten erweitert; bei Nr. 2 wird eine Streichquartettfaktur in Zweierunterteilung allmählich in eine Triolenfaktur verwandelt, die bald eine wahrhaft beängstigende Dichte erreicht; bei Nr. 3 wird ein schlichter Walzer für Streichquartett durch eine fließende Bratschenstimme in Achtelbewegung geziert – sicher ein Vorbote der schwelgerisch fließenden Gegenstimmen der Reifezeit Tschaikowskys. Bei Nr. 4 werden gegensätzliche Texturen in den beiden Geigen und den tiefen Streichern miteinander verknüpft, während Nr. 6 mit ihren ausufernden 32stel-Figuren, Pizziccati und Tripelgriffen den kühnen Versuch darstellt, ein Maximum an Drama aus einem einfachen Marschrhythmus zu erzielen, wie es Tschaikowsky später im dritten Satz seiner Symphonie Pathétique so meisterhaft gelang. Bei Nr. 8 wird ein virtuoser Klavierpart einem fünfstimmigen Streichersatz hinzugefügt, wobei die Streicher auf unfreiwillig komische Weise versuchen, mit dem rabiaten Klavier Schritt zu halten, bis es schließlich dem Violoncello einfällt, mit einer eigenen Cantabile hervorzutreten (T. 16 ff.). Bei Nr. 9 handelt es sich um eine Übung – schon wieder mit abgespecktem Fugenhauptsatz – in der Handhabung der Holzbläsergruppe, während in Nr. 10 der Versuch unternommen wird, innerhalb eines fünfstimmigen Streichersatzes ungewöhnliche metrische Unterteilungen im 6/8-Takt auszuprobieren (hier wird auch zum erstenmal statt einer kontrapuntischen Faktur fünfstimmige Klangflächen erzeugt; vgl. T. 47 ff.). Mit Nr. 11 bis Nr. 14 befinden wir uns in der Welt der kleinformatigen Orchesterkompositionen: Nr. 11 stellt eine Art 87taktiges Konzertstück für Flötenduo und Streichorchester enschließlich Largo-Einleitung dar; die noch längere Nr. 12 mit 135 Takten versucht mit Streicherensemble und zweifachem Holz einen Appassionato-Duktus zu erforschen. Mit Nr. 13 und Nr. 14 erleben wir selbständige kleine Werke für großes Orchester mit vier Hörnern (bzw. jeweils zwei Hörnern und Trompeten), die sich etwa wie symphonische Sätze in Sonatenhauptsatzform geben. Wenn diese Stücke als Kunstwerke auch stark zu wünschen übrig lassen, sind sie durchauserfolgreich als musikalische „Seminararbeiten“ eines begabten Kompositionsstudenten im ersten Studienjahr, der kurz davor stand, seine Lehrer mit seiner Konzertouvertüre Der Sturm von 1864 in helle Aufregung zu versetzen.

Peter Ilych Tchaikovsky
(b. Votkinsk, 7 May 1840 - d. St. Petersburg, 6 November 1893)

Fourteen Various Student Works

Preface

Few composers have left behind their student exercises for posterity to ponder and criticize. Small wonder: even the great must first learn their craft, just as great novelists must first learn to spell. If some composers were able to produce immortal masterpieces as part of the learning process – Mendelssohn and Chopin come to mind – most simply did their predefined assignments as best they could in the expectation that it would make them better able to follow their own muse in later life. And as soon as the grades were entered on the grade sheet, the exercises were discarded.

All the more interesting, then, that fourteen exercises have survived from Tchaikovsky’s first year at St. Petersburg Conservatory (1862-3), showing us something about the regimen the young musician, who had just abandoned a promising career in the Ministry of Justice, was made to undergo en route to becoming a professional composer. Tchaikovsky scholars, hoping to find flashes of genius in them, have not looked kindly on these student efforts. Here, for example, is Tchaikovsky’s definitive biographer David Brown:

„All are equally anonymous in style, and have little or no musical value. Some are crude and clumsy, while others try to do too much within their small dimensions so that the sequence of ideas and the transitions are gauche. Yet some of these student exercises do prophetically reveal a commendable facility for devising neat little decorative counterpoints, especially short running semiquaver passages. Above all, a few confirm Tchaikovsky’s considerable harmonic resourcefulness, not only in their liberal use of various seventh chords, but also in their enrichment of the contrapuntal flow with dissonant decoration. Melodically, however, these student exercises are remarkably disappointing, uninventive, and sometimes downright feeble, giving scarcely a hint of the abundant store of spendid, characteristic melody that Tchaikovsky was so soon to command.“

If these were early publications Brown’s dissaproval might be warranted, but it is unfair to fault the melodic value of pieces whose melodies may well have been preasigned by the teacher. Far more interesting are certain tendencies within them: a desire to enrich the string writing with double and even triple stops; a fondness for imitation, even if the result is sometimes little more than a fugal exposition with no countersubjects; and always an attempt to squeeze a maximum of expression out of a minimum of space and material. Tchaikovsky, even at this early age, was not setting out to become a parlor composer.

The exercises in this volume are placed in order of increasing number of instruments, from a simple string trio in No. 1 to a full orchestra with double woodwind and double horns and trumpets in No. 14. Some of them quite obviously aim to solve specific problems, such as writing for transposing brass instruments (note No. 5, absurdly written for four natural horns in G, E-flat, E and C) or the chromatic harp (No. 7, where the fiendishly elaborate harp part contrasts with the simplest of string quartet textures). The early exercises are quite short, often no more than a page in length. No. 1 shows Tchaikovsky trying to enlarge a string trio into a five-part texture with simple double-stops on open strings; No. 2, for string quartet, shows a texture in duple subdivisions gradually giving way a triplet texture of truly awesome density; and No. 3, again for string quartet, is a straightforward waltz with an elaborate viola part in running eighth-notes – surely a harbinger of the luscious flowing countermelodies of Tchaikovsky’s maturity. No. 4 pits contrasting textures for the two upper strings against the two lower ones, while No. 6, bursting with 32nd-note figures, pizzicato effects, and triple stops, tries audaciously to extract a maximum of drama from a march rhythm, as Tchaikovsky would later do so supremely in the third movement of his Sixth Symphony. No. 8 adds a virtuoso piano part to an orchestral string texture, with the strings trying comically to keep in step with passionate soloist until the cello decides that it is time to add a cantabile melody of its own (mm. 16 ff.). No. 9 is an exercise in woodwind writing, again with a skeletal fugue exposition, while No. 10, for an orchestral string section, seeks to discover unusual metrical subdivisions in a 6/8 meter (and for the first time abandons a contrapuntal texture in favor of five-part Klangflächen; see mm. 47 ff.). With Nos. 11 through 14 we find ourselves in the world of more substantial small-scale compositions. No. 11 is a sort of Konzertstück for flute duo with orchestral strings, complete with Largo introduction and an eighty-seven-bar duration. No. 12 is even longer, at 135 measures, and attempts to strike a mood of appassionata abandon from an orcehstra of strings and double woodwind. With Nos. 13 and 14 we find Tchaikovsky writing for full orchestra with double woodwind plus four horns (or two horns and two trumpets in the latter case) and attempting something akin to symphonic movements in sonata-allegro form. If these pieces fall short as art, they surely succeed as musical „term papers“ by a talented first-year composition student who was just about to stun his teachers with his concert overture, The Storm (1864).