Anton Arensky
(geb. 12. Juli (30. Juni) 1861, Nowgorod — gest. 25. (12.) Februar 1906, Perkjarvi bei Terioki, Finnland; heute Zelenogorsk, Russland)
I. Symphonie h-moll, op. 4
I Adagio; Allegro patetico
II Andante pastorale con moto
III Scherzo. Allegro con spirito
IV Finale. Allegro giocoso
Vorwort
Anton (Antonij) Stepanowitsch Arensky wurde 12. Juli 1861 (30. Juni nach dem in Russland noch gebräuchlichen Julianischem Kalender) in Nowgorod geboren. Er war das dritte von vier Kindern und wuchs in anspruchsvoll-bürgerlichen Verhältnissen auf. Sein Vater war Arzt, und beide Eltern waren Liebhabermusiker — der Vater spielte Cello, Geige und Harmonium; die Mutter war Pianistin. Es verwundert also kaum, dass der junge Anton bald musikalische Interessen entwickelte, und mit nur neun Jahren begann, Lieder und Klavierstücke zu komponieren — Werke der Gattungen übrigens, in denen er sich später am meisten auszeichnen sollte. Im Gegensatz zu vielen heranwachsenden Komponisten seiner Zeit hatte er das Glück, dass seine Eltern seine muikalischen Interessen förderten. Der Umzug der Familie nach St. Petersburg ermöglichte ihm, noch während seiner Gymnasialjahre Kurse an einer Musikschule zu belegen, und 1879 wurde er Student am dortigen Konservatorium, wo er Komposition bei Nikolai Rimski-Korsakow (1844-1908) und Kontrapunkt und Fuge bei Julius Johannsen (1826-1904) studierte. Noch während der Studienjahre hat er eine enge Beziehungen zu Rimski-Korsakow geknüpft, die trotz dessen Entrüstung über den oft liederlichen Lebensstil des jüngeren Kollegen (der in seinen späteren Jahren immer stärker der Trunk- und Spielsucht verfallen sollte) bis zu Arenskys währte Tod. Als Student durfte Arensky sogar den Klavierauszug von Rimski-Korssakows Oper Snegurotschka anfertigen.
1882 exmatrikulierte Arensky mit der Goldmedaille des Konservatoriums und folgte sogleich einer Berufung an das Moskauer Konservatorium, zunächst als Dozent für Musiktheorie, ab 1889 als Professor für Musiktheorie und Komposition. Dort freundete er sich mit Tschaikowsky (1840-1893) und Sergei Tanejew (1856-1915) an, und bald erschienen seine ersten größeren Werke: ein Klavierkonzert f-moll op. 2 (1882) und die I. Symphonie h-moll op. 4 (1883). Tschaikowsky wurde dem jungen Komponisten zum Vorbild, was seinem alten Lehrer nicht unbedingt gefiel. Arenskys größte Erfolge als Komponist während seiner Amtszeit am Konservatorium waren zweifellos die 1891 uraufgeführte, jedoch schon während der Studentenzeit begonnene Oper Son na Volge (Ein Traum auf der Wolga), das I. Klaviertrio d-moll op. 32 (1894) und das II. Streich-quartett a-moll op. 35 (1894), dessen langsamer Satz er für Streichorchester bearbeitete wie auch die noch heute gespielten Variationen über ein Thema von Tschaikowsky. Unter seinen berühmtesten Schülern waren Sergej Rachmaninoff (1873-1943), Nikokai Metner (1880-1951), Aleksandr Skrjabin (1872-1915), Aleksandr Gretschaninow (1864-1956) und Reinhold Glière (1875-1956). 1888 wurde er auch Leiter der Konzerte der Russischen Chorgesellschaft — ein Amt, das er 1895 zusammen mit seinen Verpflichtungen am Moskauer Konservatorium niederlegte, um Mily Balakirew (1837-1910) als Leiter der Hofsängerkapelle in St. Petersburg (und zwar auf Balakirews Empfehlung) zu folgen. Er blieb bis 1901 in diesem Amt, und eine stattliche Pension vom Hofministerium ermöglichte es ihm, sich der Komposition und der Konzerttätigkeit (als Pianist und Dirigent) zu widmen. Rimski-Korssakow berichtet jedoch, dass Arensky ausgerechnet in dieser Glanzzeit seinen Süchten immer stärker verfiel, und 1903 spürte er die ersten Anzeichen der Lungenkrankheit, an der er kaum drei Jahre später starb. Trotzdem gelang es ihm in seinen letzten beiden Lebensjahren, sich dem Alkohol und Kartenspiel zu wiedersetzen, und zwei letzte Hauptwerke zu entstanden: die Oper Nal und Damajanti (1903) und eine Bühnenmusik zu Shakespeares Der Sturm (1905).
Das geschichtliche Urteil über Arenskys Schaffen fiel ziemlich hart aus. Die herkömmliche Historiographie der russischen Musik, besonders in englischsprachigen Ländern, geht von einer größtenteils nicht vorhandenen Feindschaft zwischen der “nationalistischen” — also “echten” — Kompositionsschule um Balakirew (das sogenannte “mächtige Häuflein”) und dem “Kosmopoliten” Tschaikowsky mit seinen “epigonalen” Anhängern aus, und erst die in den letzten Jahrzehnten erschienenen Arbeiten des amerikanischen Musikwissenschaftlers Richard Taruskin beweisen, wie viel von der damaligen Wirklichkeit durch dieser Historiographie unter den Teppich gekehrt wurde: Tschaikowskys Aneignung der russischen Volksmusik, die Vorliebe der “Nationalisten” für die Symphonie und ihre Besessenheit von den kanonischen Werken der deutschen Komponisten, die mannigfaltigen, überaus kollegialen und oft freundschaftlichen Kontakte zwischen Mitgliedern der vermeintlich verfeindeten Lager. In dieser Hinsicht ist es kaum überraschend, dass Arenskys “Eklektizismus” negativ bewertet wurde; es ist vielmehr merkwürdig, welch widersprüchliche Urteile unter dem Deckmantel des Eklektizismus untergebracht werden können. Arenskys Vorliebe für den strengen Satz beweist seinen “Akademismus”, seine Vorliebe für kleine Formen und Gattungen stempelt ihn zum Salonkünstler ab, sein Hang zu Exotismen verrät ihn als oberflächlichen Koloristen, während sein oft kammermusikalischer Orchestersatz als farblos gilt. Es wäre falsch, Arensky für einen zweiten Tschaikowsky zu halten, aber eine gerechte Bewertung seines Schaffens wird erst jetzt möglich.
Die I. Symphonie h-moll, op. 4 ist ein Übergangswerk, in der eher pflichtbewussten als einfallsreichen Behandlung der Formen noch an eine Studentenarbeit gemahnend (wenn aber schon “Studentenarbeit”, dann ein weitaus gekonntere als die erste Symphonie seines eigenen Lehrers!), aber in der wachsenden Selbstsicherheit der Faktur vielversprechender als nur allein akademisch befriedigend. Der langsame Satz beweist ein tiefes Verständnis der melodischen Sprache seines Lehrers; das Scherzo, klanglich stark an den entsprechenden Satz aus Tschaikowskys Erste Symphonie erinnernd, ist zugleich das erste von Arenskys großen Sätzen im Fünfvierteltakt. Am eindrucksvollsten ist das sparsam, jedoch glanzvoll instrumentierte, auf zwei Volksliedern beruhende Finale mit seinen mühelosen kontrapunktischen Einsätzen und agogischen Verschiebungen. Nach der durchaus erfolgreichen Uraufführung der Symphonie am 12. November 1883 in einem Konzert des Orchesters der Russischen Musikgesellschaft (Dirigent: Max Erdmannsdörfer, 1848-1905) empfahl Tschaikowsky sie Balakirew zur Aufführung in einem Konzert der Kostenfreie Musikschule. Tanejew fertigte freiwillig eine vierhändige Klavierfassung an, die, wie die Orchesterpartitur, bald von Jurgenson in Moskau veröffentlicht wurde.
Trotz der Erhebung Tschaikowskys zum kompositorischen Vorbild während der Ära des sowjetischen “sozialistischen Realismus” wurde diese I. Symphonie h-moll nur selten in seinem Geburtsland und so gut wie niemals im Ausland aufgeführt. Die erste nachweisbare Schallplattenaufnahme erschien erst Mitte der siebziger Jahre unter der Leitung von Eduard Serov (Großes Runfunk- und Fernsehsymphonieorchester der UdSSR, Melodiya 33C10-09169-70). Eine von Evgenii Svetlanov dirigierte Aufnahme aus dem Jahre 1983 (Staatliches Symphonieorchester der UdSSR, Melodiya 33C10-21263-64) erschien 1984 und wurde seitdem in mehreren Lizensausgaben, auch auf CD, verbreitet. Seit 2003 ist eine CD-Aufnahme von Valeri Poljanski und der Russischen Staatssymphonieorchester (Chandos 10086) erhältlich.
Stephen Luttmann, 2008
Aufführungsmaterial ist von P. Jurgenson, Moskau (http://www.jurgenson.ru) zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Stephen Luttmann, Greely.
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Anton Arensky
(b. 12 July/30 June 1861, Novgorod —
d. 25/12 February 1906, Perkjarvi, near Terioki, Finnland; now Zelenogorsk, Russia)
Symphony no. 1 in B minor, op. 4
I Adagio; Allegro patetico
II Andante pastorale con moto
III Scherzo. Allegro con spirito
IV Finale. Allegro giocoso
Preface
Anton (Antonij) Stepanovich Arensky was born on 12 July 1861 (30 June according to the Julian calendar, then still in use in Russia) in Novgorod. He was the third of four children and grew up in an upper middle class household. His father was a doctor, and both of his parents were amateur musicians — his father played cello, violin and harmonium; his mother, piano. It is therefore hardly surprising that the young Anton developed an interest for music at an early age, and by the age of nine he was already composing songs and piano pieces — works in the genres, coincidentally, in which he would eventually most distinguish himself. In contrast to most composers who grew up at the time, he had the good fortune of having parents who encouraged his career in music. His family’s move to St. Petersburg enabled him to take courses in a music school while still in secondary school, and in 1879 he became a student at the city’s conservatory. He studied composition under Nikolai Rimsky-Korsakov (1844-1908) and counterpoint and fugue under Julius Johannsen (1826-1904). While still a student he developed a close relationship with Rimsky-Korsakov, which lasted, despite the elder composer’s irritation on account of Arensky’s often erratic lifestyle until the latter’s death. (In his later years, he fell victim ever more frequently to his addictions to alcohol and gambling.) As a student, Arensky was also entrusted with the task of preparing the piano reduction of Rimsky-Korsakov’s opera Snegurochka.
In 1882 Arensky graduated from the conservatory with a gold medal, and immediately assumed a position as a teacher of music theory at the Moscow Conservatory, which in 1889 became a full professorship in music theory and composition. He made friends with Tchaikovsky (1840-1893) and Sergei Taneyev (1856-1915), and soon completed his first major works: a Piano Concerto in F minor, op. 2 (1882) and the Symphony no. 1 in B minor, op. 4 (1883). Tchaikovsky quickly became Arensky’s compositional model, a development that probably did not exactly please his former teacher. Arensky’s greatest successes as a composer during this time were without doubt the opera Son na Volge (A Dream on the Volga), premiered in 1891 but begun during his school days; the Piano Trio no. 1 in D minor, op. 32 (1894); and the String Quartet no. 2 in A minor, op. 35 (1894), the slow movement of which he arranged for string orchestra as the Variations on a Theme of Tchaikovsky, which is still frequently performed today. Among his most famous pupils were Sergei Rachmaninoff (1873-1943), Nikokai Medtner (1880-1951), Aleksandr Scriabin (1872-1915), Aleksandr Grechaninov (1864-1956), and Reinhold Glière (1875-1956). In 1888 he also became the director of the concerts of the Russian Choral Society, a position he held until 1895, at which time he also resigned from the Moscow Conservatory in order to succeed Mily Balakirev (1837-1910) upon that composer’s recommendation as leader of the Imperial Court Choir in St. Petersburg. He held this position until 1901, and the generous pension he received upon leaving the position enabled him to devote himself entirely to composition and concertizing, both as a pianist and a conductor. Rimsky-Korsakov reports, however, that precisely during these years of his greatest fame he became especially prone to the bottle and the gaming table, and in 1903 he experienced the first signs of the lung disease that would kill him hardly three years later. Despite this, he managed to pull himself together during his last two full years of life, renounce alcohol and gambling, and produce two last significant works: the opera Nal and Damajanti (1903) and incidental music to Shakespeare’s The Tempest (1905).
History’s judgment of Arensky’s works has been quite harsh. Traditional historiography of Russian music, especially in English-speaking countries, is based on a largely nonexistent enmity between the “nationalist” — and thus “authentic” school of composition around Mily Balakirev (the so-called “Mighty Handful”) and the “cosmopolitan” Tchaikovsky with his “epigonal” adherents. In the last few decades, the works of the American musicologist Richard Taruskin have demonstrated how much of the the past reality was swept under the carpet, so to speak, by this historiography: Tchaikovsky’s appropriation of Russian folk music style; the fondness of the “nationalists” for the symphony and their obsession with the canonical works of German composers; the multifaceted, typically collegial and often friendly contacts between members of the supposedly enemy camps. In this regard it is hardly surprising that Arensky’s “eclecticism” was evaluated negatively; it is, rather, surprising to note how contradictory judgements were accommodated under the cover of a criticism of his eclecticism. Arensky’s fondness for strict voice writing proves his “academic ism”; his fondness for small forms and genres reduces him to a salon composer; his tendency to employ exoticisms betrays him as a superficial colorist — while his often chamber music-like orchestration is considered colorless. It would be false to consider Arensky a second Tchaikovsky, but a just evaluation of his work is only now possible again.
The Symphony no. 1 in B minor, op. 4 is a transitional work. In its more responsible than imaginative treatment of form it still has something of the student exercise about it (but if it is a student exercise, it is nonetheless a much more assured one than the first symphony of his own teacher!), but in the increasing confidence of its textures it is more promising of greatness to come than merely academically satisfactory. The slow movement demonstrates a deep understanding of the melodic language of his teacher; the Scherzo, the sound world of which strongly recalls that of the corresponding movement of Tchaikovsky’s First Symphony, is also the first of Arensky’s great movements in 5/4 meter. Most impressive of all is the sparingly but brilliantly orchestrated Finale, based on two folk tunes, with its effortless contrapuntal passages and agogic displacements. After the successful premiere of the Symphony on 12 November 1883 in a concert of the Orchestra of the Russian Musical Society (conductor: Max Edmannsdörfer, 1848-1905), Tchaikovsky suggested to Balakirev that he have the work performed in a concert of the Free Music School. Taneyev prepared a four-handed piano reduction of the work, which, along with the full score, was soon published by Jurgenson in Moscow.
Despite the elevation of Tchaikovsky to compositional model during the era of Soviet “socialist realism”, this Symphony no. 1 in B minor was performed only seldom in its native land, and hardly if ever elsewhere. The first known recording appeared only in the mid-1970s under the direction of Eduard Serov (Great Symphony Orchestra of the USSR Radio and TV, Melodiya 33C10-09169-70). A recording conducted by Evgenii Svetlanov dating from 1983 (USSR State Symphony Orchestra, Melodiya 33C10-21263-64) appeared in 1984 and was subsequently released by several labels in both LP and CD formats. In 2003 a CD recording by Valery Polyansky and the Russian State Symphony Orchestra was released and is available as of this writing (Chandos 10086).
Stephen Luttmann, 2008
For performance materials please contact P. Jurgenson, Moscow (http://www.jurgenson.ru). Reprint of a copy from the collection Stephen Luttmann, Greely.
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