Wilhelm Stenhammar
(geb. Stockholm, 7. Februar 1871 -
gest. Stockholm, 20. November 1927)

I. Symphonie F-Dur (1902-03)

I Molto tranquillo – Allegro – Poco a poco in tempo Più tranquillo – Tempo I poco moderato – Animando – Tempo I. Allegro – Poco a poco in tempo Più tranquillo – Molto tranquillo – Allegro
Stretta. Animato p. 2 - 65

II Andante con moto p. 1 - 25

III Allegro amabile – Calmando – Tranquillo – Quieto – Tempo I – Calmando – Tranquillo p. 1 - 32

IV Finale. Allegro non tanto, ma con fuoco – Tranquillo – Sempre molto tranquillo
Animato p. 2 - 55

Vorwort
Das Schaffen Wilhelm Stenhammars fällt in jene Zeit, in der die nordische Musik ihren entscheidenden Aufschwung nahm. Sechs Jahre vor ihm sind die zwei großen Originalgenies der nordischen Musik geboren, Jean Sibelius (1865-1957) und Carl Nielsen (1865-1931). Ihnen folgten bald u.a. die Schweden Stenhammar, Hugo Alfvén, Ture Rangström, Oskar Lindberg und Kurt Atterberg, die Finnen Leevi Madetoja und Toivo Kuula, sodann der idiosynkratische Däne Rued Lang-gaard, die Norweger Ludvig Irgens Jensen, Fartein Valen und Harald Sæverud, und in Schweden Gösta Nystroem und Hilding Rosenberg als sehr unterschiedliche Wegbereiter der Moderne.

Stenhammar erlangte früh sehr reife Qualitäten, noch stark im Einflussbereich der deutschen Romantik verankert. Nach der Jahrhundertwende wurde er zunehmend selbstkritischer, vollendete 1913 und 1915 mit der Serenade op. 31 und der Zweiten Symphonie g-moll op. 34 seine beiden überragenden Orchesterwerke und tat sich in den letzten zehn Jahren seines Lebens schwer mit der Produktion neuer Kompositionen, bis er unerwartet einem Schlaganfall erlag. Außer Orchesterwerken, Liedern und Klaviermusik sind es vor allem die sechs Streichquartette, die seinen Ruhm begründeten. Sie gehören zu den eminentesten Gattungsbeiträgen ihrer Zeit. Das 1897-1900 entstandene Dritte Streichquartett F-Dur op. 18 belegt, dass Stenhammar als noch nicht Dreißigjähriger bereits auf der vollen Höhe seiner Kunst stand. Zu jener Zeit machte er sich auch zusehends als Dirigent einen Namen. 1898 übernahm er die musikalische Leitung der Philharmo-nischen Gesellschaft in Stockholm, 1900-01 war er als Kapellmeister an der Stockholmer Oper verpflichtet. Unter anderem leitete er 1899 die Uraufführung der Zweiten Symphonie seines Freunds Hugo Alfvén und war der erste, der Anton Bruckners Musik in Stockholm einführte (im Februar 1900 mit der Siebten Symphonie und dem Te Deum). Außerdem trat er ständig als Klaviersolist und – mit dem berühmten Aulin-Quartett – als Kammermusiker auf. Sein eigenes Erstes Klavier-konzert b-moll op. 1 von 1893 hatte er u.a. mit großem Erfolg in Berlin mit dem Opernorchester unter Richard Strauss und in Manchester mit dem Hallé Orchestra unter Hans Richter aufgeführt.

Zwischen 1896 und 1901 schrieb Stenhammar außer dem Dritten Streichquartett nur wenige Werke, doch im Herbst 1902 machte er sich an eine große Aufgabe: die Konzeption seiner Ersten Symphonie F-Dur, deren Orchestration er im Sommer des folgenden Jahres vollendete. Er charaktisierte seinen symphonischen Erstling als „idyllischen Bruckner“. Einige Wochen vor der Urauf-führung hörte er erstmals Jean Sibelius’ neue Zweite Symphonie und war vollkommen überwältigt von ihrer Kraft, Tiefe und Originalität. Sie wurde zum Gradmesser seines eigenen Werkes. Am 16. Dezember 1903 erklang erstmals Stenhammars F-Dur-Symphonie in Stockholm unter der Leitung von Tor Aulin, in einer gut vorbereiteten Aufführung, und es lag bereits eine Partiturabschrift bereit, die an Hans Richter geschickt werden sollte, in der Absicht, dass dieser sie mit seinem hervorragenden Hallé Orchestra aufführen sollte. Doch Stenhammar war zutiefst enttäuscht von seiner eigenen Musik, die ihm im Vergleich mit Sibelius unbedeutend und konventionell erschien. Der daraufhin an Sibelius ergangene Brief Stenhammars vom 1. Januar 1904 ist legendär geworden und enthält die folgende Passage: „Sie herrlicher Mann, Sie haben den Tiefen des Unbewussten und Unsagbaren eine Fülle von Wundern entrissen.“ Er zog seine eigene Symphonie zurück („sie ist recht gut, aber oberflächlich“) und verzichtete darauf, ihr eine Opusnummer zu geben. Den Plan, sie zu einem späteren Zeitpunkt zu überarbeiten, hat er nie ausgeführt.

Die zweite Aufführung von Stenhammars Erster Symphonie fand erst nach seinem Tode im Januar 1931 durch das Orchester der Stockholmer Konsertföreningen unter dem großen tschechischen Maestro Václav Talich statt. Dann wurde sie gelegentlich in größeren Abständen wieder vorgenommen, so 1941 unter Carl von Garaguly und 1949 unter Tor Mann, doch erst in den 1980er Jahren sollte es Neeme Järvi, 75 Jahre nach dessen Ausscheiden Nachfolger Stenhammars (und großer Vorkämpfer für seine Musik) als Chefdirigent der Göteborgs Symfoniker, sein, der die Erste Symphonie international bekannt machte und mit diesem Orchester die beiden bislang einzigen kommerziellen Aufnahmen des Werkes machte (am 24. September 1982 live für BIS die Ersteinspielung, im März 1993 die erste Studioproduktion für die Deut-sche Grammophon). Seither wird der Rang dieser Symphonie in der Fachwelt ernsthaft diskutiert.

Verglichen mit der Zweiten Symphonie op. 34 oder auch mit der zauberhaften großen Serenade op. 31 ist Stenhammars Erste Symphonie kein Meisterwerk durchgehend ersten Ranges. Dies ist nicht in der Erfindung im Einzelnen begründet, sondern vor allem in der nicht vollendet zusammenhängenden Formung der ambitioniert angelegten Ecksätze. Dabei sind beide vom Grundgerüst her originell gebaut. Der Kopfsatz weist die eher ungewöhnliche Abfolge langsam – schnell – langsam auf. Er beginnt (mit der ganzen Klangpracht der 6 Hörner) und endet herrlich, doch zwischendurch geht der energetische Faden etwas verloren, von einem durchgehenden ‚Momentum’ im Sinne Robert Simpsons kann kaum die Rede sein. Im Finale ist es unter anderem Stenhammars zentrale Schwäche für gelehrte Polyphonie, seine „Fugen-Manie“, die der beabsichtigten Großartigkeit der Entwicklung mit einer gewissen Sperrigkeit im Wege steht. Dies alles soll keineswegs in Abrede stellen, dass sich in beiden Sätzen viele Stellen von großer Authentizität und Würde, getragen von zutiefster Empfindung und hinreißender Klangpracht, finden. Stenhammar vermag fast immer zu berühren – auch dort, wo er scheitert. Die Mittelsätze sind über solche Zweifel durchaus erhaben, sowohl das anheimelnde Allegro amabile als auch ganz besonders das machtvoll steigernde Andante con moto, der stärkste Satz der Symphonie, der unzweifelhaft Stenhammars ureigenen Beitrag zur Musik seiner Zeit offenbart.

Eine gedruckte Partitur von Stenhammars Erster Symphonie ist bis heute nicht erschienen. Die vorliegende Partitur ist ein gesäuberter Nachdruck der vom Schwedischen Musikinformationszentrum für Auffüh-rungen zur Verfügung gestellten Manuskript-Partitur, in welcher sich Stenhammars eigene Retouchen finden (insbesondere zahlreiche Durchstreichungen zwecks besserer Transparenz in den Hornstimmen). Aus dem Zustand der Manuskriptkopie war oft nicht eindeutig nachvollziehbar, ob die Änderungen durchgehend auf Stenhammar selbst (oder auf Aulin, den mit ihm zusammenarbeitenden Dirigenten der Uraufführung) zurückgehen oder gelegentlich auf Eingriffe späterer Dirigenten. Auch weist die Abschrift viele Fehler auf. Wir legen hier keinesfalls eine kritisch korrigierte Partitur vor, sondern lediglich die erste gedruckte, unverbesserte Studienpartitur eines Werkes, das hoffentlich in naher Zukunft nach wissenschaftlichen Kriterien neu herausgegeben wird. An dieser Stelle sei allerdings auch vor dem häufigen Fehler gewarnt, den Musikwissen-schaftler gerne machen, indem sie einen ‚Urtext’ vorlegen wollen und die Retouchen rückgängig machen zugunsten der Erstgestalt. Doch bei diesen Retouchen handelt es sich meist tatsächlich um (überwiegend authentische) Verbesserungen aufgrund der Erfahrungen in Probe und Aufführung, welche stets erst die Divergenz zwischen kompositorischer Absicht und Orchestration zutage bringen. So ist vorliegende Partitur im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚Studien-Partitur’, aus welcher der Studierende teils selbst herauslesen mag, welcher Lösung im jeweiligen Falle der Vorzug zu geben sei (unterstützend kann er die Göteborger Aufnahmen Neeme Järvis heranziehen). Zur ‚Aufführungstradition’ sei abschließend noch der folgende, in der extremen Unterschiedlichkeit des Ergebnisses bemerkenswerte Hinweis gegeben. Auf der Rückseite der Partiturvorlage fand sich eine handschriftliche Eintragung, die die zwei folgenden Aufführungen mit Spieldauern erwähnt:

29. Oktober 1941 Carl von Garaguly. 57 Minuten
25. September 1949 Tor Mann. 46 Minuten und 15 Sekunden

Christoph Schlüren, August 2009

Aufführungsmaterial ist vom Swedish Music Information Center (Svensk Musik), Stockholm zu beziehen.

Wilhelm Stenhammar
(b. Stockholm, 7 February 1871 -
d. Stockholm, 20 November 1927)

Symphony No. 1 in F major (1902-03)

I Molto tranquillo – Allegro – Poco a poco in tempo Più tranquillo – Tempo I poco moderato – Animando – Tempo I. Allegro – Poco a poco in tempo Più tranquillo – Molto tranquillo – Allegro
Stretta. Animato p. 2 - 65

II Andante con moto p. 1 - 25

III Allegro amabile – Calmando – Tranquillo – Quieto – Tempo I – Calmando – Tranquillo p. 1 - 32

IV Finale. Allegro non tanto, ma con fuoco – Tranquillo – Sempre molto tranquillo
Animato p. 2 - 55

 

Preface
Wilhelm Stenhammer’s compositions fall in the period when Nordic music underwent its decisive upsurge. The two great and wholly original geniuses of Nordic music – Jean Sibelius (1865-1957) and Carl Nielsen (1865-1931) – were born six years before him. Soon they were followed by Stenhammar, Hugo Alfvén, Ture Rangström, Oskar Lindberg, and Kurt Atterberg in Sweden and Leevi Madetoja and Toivo Kuula in Finland, and a short while later, as highly contrasting harbingers of modernism, by the idiosyncratic Dane Rued Lang-gaard, Irgens Jensen, Fartein Valen, and Harald Sæverud in Norway, and Gösta Nystroem and Hilding Rosenberg in Sweden.

At a very early age Stenhammar achieved qualities that placed him squarely within the purlieus of German Romanticism. After the turn of the century he became increasingly self-critical, completing his two outstanding orchestral works, the Serenade (op. 31) and the Second Symphony in G minor (op. 34), in 1913 and 1915, respectively. In his final ten years, before dying unexpectedly of a stroke, he found it difficult to produce new compositions. In addition to orchestral works, lieder, and piano music, his fame resides primarily on his six string quartets, which are among the period’s eminent contributions to the genre. The Third String Quartet in F major (op. 18), composed from 1897 to 1900, proves that Stenhammar already stood at the pinnacle of his art before reaching the age of thirty. At that time he also became increasingly famous as a conductor. In 1898 he was appointed music director of the Philharmonic Society in Stockholm; and in 1900-01 he conducted at the Stockholm Opera, where among other things he gave the première of his friend Hugo Alfvén’s Second Symphony and became the first person to conduct Anton Bruckner’s music in Stockholm, giving the Seventh Symphony and the Te Deum in February 1900. He also appeared on a regular basis as a piano soloist and chamber musician with the famous Aulin Quartet. His own First Piano Concerto in B-flat minor, op. 1 (1893), was performed with great success in Berlin by the Opera Orchestra (under Richard Strauss) and in Manchester by the Hallé Orchestra (under Hans Richter).

Between 1896 and 1901 Stenhammar wrote few works apart from the Third String Quartet, but in autumn 1902 he embarked on a grand project: the conception of his First Symphony in F major, whose orchestration he completed in the summer of the following year. He described his fledgling effort in the symphonic genre as “idyllic Bruckner.” A few weeks before the première he heard Sibelius’s new Second Symphony for the first time and, completely overwhelmed by its power, depth, and originality, made it the yardstick for his own work. On 16 December 1903 Stenhammar’s F-major Symphony resounded for the first time in Stockholm in a well-prepared performance conducted by Tor Aulin. A handwritten copy of the score had been prepared beforehand for shipment to Hans Richter so that it might be performed by the superb Hallé Orchestra. But Sten-hammar was deeply disappointed by his own music, finding it insignificant and conventional compared to Sibelius. His subsequent letter of 1 January 1904 to Sibelius has become legendary: “You splendid man, you’ve wrested a multitude of wonders from the depths of the unconscious and the ineffable.” He withdrew his own symphony (“it’s quite good, but superficial”) and declined to assign it an opus number. His plan to revise it at a later date was never carried out.

The second performance of Stenhammar’s First Symphony had to wait until after his death, when it was given by the Orchestra of the Stockholm Concert Society under the great Czech maestro Václav Talich in January 1931. Thereafter it was occasionally revived at irregular intervals, e.g. by Carl von Garaguly in 1941 and Tor Mann in 1949. But it was not until the 1980s that Neeme Järvi, Stenhammar’s successor as principal conductor of the Gøteborg Symphony (seventy-five years after the latter’s resignation) and a leading champion of his music, made the First Symphony known on an international basis and produced what is to date the only two commercial recording of this work – a live performance on 24 September 1982 for BIS and a studio recording for Deutsche Grammophon in March 1993. Since then the stature of this symphony has been an object of earnest discussion in the professional community.

Compared with the Second Symphony (op. 34) or the magical large-scale Serenade (op. 31), Stenhammar’s First Symphony is not always a masterpiece of the first order. The reason is not to be found in the inventiveness of its details, but mainly in the imperfect coherence of its ambitious outside movements. That said, both are original in their basic structure. The opening movement is somewhat unusually laid out in slow, fast, and slow sections. Its beginning (with all the timbral radiance of the six horns) and its ending are magnificent, but in between it tends to lose track of the line of tension, and there is not an inkling of what Robert Simpson would call “continuous momentum.” In the finale it is mainly Stenhammar’s inborn foible for learned counterpoint – his “mania for fugue” – that thwarts the intended grandeur of the development with its bulkiness. This is not to deny that both movements contain passages of great authority and dignity, sustained by emotional profundity and exhilarating outbursts of sound. Stenhammar almost always manages to move us, even in his failures. No such doubts attend the two middle movements: the cozy Allegro amabile and especially the powerfully escalating Andante con moto – the strongest movement in the symphony and the one that unquestionably reveals Stenhammar’s distinctive contribution to the music of his time.

To the present day Stenhammar’s First Symphony has never appeared in print. Our volume is a cleaned-up reproduction of a handwritten score provided by the Swedish Music Information Center for performance purposes and containing Stenhammar’s own retouchings, particularly many deletions designed to achieve greater transparency in the horn parts. The physical condition of the manuscript sometimes makes it impossible to decide whether the changes originated with Stenhammar himself (or with Aulin, the conductor who collaborated with him at the première) or whether they occasionally represent interventions by later conductors. Further, the copy is full of errors. Rather than presenting a critically sanitized score, we merely publish the first unexpurgated printed study score of a work which will, we hope, be republished in the near future in accordance with current scholarly standards. However, readers should be warned of the common musicological mistake of trying to present an “urtext edition” and retracting the retouchings in favor of the work’s initial form. Indeed, in most cases these retouchings are (largely authorial) corrections which were made on the basis of experiences gained in rehearsal and performance, and which invariably bring to light the discrepancy between the composer’s intentions and his orchestration. Thus, our volume is a “study score” in the fullest sense of the term, allowing readers to decide for themselves which solutions should be given precedence. (Neeme Järvi’s Gøteborg recordings can be usefully consulted for support). Finally, the following remarkable fact should be mentioned in connection with the widely contrasting readings found in the work’s “performance tradition.” The back page of the original score contains a handwritten inscription listing the durations of the following two performances:

29 October 1941, cond. Carl von Garaguly: 57’.
25 September 1949, cond. Tor Mann: 46’15”

Translation: Bradford Robinson

For performance materials please contact the Swedish Music Information Center (Svensk Musik), Stockholm.