Claude Debussy
(geb. Saint-Germain-en-Laye, 22. August 1862 — gest. Paris, 25. März
1918)
Trois ballades de François Villon
Die Trois ballades de François Villon entstanden 1910 nur acht Jahren
vor Debussys Tod und zählen zu seinen letzten Liedkompositionen.
Sie weisen viele Merkmale seines Liedstils auf, wie sie sich in Meisterwerken
wie seinen Ariettes oubliées, den beiden Sammlungen von Fêtes galantes
sowie den bemerkenswerten Chansons de Bilitis herauskristallisiert
hatten. Die Einstellung Debussys zur Dichtkunst wurde stets durch
seinen überlegenen Intellekt bestimmt. Mit zunehmendem Alter griff
er immer mehr auf Dichter vergangener Jahrhunderte zurück, darunter
Charles d’Orléans, Tristan L’Hermite und eben François Villon. Villons
Lebenserfahrungen bilden den grossen Rahmen dieser interessanten
Vertonungen – eine gequälte Seele, der Kriminalität wie der Dichtkunst
gleichermaßen zugetan. Die Gedichte Villons sind voll der Leidenschaften,
die auch sein stürmisches Dasein bestimmten. Diese derbe Qualität
der Texte regte Debussy zu einigen seiner unmittelbarsten und intimsten
Liedvertonungen an. Wegen der Balladenform der Lyrik wählte der Komponist
eine Vers/Refrain-Anlage, die den Liedern Gestalt verleiht. Wie aus
seiner Lebenszeit (c. 1431- c. 1463) nicht anders zu erwarten, sind
Villons Sprache durch eine archaische Syntax und Rechtschreibung
gefärbt, die die sprachliche Fähigkeiten des Sängers herausfordert
und ihm zugleich weitere Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet.
Das erste Lied Ballade de Villon à s’amye (“Die Ballade des Villon
an seine Geliebte”) wirft den Zuhörer unvermittelt inmitten die vielen
Klischeebilder der mittelalterlichen höfischen Liebe: Der Dichter
leidet unter einer ebenso schönen wie grausamen Frau, droht mit selbst
auferlegter Verbannung, falls die ihn nicht erhört und verspottet
als Zurückgewiesener die gesamte Damenwelt ihrer Schwäche wegen.
Alle drei Strophen enden mit dem gleichen pathetischen Refrain: “Helft
einem Armen, ohne sein Geschick noch zu verschlimmern.” Am Anfang
des Liedes schreibt der Komponist “im Ausdruck eher qualvoll als
reumütig”, wobei das sich wiederholende Thema – eine seufzende Geste
der Holzbläser – diese illusionslose Wehklage ideal verkörpert. Die
zweite Strophe gewinnt an Tempo und Feuer, als der Dichter sich fragt:
“Soll ich kampflos sterben?” Im Refrain wird jedoch mit dem Vortragszeichen
“sanft und melancholisch” ein langsameres Tempo vorgeschrieben, als
sich der Dichter dem Altern, der Einsamkeit und der Bitterkeit preisgibt.
Im zweiten Lied Ballade que Villon feit à la requeste de sa mère
pour prier Nostre Dame (“Ballade des Villon, geschrieben im Auftrag
seiner Mutter, als Gebet an die Muttergottes”) setzt sich der Dichter
mit der eigenen Sterblichkeit auseinander, während er auf eine Gefängnisstrafe
für eines seiner vielen Verbrechen wartet. In der Tat sind seine
Verbrechen derart zahlreich, daß er den Geist seiner frommen Mutter
heraufbeschwören muß, um für ihn Fürsprache einzulegen. Der Refrain
des ernsten und gedankenschweren Gedichts ist ebenso sprachschön
wie schlicht: “In diesem Vertrauen möchte ich leben und sterben.”
Die Vertonung Debussys entspricht der mittelalterlichen Strenge der
Vorlage. Durch modale Wendungen und leere Quinten wird die meditative
Musik der mittelalterlichen Kirche erinnert, während die Stimme stets
gefaßt und demütig bleibt. Wie in der ersten Ballade weicht die Lebhaftigkeit
der zweiten Strophe einer ruhigeren dritten Strophe. Diese letzte
Strophe des Gebets weist einen höheren Grad an Chromatik auf und
bietet elementare Tonmalerei zur Gestaltung der Liedzeilen: “Ein
Bild vom Paradies mit Harfen und Lauten / Und eine Hölle, in der
die Verdammten schmoren.” Die letzte Wiederholung des Refrains führt
zum friedlichen Abschluß.
Eine gewisse Kontrastwirkung bietet die dritte Ballade “über die
Frauen von Paris” (Ballade des femmes de Paris). In der Geschichte
der westlichen Dichtkunst wird die Frau gern als Quelle der Freuden
wie auch des Leidens dargestellt; hier werden die Frauen von Paris
wegen ihrer besonders spitzzüngigen Redeweise liebevoll getadelt.
Bei der Vorlage handelt es sich um einen tollen Katalog von Frauen
aller Zeiten und aus aller Herren Länder, vor allem derjenigen, die
für ihre schonungslose Sprachgewalt berüchtigt waren. Darüberhinaus
aber, so behauptet der Refrain: “Niemand tratscht so wie die Pariserinnen”.
Die Vertonung Debussys, die mit freudigem Witz und vielen Tempowechseln
schwatzhaft vor sich hin tummelt, nimmt die noch schlüpfrigeren Lieder
Poulencs vorweg.
Die ursprünglich für Bariton geschriebenen Trois Ballades de François
Villon stellen einen wahren Triumph der Vermittlung mittelalterlicher
Atmosphäre dar, die sich zwischen der Klangwelt der Gebete eines
frommen, einfachen Bürgers und der klischeehaften literarischen Behandlung
der Damenwelt erstreckt. In den ersten beiden Liedern zeigt sich
Debussy als Meister der Kunst der Pastiche; um mit Graham Johnson
zu reden: “Die meisten Lieder dieser Gattung sollen reizvoll wirken,
hier jedoch haben wir es mit einem Komponisten zu tun, der imstande
ist, sich selbst und seine Musik in die strengeren Aspekte eines
weit zurückliegenden Jahrhunderts hineinzuversetzen.” Bei diesen
späten Liedern handelt es sich um Meisterwerke der Kontrastwirkung
und kompositorischen Selbstbeherrschung, die den Komponisten auf
dem Gipfel seines Könnens zeigen. Vor allem die Orchesterfassung
fügt die Klangfarben der Streicherpizzikati und der Holzbläser hinzu,
um Stimmungen von Trauer bis Demut und Tapferkeit hervorzurufen.
Wie bei so vielen seinen Liederzyklen dringt Debussy ausdrucksmäßig
mit stimmungsvoll-schwärmerischer Musik in den Kern der dichterischen
Vorlage ein und weckt so die Lust der Zuhörer auf weitere solche
Kostbarkeiten.
Übersetzung: Bradford Robinson
Aufführungsmaterial ist von Durand, Paris zu beziehen.
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Claude Debussy
(b. Saint-Germain-en-Laye, 22 August 1862 — d. Paris, 25 March 1918)
Trois ballades de François Villon
The Trois ballades de François Villon are some of Debussy’s latest
songs, written in 1910, only eight years before his death. They bear
many hallmarks of Debussy’s song-writing style, which by this point
had crystallized through such masterpieces as Ariettes oubliées,
the two sets of Fêtes galantes, and the remarkable Chansons de Bilitis.
Debussy’s relationship to poetry was always informed by his supreme
intellect. As he matured, he hearkened back to poets of centuries
past, included Charles d’Orléans, Tristan L’Hermite, and François
Villon. Villon’s life experiences provide much of the framework for
these interesting songs: a tortured soul, as devoted to crime as
to poetry, Villon’s verse is loaded with the real-life passions that
marked his tumultuous existence. This earthy quality of the texts
inspired Debussy to some of his most direct and intimate song settings.
The ballad form of these poems provided Debussy a verse-refrain structure
that lends shape to the songs. Villon’s language, a sign of his times
(c. 1431-c. 1463) is colored by archaic syntax and spellings that
provide the singer both linguistic challenges and opportunities for
expressiveness.
The first song, “The ballad of Villon to his beloved,” plunges the
listener directly into the many cliches of medieval courtly love:
the poet suffers at the hands of a woman who is beautiful, but cruel;
threatens self-imposed exile if the woman will not have him; rejected,
he lastly mocks womankind for its frailty. Each of the three verses
ends with the pathetic refrain, “help a poor fellow without crushing
him.” Debussy indicates a mood “more of anguish than regret” at the
beginning of the mélodie, and the recurring theme, a sighing woodwind
gesture, perfectly illustrates this disillusion and lament. The second
verse gains speed and fervor, as the poet writes, “shall I die without
striking a blow?” The refrain, however, brings us back to a slower
tempo, now with the indication “sweet and melancholy.” The poet is
now resigned to old age, solitude, and bitterness.
The second song, “The ballad that Villon makes at the request of
his mother to pray to Our Lady,” finds Villon coming to terms with
his own mortality as he awaits a prison sentence for one of his many
crimes. So numerous are his crimes, in fact, that he must invoke
the spirit of his pious mother to intercede on his behalf. The poem,
fervent and contemplative, has a beautifully simple refrain: “in
this faith will I live and die.” Debussy’s music matches the medieval
austerity of the poem. Modality and open fifths suggest the meditative
music of the medieval church, and the vocal line remains controlled
and humble. Like the first ballad, the animation of the second verse
yields to a quieter third verse. This final verse of the prayer includes
more chromaticism, including some rudimentary text-painting for the
lines “a picture of Heaven with harps and lutes / and Hell where
the damned are boiled.” The last repetition of the refrain leads
to the peaceful final bars.
Contrast comes in the form of the third ballad, addressed “to the
women of Paris.” Women, throughout poetry, are sources of both elation
and vexation, and here Villon lovingly chides the women of Paris
for their particularly barbed tongues. The poem is a romping litany
of women from all places and times, listing off those women who were
especially known for their merciless verbal skills. However, as the
triumphant refrain of the song states, “there is no sharper tongue
than in Paris.” Debussy’s setting chatters along with a joyous wit
and shifts of tempo that foreshadow the bawdier songs of Poulenc.
The Trois ballades de François Villon, written for baritone voice,
are a triumph in capturing the medieval atmosphere, from the sound-world
of the pious commoner’s prayers to the clichéd poetic treatment of
women. Debussy masters the art of pastiche in the first two songs;
as Graham Johnson writes, “most songs in this genre are meant to
charm us, but here we have a composer able to rethink himself and
his music into the more rigorous aspects of a distant century.” These
late mélodies are a masterwork of contrast and control, and show
Debussy at the apex of his compositional powers. The orchestral version,
in particular, adds the colors of pizzicato strings and woodwinds,
evoking moods from mournful to pious to plucky. As in so many of
his song sets, Debussy penetrates to the expressive core of the poetry
with evocative and rapturous music, and leaves his audience wanting
more.
Dr. Kyle Ferrill - Indianapolis, Indiana, 2009
For performance material please contact the publisher Durand, Paris.
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