Paul Graener
(geb. Berlin, 11. Januar 1872 – gest. Salzburg, 13. November 1944)

Symphonietta für Streichinstrumente und Harfe op. 27

Wie auch andere Komponisten vor ihm – etwa Robert Schumann oder Felix Mendelssohn Bartholdy – hegte Paul Graener, der mit seiner Frau Maria Elisabeth Hauschild drei Kinder hatte, eine zärtliche Zuneigung zur Thematik der Kindheit. Eine seiner ersten Klaviersammlungen – Armin and Kandt’s First Juvenile Drawing-Room Album – entstand 1896 im Geburtsjahr seines ältesten Sohnes Heinz. Die ausdrücklich für “Kinder aller Altersgruppen” komponierte Sammlung vermittelt durch alle zehn Charakterstücke hindurch einen eleganten Reiz, der in Titeln wie “Dearest Mamma”, “Papa Comes” oder “The Tin-Soldier” deutlich zum Ausdruck kommt.i Es war acht Jahre später, während Graeners Amtszeit als Kapellmeister am Londoner Theatre Royal am Haymarket, als seinLeben verursacht durch den frühzeitigen Tod seines Ältestesten in eine dunkle Periode eintrat. Diese Zeit der tiefen Leiden und Trauer über den traumatischen Verlust schlug sich auch in der Symphonietta für Streicher und Harfe op. 27 nieder, die am 15. Mai 1908 im Londoner Steinway Hall uraufgeführt und 1910 beim Wiener Musikverlag Universal-Edition in Druck erschien.ii Im allgemeinen wurde das Werk freundlich aufgenommen, wobei vor allem sein Cousin George Graener und der Kritiker Julius Knapp den Erfolg der Symphonietta auf die unglücklichen Umständen ihrer Entstehung zurückführten, die wiederum dem Schaffen des Komponisten einen tieferen Ausdrucks verlieh.iii

Die Symphonietta beruht auf Graeners früherem Streichquartett In Memoriam und stellt ein instrumentales Klagelied dar. Dies geht aus der Inschrift des Komponisten auf dem Titelblatt (“Dem Andenken Meines Sohnes Heinz”) sowie aus dem Hinweis auf das Gedicht Auf den Tod eines Kindes (1859) von Johann Ludwig Uhland deutlich hervor.iv Das vierzeilige Gedicht, das einen frommen und tröstenden Ton für die Symphonietta anschlägt, handelt vom Schicksal eines Kindes, das nur kurz leben durfte. Als Antwort auf die Fragen der dritten Gedichtzeile (“Woher? Wohin?”), die den Kern des Gedichts bilden, ruft die Schlußzeile ein Gefühl des Trostes und der Erlösung hervor. Hier bestätigt der Dichter, daß das Kind allein durch Gott entstand und nun zu Gott zurückkehrt (“Aus Gottes Hand in Gottes Hand”).

Durch das ganze Werk hindurch spiegelt sich der programmatische Inhalt hauptsächlich in der Orchestrierung sowie der tonalen Anlage wider. Unter dem Uhlandschen Vierzeiler schreibt der Komponist eine minimale Besetzung vor: jeweils vier erste und zweite Violinen, drei Bratschen und Violoncelli sowie zwei Kontrabässe, einer davon mit Kontra-C-Saite. Als Besonderheit bei der Besetzung dieser Tondichtung kommt eine Harfe als symbolische Anspielung auf das Göttliche hinzu, wobei die Streicher wie eine Brücke zwischen Himmel und Erde wirken sollen.v Auch wenn die Harfe vorwiegend eine Begleitfunktion erfüllt, ist ihre ureigene Klangfarbe gegen den Hintergrund der weiteren Saiteninstrumente für die gesamtklangliche Qualität des Werks maßgebend. Das zyklische Sujet des Gedichts wird durch die Instrumentation verwirklicht, indem der Gesamtklang des 15-teiligen Streichensembles zunächst am Anfang der Symphonietta ertönt und am Ende – nunmehr durch die entrückten Klängen der Harfe verziert – wieder zurückkehrt. Diese beiden eher zurückhaltenden Tutti-Abschnitte lassen die tiefe und die hohe Lage der Instrumente deutlich hervortreten; zugleich umrahmen sie die klanglich durchsichtigeren Mittelteile, in denen die Streicher kammermusikalisch unterteilt werden.

Die Thematik des Abschieds und der Rückkehr in Gottes Hand kommt auch in den tonartlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Abschnitten des Werkes zum Geltung. Indem die Einleitung zum Allegretto-Teil (T. 1–5) in der entfernten Tonart Es-Dur anfängt und sich langsam in Richtung eines Dominantsept-Akkordes auf D-Dur als Vorbereitung auf die Haupttonart G-Dur fortbewegt, wird das Werden eines Kindes aus einem geistigen Reich gleichsam symbolisch nachgezeichnet. Nachdem einige mehr oder weniger nah verwandte Tonartbereiche durchschritten werden, kehrt Graener zu der Akkordfolge wieder zurück, mit der das Werk anfing, als wolle er die Heimkehr des Kindes verkörpern. Fungiert diese Akkordfolge zunächst als Einleitung, so wird sie jetzt in der abschließenden Schußwendung (T. 301 ff.) umgedeutet, um die markante Modulation nach E-Dur am Anfang des Schlußteils (T. 285) rückwirkend zu erklären. Daß Graener diese Akkordfolge gegenüber ihrem ersten Auftritt um einen Halbtonschritt nach oben transponiert, verleiht dem Werk ein übersinnliches Ambiente und fügt zugleich zur Thematik des Abschieds und der Rückkehr aus Uhlands Gedicht eine aparte Nuance hinzu: Eine Rückkehr zum Ort, von dem wir herstammen, kann einen Neuanfang bedeuten und gleichzeitig die Spuren vergrössern, die ein menschliches Leben zurückgelassen hat.

Zu den weiteren markanten Eigenschaften des Werks bezüglich seines programmatischen Inhalts gehören das tröstende Wiegenlied des C-Dur-Teils (“Wie ein Schlummerlied”, T. 147) sowie die allmähliche, sich durch das ganze Werk hinziehende Verwandlung und Zusammenfügung des thematischen Materials. Das Wiegenlied, das im 9/8-Takt statt des bisher dominierenden 6/8-Takts ertönt, erscheint nach einer ruhelosen, stürmischen Passage in der fernen Tonart cis-Moll (ab T. 114). Als die Solovioline den Wiegenlied-Abschnitt mit einer wohltuend sanften Melodik abschließt (T. 167–177), wird die Harfe zum alleresten Mal eingesetzt, um den unerwarteten Tonartwechsel in die erniedrigte Tonikaparallele As-Dur mit feingliedrigen Arpeggi unterstützend zu begleiten.

Der allgemeine Umgang Graeners mit dem thematischen Material bezüglich der tonalen Anlage des Werks erinnert zuweilen an die Prinzipien der Sonatenhauptsatzform: Der Hauptsatz und Nebensatz in G-Dur (T. 6–16) bzw. C-Dur (T. 47–54) kehren mit zusätzlichen Begleitfiguren in der Reprise wieder zurück (ab T. 177), wobei der Nebensatz nunmehr in G-Dur erscheint und verkürzt wird, um in einen Dialog mit dem Hauptsatz eingehen zu können (man siehe z.B. T. 193-195 der 1. und 2. Violinen). Gegen Ende der Symphonietta (T. 297–298) greift Graener zwar zum allerletzten Mal das Hauptthema erneut auf, läßt es jedoch im neuen harmonischen Gewand erklingen und baut es rhythmisch um, damit es nunmehr dem 4/4-Takt entspricht. Der feinfühlige Tonfall der Modalität bei diesem letzten Auftritt des Themas ruft eine Atmosphäre der Nostalgie und Erinnerung hervor – eine Reminiszenz an die flüchtige, jedoch beeindruckende Pilgerfahrt des Themas durch den Verlauf des Werks.

Übersetzung: Bradford Robinson

i Paul Graener, Armin and Kandt’s First Juvenile Drawing-Room Album (Armin and Kandt, London 1896).
ii Vgl. Knut Andreas, Zwischen Musik und Politik. Der Komponist Paul Graener (1872–1944) (Frank und Timme, Berlin 2008), S. 87, vor allem die ausgezeichnete Darstellung der Symphonietta auf S. 76–88.
iii Georg Gräner, Paul Graener (1922)(= Die Musik. Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen), S. 20; Julius Knapp, “Paul Graener: Leben und Werk” in: Programmheft zur Oper Der Prinz von Homburg (Staatsoper Berlin 1935), S. 3. Zitiert nach Andreas, Zwischen Musik und Politik, S. 77.
iv [Johann] Ludwig Uhland, Dichtungen, Briefe, Reden, hrsg. von Walter P. H. Scheffler (J.F. Steinkopf Verlag, Stuttgart 1963), vor allem S. 251.
v J. C. Cooper, An Illustrated Encyclopedia of Traditional Symbols (Thames and Hudson, London 1978), S. 80; Ad de Vries, Elsevier’s Dictionary of Symbols and Imagery, revidierte und aktualisierte 2. Ausg. hrsg. von Arthur de Vries (Elsevier, Amsterdam 2004), S. 286. Im Beitrag über die Harfe schreibt de Vries, daß der Klang der Harfe “die Seele vom toten Körper befreite und in den Himmel hinauftrug”.

 

Aufführungsmaterial ist von der Universal Edition, Wien zu beziehen.

Paul Graener
(b. Berlin, 11 Jan 1872; d. Salzburg, 13 Nov 1944)

Symphonietta für Streichinstrumente und Harfe, op. 27

Like other composers before him such as Robert Schumann and Felix Mendelssohn, Paul Graener shared a warm affection for themes of childhood, himself a father of three child-ren with his wife Maria Elisabeth Hauschild. One of his earliest piano collections, Armin and Kandt’s First Juvenile Drawing-Room Album, was composed during the birth year of his eldest son Heinz in 1896. Written especially for “children of all [a]ges,” the collection embodies an elegant charm throughout its ten character pieces with titles such as “Dearest Mamma,” “Papa Comes,” and “The Tin-Soldier.” i It was the untimely death of Heinz during Graener’s position as Kapellmeister at the Theatre Royal, Haymarket, eight years later that led to a dark period in the composer’s life, where deep sorrow and mourning over the traumatic loss found its expression in the Symphonietta for Strings and Harp, op. 27. The work was first performed on May 15, 1908 in London’s Steinway Hall and later published by Universal Edition of Vienna in 1910.ii Generally, the work was received favorably; his cousin George Graener and critic Julius Knapp, in particular, attribute the Symphonietta’s success to the unfortunate circumstance that led to its genesis, which in turn enabled a greater sense of depth to the composer’s creative output.iii

The Symphonietta is based on Graener’s earlier string quartet In Memoriam, and presents an instrumental elegy, as noted both in the composer’s inscription on the title page, “Dem Andenken Meines Sohnes Heinz” and in his reference to Johann Ludwig Uhland’s poem, “Auf den Tod eines Kindes” (1859).iv Establishing a pious, consoling tone for the Symphonietta, the four-line poem questions the fate of a child whose life was very brief. In response to the questions posed in the third line (“Woher? Wohin?”), which form the crux of the poem, the final line provides a sense of solace and resolution. Here the poet affirms that it is from God’s hand that the child came into being and into God’s hand that the child will return (“Aus Gottes Hand in Gottes Hand”).

Throughout the Symphonietta, the programmatic content is mainly reflected in Graener’s orchestration and tonal plan. Below Uhland’s quatrain, the composer requests a minimum ensemble of four first and four second violins, three violas and three cellos, and two basses (one with a contra c-string). Especially particular to the scoring of this tone-poem is the addition of a harp, a symbolic reference to the divine in which the strings resemble a bridge between heaven and earth.v Although the harp’s function is mainly accompanimental, its distinctive sound against the backdrop of the remaining string instruments is paramount to the work’s timbral quality. Graener communicates the poem’s cyclic subject matter through orchestration, where the collective sound of the fifteen-string ensemble that appeared at the beginning of the Symphonietta returns at the very end, now embellished by the ethereal harp accompaniment. Both of these subdued tutti sections expose the upper- and lower-most registers of the instruments and frame the lighter orchestration found in the inner sections, where the strings are divided into chamber groups.
The poem’s idea of departure and return to the hand of God is also conveyed in the tonal relationships between the distinct sections of the Symphonietta. That the introduction to the Allegretto (mm. 1–5) begins on the remote harmony of E-flat major and slowly gravitates towards a D-major dominant-seventh chord in preparation for the key of G major—which functions as the main tonal center of the entire work—is symbolically suggestive of the child’s coming into being from a spiritual realm. After traversing several related and distant key areas, Graener returns to the progression that began the work, as though signifying the child’s divine homecoming. Whereas this progression first functioned as an introduction, it is now reinterpreted within the closing cadential function (mm. 301–end), confirming the striking move to E major that was initiated at the beginning of the Symphonietta’s final section (m. 285). That Graener transposes this progression up a half-step from its initial appearance gives the work a transcendent ambiance, and provides an intriguing nuance to the theme of departure and return in Uhland’s poem: a return to the place where we came from can also signify a new beginning, and concomitantly, magnify the trace left behind by a life experienced.

Other striking features of the piece relative to the programmatic content are the consoling lullaby section in C-major marked “Wie ein Schlummerlied” (m. 147), and the gradu-al transformation and synthesis of thematic material throughout the work. Sounding in 9/8 meter, as opposed to the 6/8 meter that dominated the work thus far, the lullaby appears after a restless, tumultuous passage in the distant key of C-sharp minor (beginning in m. 114). As the solo violin brings the lullaby section to a close with its soothing melody (mm. 167–177), the harp makes its first appearance in the piece, supporting the unexpected harmonic shift to the flat-submediant (A-flat major) with delicate arpeggios.

Graener’s general approach towards the thematic material in relation to the work’s tonal plan is moderately reminiscent of sonata-form principles; the first and second themes in G major (mm. 6–16) and C major (mm. 47–54), respectively, return in the recapitulation with added figuration (beginning in m. 177). Here the second theme—now transposed to G major—is truncated and forms a dialogue with the first theme (see, for instance, the first and second violins, mm. 193–195). Towards the very end of the Symphonietta (mm. 297–298), Graener returns to the first theme one last time, but reharmonizes it and reworks the rhythm so as to conform to the 4/4 meter. The subtle inflection of modal mixture in this last thematic restatement creates an air of nostalgia and memory, a reminiscence of the theme’s fleeting, yet impressionable pilgrimage throughout the course of the work.

Rene R. Daley, 2009

i Paul Graener, Armin and Kandt’s First Juvenile Drawing-Room Album (London: Armin and Kandt, 1896).
ii Knut Andreas, Zwischen Musik und Politik: Der Komponist Paul Graener (1872–1944) (Berlin: Frank und Timme, 2008), 87. See especially Andreas’s excellent discussion of the Symphonietta on pp. 76–88.
iii Georg Gräner, Paul Graener (Die Musik. Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen, 1922), 20; Julius Knapp, “Paul Graener: Leben und Werk,” in Programmheft zur Oper Der Prinz von Homburg (Staatsoper Berlin, 1935), 3. As cited in Andreas, Zwischen Musik und Politik, 77.
iv [Johann] Ludwig Uhland, Dichtungen, Brief, Reden, edited by Walter P. H. Scheffler (Stuttgart: J.F. Steinkopf Verlag, 1963). See especially p. 251.
v J. C. Cooper, An Illustrated Encyclopedia of Traditional Symbols (London: Thames and Hudson, 1978), 80; Ad de Vrie, Elsevier’s Dictionary of Symbols and Imagery, 2nd edition, revised and updated by Arthur de Vries (Amsterdam: Elsevier, 2004), 286. In de Vries entry on the harp, he adds that the sound of the harp “released the soul from the dead body and carried it into heaven” (ibid.).

For performance material please contact the publisher Universal Edition, Vienna.