Ferruccio Busoni
(geb. Empoli, 1. April 1866 - gest. Berlin, 27. Juli 1924)

Sarabande und Cortège:
Zwei Studien zu “Doktor Faust“ op. 51
für Orchester (1918/19)

Vorwort
“Die Verlobung ihrer Tochter Sarabande mit M. Cortège beehren sich anzuzeigen Ferruccio Busoni und Muse. Zürich – Januar 1919 – Empoli.” So Busonis trocken-verschrobene Ankündigung der Fertigstellung seines Op. 51 gegenüber dem Schweizer Dirigenten Volkmar Andreae. Tatsächlich – und trotz des flappsigen Wortlauts der “Verlobungsanzeige” – gab es aber am neuen Werk nichts Leichtfertiges: Die beiden Stücke sollten einen Vorgeschmack von dem großen, jedoch nie vollendeten musikalisch-philosophischen Testament Busonis – der Oper Doktor Faust – vermitteln, und der Komponist selbst betrachtete Sarabande und Cortège als die erfolgreichste aller seiner Kompositionen.

Obwohl das neue Werk auf dem Titelblatt der 1922 beim Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel erschienenen Erstausgabe als zwei “Studien” bezeichnet wurde, handelt es sich bei diesem Terminus um eine Fehlbe-zeichnung. Denn Busoni war schon seit Juni 1917 mit Doktor Faust beschäftigt und hatte die Hälfte der Partitur bereits zu Papier gebracht, als er sich im Dezember diesen beiden Stücken zuwandte. Auch hatten beide Stücke eine feste dramaturgische Stelle in der Oper längst zugewiesen bekommen: Die Sarabande sollte als symphonisches Intermezzo vor dem Tod Fausts ertönen, während das Cortège eine Zusammenstellung der Musik-nummern des Parma-Bilds darstellt. Kurzum: Anders etwa als bei den Wesendonck-Liedern – Wagners “Studie” für Tristan und Isolde – stand die Musiksprache des Doktor Faust bereits unverrückbar fest, als Busoni im Dezember 1918 und Januar 1919 die Sarabande und Cortège komponierte. Später beschrieb er das Verhältnis der beiden Stücke zum Doktor Faust wohl genauer als “mitten im Gestalten des Gesamtwerks, getrennt und doch von diesem abhängig entstanden” und bezeichnete wohl treffsicherer die Sonatina seconda (1912) und die Nocturne symphonique op. 43 (1912/13) als Vorstudien zu seinem musiktheatralischen Hauptwerk. In der Tat fand Busoni zunächst in diesen beiden früheren Werken den Weg zum zurückhaltenden, eindringlichen, leicht distanzierten Idiom, das seinen Spätstil kennzeichnet.

Wohl wegen seines italienischen Geburtsorts und seiner italienischen Abstammung spürte Busoni eine lebenslange Affinität zur italienischen Renaissance im allgemeinen und insbesondere zu seinem toskanischen Landsmann Leonardo da Vinci. Also überrascht es nicht, daß er – wie auch sein Renaissance-Protagonist Faust – einige hermetische Mysterien in seine Partituren einfließen ließ. Die Druckausgabe trägt ein nicht weiter erklärtes Geheim-symbol als eine Art Bilderrätsel, das zur Interpretation herausfordert und zugleich jegliche Lösung durchkreuzt:

 

Die Bedeutung dieses Geheimzeichens hat Busoni nie geklärt. Da es jedoch eine starke Ähnlichkeit mit altertümlicher Notenschrift aufweist, wird ihm oft die Funktion eines “Sphinxes” im Sinne von Schumanns Carnaval op. 9 angedichtet, obwohl alle bisherigen Versuche einer Enträtselung ins Leere führten. Auf dem ersten Blick sind jedoch etliche Gruppierungen von jeweils drei Zeichen (drei Notenköpfe im untersten Linienzwischenraum, weitere drei im obersten Linienzwischenraum, drei Notenkopfpaare usw.) erkennbar, die auf eine tiefere zahlenmystische Bedeutung der Zahl “3” hinweisen. In der Tat hat Busoni die Zahl “3” in seine späteren Partituren oft heimlich eingearbeitet. Im Falle der Sarabande und Cortège wird dies nicht nur in den absteigenden Terzschritten des Passacagliathemas am Anfang der Sarabande, sondern vor allem auch in der ungewöhnlichen Besetzung des Orchesters deutlich: jeweils drei Flöten und Posaunen, drei Akkordinstrumente (zwei Harfen, eine Celesta), drei Doppelrohrblatt-Instrumente (zwei Oboen, Englisch-Horn) sowie bisweilen drei Solostreicher. Diese Orchesterbesetzung verleiht dem Werk ein ganz besonderes Kolorit, in dem etwa die tief liegenden Akkorde der Posaunen mit den hoch liegenden Dreiklän-gen der Flöte kontrastieren. Darüber hinaus erinnert die Behandlung der Posaunen – ob in Dreiklängen oder Unisono – an die frühe Trauermusikgattung der Equali, von der die Friedhofszene aus Mozarts Don Giovanni das heute wohl bekannteste Beispiel darstellt, jedoch auch in Beethovens Drei Equali für vier Posaunen (WoO 30) aus dem Jahr 1812 die Jahrhunderte überlebt.

Die Sarabande und Cortège wurden am 31. März 1919 vom Zürcher Tonhallen-Orchester unter der Leitung des Widmungsträgers Volkmar Andreae uraufgeführt. Mit seiner subtilen, unaufdringlichen Modernität hat das Werk das Publikum eher irritiert als begeistert; bei einer Berliner Aufführung im Jahre 1923 wurde das Werk sogar ausgezischt – wahrscheinlich von enttäuschten Avantgardisten, die vom Verfasser des Entwurfs einer neuen Ästhetic der Tonkunst wohl etwas vordergründig Radikaleres erwartet hatten. Zu den verständnisvolleren Zuhörern einer Londoner Aufführung im Jahre 1919 gehörte hingegen kein geringerer als der Kritiker und Dramatiker George Bernard Shaw: “Das Werk verhält sich zwar nicht ganz so sarabande-artig wie etwa ‘lascia ch’io pianga’, wirkt jedoch auffallend als Beispiel dafür, was man früher als Melodrama zu bezeichnen pflegte. Denn es vermittelt – trotz seiner vielen Schönheiten und seiner komplexen Satzweise – eher den Eindruck eines hochinteressanten Stücks, dem der Vokalpart entfernt wurde: Das Werk braucht Drama und Theaterluft, um vollkommen abgerundet zu wirken.”

Zwar könnten Shaws Bemerkungen mit dem uralten Einwand gegen die moderne Musik – “wo bleibt die Melodie?” – verwechselt werden, jedoch hatte der Kritiker durchaus recht, werden die Sarabande und Cortège doch tatsächlich aus Elementen zusammengestellt, die oft anderweitig in der Oper vorkommen und ein Gutteil ihrer tieferen Bedeutung aus dem dramaturgischen Zusammenhang gewinnen. Die seltsam wirkende chromatische Figur am Ende des langen Trillers, mit dem sich die Sarabande abschließt, wird beispielsweise in der Oper mit Mephistopheles in Verbindung gebracht, dem sozusagen dabei das letzte Wort gestattet wird. Ferner: Da Busoni die Idee einer Reprise zuwider war (“encore la même musique”), fließen die Stücke – und vor allem das Cortège – wie Verwandlungs-musiken scheinbar nahtlos in eine vermeintliche neue Szene hinein, die jedoch nie zum Gehör kommt. Dennoch war es genau diese Eigenschaft des Geheimnisvoll-Offenen, die Busoni anstrebte. Und was die Musiksprache der Sarabande und Cortège angeht, hat es wohl keiner besser auf den Punkt gebracht als der Busoni-Freund und frühe Biograph Hans Heinz Stuckenschmidt: “Vieles, was später den Stil des jungen und auch des mittleren Hindemith formte, manches, was viel später bei Benjamin Britten und Luigi Dallapiccola wiederkehrt, ist hier begründet.”

Bradford Robinson, 2009

Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen.

Ferruccio Busoni
(b. Empoli, 1 April 1866 – d. Berlin, 27 July 1924)

Sarabande and Cortège:
Two Studies for Doktor Faust
for orchestra, op. 51 (1918-19)

Preface
“Ferruccio Busoni and his Muse are pleased to announce the engagement of their daughter Sarabande with Monsieur Cortège. Zurich – January 1919 – Empoli.” Thus Busoni wryly announced the completion of his op. 51 to the Swiss conductor Volkmar Andreae. In fact, despite the flippant wording of the announcement, there was nothing light-hearted about the new work: the two pieces were meant to present a foretaste of his unfinished musico-philosophical testament, the opera Doktor Faust, and Busoni himself considered the Sarabande and Cortège the most successful piece he ever wrote.

Though published as two “studies” in 1922 (by his faithful Leipzig publisher Breitkopf & Härtel), the term is in fact somewhat of a misnomer. Busoni had been working on Doktor Faust since June 1917, and by the time he turned to these two numbers in December 1918 he had already completed half of the opera in full score. What is more, the location of the two pieces had been long defined: the Sarabande was to function as a symphonic intermezzo preceding Faust’s death, and the Cortège was a collection of numbers associated with the Parma scene. In short, unlike Wagner’s “study” for Tristan in the Wesendonck Lieder, the musical language of Doktor Faust was already solidly established by the time Busoni composed these two items in January 1919. Later he more closely defined their relation to Doktor Faust as “composed in the midst of the larger work, separate from and yet dependent upon it,” and referred, perhaps with greater accuracy, to the Sonatina seconda (1912) and the Nocturne symphonique, op. 43 (1912-13), as preliminary studies for his operatic magnum opus. Indeed, it was in these two earlier works that Busoni first achieved the restrained, haunting, cerebrally detached idiom that was to mark his late style.

Busoni, by virtue of his birth and ancestry, felt a lifelong attraction to the Italian Renaissance in general and to his fellow Tuscan Leonardo da Vinci in particular, and it comes as no surprise to discover that, much like his Renaissance hero Faust, he worked hermetic mysteries into the score. The printed edition is headed by an unexplained symbol that functions as a sort of rebus, at once inviting and thwarting attempts at interpretation:

 

Busoni never unveiled the significance of this symbol. Because it bears such strong resemblances to musical notation, it has been thought to function somewhat in the matter of the “sphinxes” in Schumann’s Carnaval, op. 9, but unlike them it resists all attempts at musical interpretation. A superficial glance reveals, however, several combinations of three signs (three notes in the bottom space, another three in the top, three groups of two notes each etc.), thereby hinting at a mystic numerological significance for the number “3.” In fact, Busoni is often known to have clandestinely worked the number “3” into his later music. In Sarabande and Cortège this is apparent in the descending thirds in the opening bass passacaglia of the Sarabande, and even more so in the layout of the orchestra: three flutes offset by three trombones, three chordal instruments (two harps and celesta), three double-reed instruments (two oboes and cor anglais), and, at times, three solo strings. This choice of instruments lends the music a distinctive flavour, with low-register chords in the trombones contrasting with high-register chords in the flutes. Indeed, the handling of the trombones, either in unison or in triads, has been compared to the early trombone equale used in funeral music, a genre perhaps most familiar today from the Graveyard Scene in Mozart’s Don Giovanni, but also handed down in Beethoven’s Three Equali for Four Trombones of 1812 (WoO 30).

Sarabande and Cortège was given its première performance in Zurich on 31 March 1919, with its dedicatee Volkmar Andreae conducting the Tonhalle Orchestra. Its undemonstrative modernity left audiences more puzzled than elated; at a Berlin performance of 1923 the piece was actually hissed, most likely by disappointed avant-gardists who expected the author of Outline of New Aesthetic of Music to produce something more overtly radical. One appreciative listener at a London performance in 1919 was, however, the critic and dramatist George Bernard Shaw: “Its not quite so sarabandy a sarabande as ‘lascia ch’io pianga’, but its striking as an example of what used to be called melodrama. Despite all its beauties and the intricate workings, it gave the impression of a very interesting piece from which the vocal line has been removed: it needs drama and the atmosphere of the stage to round it off.”

Although this might be mistaken for the age-old complaint levelled against modern music – “where’s the melody?” – Shaw was right in that the work is assembled from elements that recur frequently in the opera and acquire significance from their dramatic context. The strange chromatic figure that ends the long final trill of the Sarabande is associated, for example, with Mephistopheles, who is thereby, one might say, allowed to have the final word. Similarly, since Busoni disliked the idea of recapitulation (“encore la même musique”), the pieces, especially the Cortège, seem to flow like entr’acte music into a new scene which is, however, never allowed to materialize. Yet it was precisely this mysterious, open-ended quality that Busoni sought to achieve. As for the musical language, perhaps no one has put it better than Busoni’s friend and early biographer, Hans Heinz Stuckenschmidt: “Much of that which shaped the style of the young and even the middle Hindemith, and which recur much later in Benjamin Britten and Luigi Dallapiccola, is rooted in this music.”

Bradford Robinson, 2009

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden.