Martin Loeffler
(b. Mühlhausen, Alsace, 30 January 1861
– d. Medfield, Mass., 19 May 1935)
Canticum fratris solis
(Canticle of the Sun)

 

Vorwort
Es mag wohl an dem Reichtum an künstlerischer Qualität und religiöser Tiefe liegen, die den Sonnengesang des Heiligen Franz von Assisi auszeichnen, dass so unterschiedliche Komponisten sich von der Dichtung zu eigenen Werken inspirieren liessen. Viele wurden von den gleichen christlichen Prinzipien beflügelt, die den Kern des Lebens, Charakters und Glaubens des Franziskus ausmachten; andere fühlen sich von der sprachlichen Schönheit des Textes angezogen, von seiner historischen Bedeutung als frühes Beispiele für mundartliche Dichtkunst im romanischen Idiom, von seiner poetischen Bildgewalt oder einfach vom Gefühl des harmonischen Einklangs mit der Natur.
Demnach hat 1994 die italienische Literaturwissen-schaftlerin Paola Moscarelli1 rund 138 Vertonungen der dichterischen Vorlage aufgeführt, zu denen mittlerweile noch viele weitere hinzugekommen sind. Darüber hinaus hat das Canticum zahlreiche weitere Kunstwerke von Gemäl-den über Gedichte bis zu Musicals und Kinofilmen angeregt2. Zu den Komponisten, die sich mit dem Canticum beschäftigten, gehören u.a. namhafte Meister wie Liszt, Orff, Petrassi, Poulenc, Rodrigo, Sibelius, Walton sowie neuerdings auch Olivier Messiaen (als Teil seiner Oper St François d’Assise), Alfred Schnittke und Sofia Gubaidulina.
Viele dieser Vertonungen haben gemeinsame Elemente, jedoch inspiriert die Vorlage oft Lösungen, wie sie verschiedener nicht sein können.
Diejenigen Komponisten, die sich von der Liebe Franziskus’ zur Armut und Schlichtheit beeindrucken lassen, mögen eine eher zurückhaltende Instrumentation einsetzen oder eine formale Anlage wählen, die sich nach der regelmäßigen Strophenform des Textes richtet. Andere, die sich etwa von der lyrischen Beschreibung der Natur-elemente faszinieren lassen, könnten hingegen eine farbenreiche Orchesterbesetzung verwenden und mehrsätzige Werke schreiben, in denen jede Tierart fast unabhängig von den anderen musikalisch dargestellt wird.
Andererseits verwenden diejenigen Komponisten, die den archaischen Charme des mittelalterlichen italienischen Schreibstils des Franziskus spüren, oft ein musikalisches Idiom, das an die gregorianischen Modi oder an alte Kirchenlieder erinnert, während andere, die die Modernität seines Denkens unterstreichen wollen, sich der Musik-sprache der Avantgarde bedienen.
Einige Komponisten fühlen sich vom abgeklärten Gefühl der tiefen Eintracht zwischen Mensch und Natur (ein Gefühl, das auch Nichtchristen teilen können) angezogen, während andere die tiefschürfende Meditation des Heiligen Franz über den Tod und ihren Stellenwert innerhalb des christlichen Begriffs der Erlösung und der Auf-erstehung zum Mittelpunkt der Komposition erheben.
Als Ganzes betrachtet erstrecken sich die Vertonungen des Canticum also über eine große Vielfalt an Formen und Stilrichtungen, darunter Fassungen für A-cappella-Chor, Opernfragmente und Lieder sowie mehrsätzige Orchester-werke mit oder ohne Sologesang bzw. -instrumentalstimmen (z.B. der Mstislav Rostropowitsch gewidmete Sonnengesang von Sofia Gubaidulina mit seinem anspruchsvollen Solopart fürs Violoncello).
Das Canticum fratris solis von Charles Martin Loeffler gehört – wie auch N. Broder3 konstatiert – zu den Meisterwerken des Komponisten, wohl wegen seiner damaligen musikalischen und kompositionstechnischen Reife und seines tiefen Glaubenseifers, den viele seiner Werke kennzeichnet. In der Tat spiegeln sich im Canticum viele Merkmale der musikalischen Persönlichkeit Loefflers wider. Obwohl seine Ausbildung als Geiger den grossen Einfluß Joseph Joachims und daher auch eine enge Zugehörigkeit zur deutschen Geigenschule verrät, erhielt Loeffler die wichtigsten Impulse für seinen Personalstil eher in seiner Pariser Studienzeit, wo er als Kommilitone von Debussy, Pierné und Mel Bonis in der Klasse von Ernest Guiraud lernte. Darüber hinaus verlieh ihm seine jahrelange berufliche Erfahrung als Konzertmeister und Geiger sowohl in Europa (u.a. beim Pariser Orchestre Pasdeloup) als auch in den USA (u.a. mit dem Boston Symphony Orchestra) ein ausgeprägtes Gespür für Orchesterfarben und - klänge sowie für ihre Zusammen-stellung und ihr Gleichgewicht.
Im Canticum wird so ein hoch differenziertes Klanger-gebnis erzielt, ohne daß Loeffler die „Nüchternheit“ Franziskus’ preisgibt. Während sich bei vielen anderen Komponisten die Möglichkeiten der Klangpracht und des strengen Satzes gegenseitig ausschließen, zeigt sich bei Loeffler ein tiefes Verständnis sowie eine persönliche Aneignung der Sichtweise Franziskus’, in der zwar Schön-heit und Prachtentfaltung beim Lob Gottes nicht zu kurz kommen, die Armut jedoch als Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Religiosität durchscheint.
Bei Loeffler findet sich auch eine sehr eigenständige Synthese zwischen den (oft widersprüchlichen) Forde-rungen eines altertümlich wirkenden, hieratischen Schreib-stils und einer modernen und fesselnden Satzweise. Der Eindruck der zeitlichen Entfernung zwischen dem Heiligen Franz und dem Zuhörer sowie die musikalische Hervor-rufung einer tiefen Religiosität und Askese werden durch ausgedehnte, sich wiederholende Zitate aus gregorianischen Chorgesängen erzielt. Ähnliches in sogar noch stärkerem Maße hatte Loeffler in Werken wie Musik für vier Streichinstrumente oder Divertimento bereits vollbracht. Ebenfalls erwähnenswert sind seine präzisen und peniblen kompositorischen Arbeitsmethoden, bei denen er nichtendenwollende Retuschen bei scheinbar abgeschlossenen Werken vornahm, und die als musikalisches Gegen-stück zu der eher als Handwerk konzipierten Arbeitsweise mittelalterlicher Künstler wie etwa Buchmaler oder Bildhauer der gotischen Kirchenbauten erscheint. Es sei auch festzuhalten, daß Loeffler ein besonderes Interesse für die Musik und Klangvorstellungen der Vergangenheit hegte: Als einer der ersten entdeckte er den wunderschönen Klang der Viola d’amore wieder und setzte sie in modernen Musikwerken ein. Zugleich schildert Franziskus eine blühende und prächtige Nature, die den Glanz des Schöpfers widerspiegelt. Diese anziehende Qualität, die dem Text einen längst nicht reumutigen Habitus verleiht, wird gleichermaßen vom ausgiebigen Einsatz ungewöhnlicher Klangkombinationen und ausdrucksvoller, stark charakteristischer Klangfarben (z.B. die warme Aus-drucksnoten der Blasinstrumente, die entrückten, wenn auch zuweilen sinnlichen Klangwirkungen der Harfen und Celesta sowie die meisterhafte Ausnutzung der verschiedenen Spieltechniken bei den Streichern) deutlich hervorgehoben. Das spätere Interesse Loefflers für die Jazz- und Blaskapellenmusik erscheint daher wenig überraschend und sehr begreiflich: Es deckt sich vollkommen mit unserem Bild eines aufgeschlossenen Komponisten, der sich für besondere Tongebilden, Klangfarben und musikalische Stilrichtungen interessiert.
Der Solopart wird meistens syllabisch geführt und mit einer Melodik versehen, in der wiederum die Suche Loefflers nach einem Gleichgewicht zwischen Gegensätzlichkeiten zum Ausdruck kommt. In der Tat werden keine Zuge-ständnisse an reines Virtuosentum oder oberflächlichem “Egoismus” gemacht, ohne jedoch auf eine warme, “menschliche” Qualität zu verzichten.
Zum Abschluß seien auch die Besonderheiten der von Loefller vertonten Textvorlage erwähnt. Als erstes fällt die ungewöhnliche Reihenfolge der Strophen auf, bei der allerdings das ursprüngliche Konzept Franziskus’ wesentlich geändert wird: In der Loefflerschen Vertonung des Canticum wird der Herr zunächst für die vier Elemente Erde – Wasser – Wind – Feuer (in aufsteigender Reihenfolge von schwer bis leicht, wie von den Philosophen der Antike festgelegt) gepriesen, gefolgt von den beiden „theologischen“ Strophen (Tod und Barmherzigkeit), den „astronomischen“ Geschöpfen (Mond, Sonne und Sterne) und der abschließenden Reprise. Darüber hinaus stellt der Text eine von Gino Perera besorgte, „modernisierte“ Fassung des italienischen Originals dar, bei der zweifelhafte grammatikalische und syntaktische Lösungen vorkommen und manchmal der Sinn des alten Textes leicht entstellt wird. Beispielsweise werden die Worte “tue so’ le laude” mit der ursprünglichen Bedeutung “du bist lobenswert” in die theologisch widersinnigen Worte “tu sei la laude” („du bist das Lob“) umgeändert.
Und dennoch: Bei Loefflers Werk handelt es sich um eine geschmeidige und tiefsinnige Komposition, in der sich ästhetische Schönheit und geistliche Wertvorstellungen vermengen, um ein zugleich äußerst befriedigendes und tief religiöses Kunstwerk hervorzubringen.
Übersetzung: Bradford Robinson

1 Vgl. Paola MOSCARELLI, Il cantico delle creature nella musica. Editrice Franciscanum, Rom 1994.
2 Vgl. Ute JUNG-KAISER (Hrsg.), Laudato si, mi Signore, per sora nostra matre terra. Zur Ästhetik und Spiritualität des “Sonnengesangs” in Musik, Kunst, Religion, Naturwissenschaft, Literatur, Film und Fotografie. Peter Lang, Bern 2002.
3 Vgl. Nathan BRODER, “Loeffler, Charles Martin”, Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 1. Ausg.

Orchestermaterialien sind über die Fleisher Collection of the Free Library of Philadelphia, Philadelphia zu beziehen. Nach-druck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Martin Loeffler
(b. Mühlhausen, Alsace, 30 January 1861
– d. Medfield, Mass., 19 May 1935)
Canticum fratris solis
(Canticle of the Sun)
First performance: Washington, 1928


Preface


The reasons for a composer’s interest in St Francis’s Canticle of the Sun may vary substantially from one artist to another, and are determined by the manifold qualities of the verbal text. Most authors are inspired by the same Christian principles which were at the core of the saint’s life, personality and spirituality; others, however, are just attracted by its literary beauty, its historical importance (one of the very first examples of vernacular poetry in Romance idioms), its poetic images and the feeling of a harmonic and peaceful relationship with nature.
As a consequence, in 1994 the Italian scholar Paola Moscarelli1 listed some 138 musical settings of St Francis’s poem, and many more have followed since. St Francis’s Canticle also inspired numerous other artworks, from visual art to poetry, from musicals to films.2 Among the composers who tried their hand at the Canticle we find such names as Liszt, Orff, Petrassi, Poulenc, Rodrigo, Sibelius, Walton and, in more recent times, Olivier Mes-siaen (as a part of his opera St François d’Assise), Alfred Schnittke and Sofia Gubaidulina.
Many of these versions have some elements in common; however, the particular aspect of St Francis’s text which most deeply inspires each composer provokes musical res-ponses which may differ totally from each other.
Authors impressed by St Francis’s love of poverty and simplicity may use a sober instrumentation or choose a musical form based on the text’s regular stanzas; others, perhaps fascinated by the lyrical description of the natur-al elements, may use a very rich orchestra and compose works in many movements, depicting each creature almost independently of all the others.
Similarly, those who feel the archaic charm of Francis’s medieval Italian often use a musical language reminiscent of Gregorian modes or ancient chorales; others wish to underline the modernity of Francis’s thought by using an avant-garde idiom.
Still others are attracted by the serene feeling of deep harmony and unity between human beings and nature (a sentiment which can also be shared by many non-Christians); whereas others put at the center of their composition St Francis’s challenging meditation on Death and its significance within the Christian concepts of redemption and resurrection.
The whole corpus of the Canticle’s musical settings therefore includes a multitude of forms and styles, including a cappella choral versions, operatic fragments, songs and multi-movement works for symphonic orchestra, sometimes with vocal and/or instrumental soloists (e.g. Gubaidulina’s Sonnengesang, dedicated to Mstislav Rostro-povich and featuring a demanding part for solo cello).
Charles Martin Loeffler’s Canticum fratris solis is one of its composer’s masterworks, as acknowledged by N. Broder,3 due perhaps both to the musical and compositional maturity achieved by the author at that time, and to the deep religious fascination characterizing many of his works. In fact, the Canticum faithfully mirrors many of the most interesting features of Loeffler’s musical personality. Although his education as a violinist was deeply influenced by Joachim, being therefore rooted in the German violin school, the most significant contribution to his compositional style came from his studies in Paris, where he was a classmate of Debussy, Pierné and Mel Bonis under Ernest Guiraud. Moreover, Loeffler’s long professional activity as a concertmaster and violinist, both in Europe (including the Orchestre Pasdeloup in Paris) and in the USA (in the Boston Symphony Orchestra), gave him a refined sensitivity to orchestral timbres and sounds as well as their combinations and balance.
Loeffler’s Canticum, therefore, achieves highly sophisticated timbral results without renouncing a “Franciscan” sobriety. While many other composers viewed the alternative possibilities of timbral opulence and essentiality as mutually exclusive, Loeffler demonstrated a deep understanding and personal adaptation of St Francis’s viewpoint, which does not economize on beauty and splendour as far as the Lord’s praise is concerned, but sees poverty as a central value for human spirituality.
Loeffler also proposes an original and interesting synthesis between the (often contradictory) requirements of an antiquated and hieratic style on the one hand and a modern and captivating style on the other. The sense of distance separating us from St Francis, and the evocation of a deeply religious and ascetic music, is obtained through the extensive and recurring use of quotations from Gregorian chant. Loeffler had done the same, to an even greater extent, in such works as Music for Four Stringed Instruments and Divertimento; we may also add that his precise and fastidious compositional habits, with almost never-ending revisions and corrections on apparently finish-ed works, constitute a valid musical counterpart to the workmanlike attitude of Medieval artists (writers of illuminated manuscripts, architects and sculptors of Gothic cathedrals, etc.). We may also mention that Loeffler was particularly interested in early music and timbres: he was one of the first to rediscover the beautiful sound of viola d’amore and to use it in modern compositions. At the same time, St Francis depicts a flowering and magnificent nature, mirroring its Creator’s glory: this attractive quality, giving to the verbal text a far-from-penitential aura, also emerges from Loeffler’s extensive use of uncommon timbral combinations, expressive and strongly characterized sounds (e.g. the warmth and emotional qualities of the winds, the ethereal – although sometimes sensual – effects projected by harps and celesta, and the masterly exploitation of string technique). Loeffler’s later interest in jazz and band music thus becomes less striking and inexplicable: it fits in perfectly with an open-minded composer’s interest in special sounds, timbres and styles.
The solo vocal part is primarily syllabic, with a melodic style which in turn mirrors the composer’s quest for a balance of opposites. In fact, it concedes nothing to purely virtuosic and exterior ‘egoism’, but neither does it renounce a warm and passionate ‘human’ quality.
As a final note, we should mention the pecularities of the verbal text Loeffler used. The first striking element is the unusual order of the stanzas, which substantially alter St Francis’s concept: in Loeffler’s Canticum, the Lord is praised first for the four elements (Earth, Water, Wind and Fire, proceeding from ‘heavy’ to ‘light’ in accordance with ancient philosophy), followed by the two “theological” stanzas (Death and Mercy), the ‘astronomical’ creatures (Moon and Stars, Sun) and the final recapitulation. Moreover, the text is a ‘modernized’ Italian version of St Francis’s poem, made by Gino Perera, with dubious grammatical and syntactical solutions and – sometimes – a slightly modified sense of the ancient text (e.g. ‘tue so’ le laude’, originally meaning ‘you are worth praising’, becomes ‘tu sei la laude’, ‘you are the praise’, which is rather nonsensical from a theological viewpoint).
Loeffler’s work is, however, an elegant and profound composition in which aesthetic beauty and spiritual values merge together, giving birth to an extremely enjoyable and, at the same time, deeply religious work of art.
Chiara Bertoglio, Easter Monday 20

1 See Paola MOSCARELLI: Il cantico delle creature nella musica (Rome: Editrice Franciscanum, 1994).
2 See Ute JUNG-KAISER, ed.: Laudato si, mi Signore, per sora nostra matre terra: Zur Ästhetik und Spiritualität des ‘Sonnengesangs’ in Musik, Kunst, Religion, Naturwissen-schaft, Literatur, Film und Fotografie (Berne: Peter Lang, 2002).
3 See Nathan BRODER: ‘Loeffler, Charles Martin’, MGG, 1st edn.

Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München. For performance material please contact the Fleisher Collection of the Free Library of Philadelphia, Philadelphia.
Charles Martin Loeffler
(geb. Mühlhausen, Elsaß, 30. Januar 1861
– gest. Medfield, Mass./USA, 19. Mai 1935)
Canticum fratris solis
(Sonnengesang)
Uraufführung: Washington 1928