Franz Liszt
(geb. Raiding/Ungarn, 22. Oktober 1811 — gest. Bayreuth, 31. Juli 1886)

Fantasie über ungarische Volksmelodien

Die Volkslieder, die Franz Liszt während seiner Kindheit in seiner Heimat Raiding (Ungarn) gehört hatte, blieben ihm zeitlebens gewärtig. Sie lieferten auch das melodische Material für die sage und schreibe 21 ungarischen Melodien und Rhapsodien (Searle-Werkverzeichnis 242), die Liszt während einer kurzen Rückkehr nach Pest im Winter 1839/40 komponierte. Sie erschienen bis 1847 in zehn Heften unter den Titeln Magyar dallok (Ungarische Nationalmelodien, Heft I bis IV) und Magyar Rhapsodiak (Ungarische Rhapsodien, Heft V bis X). Liszt erkundete weiterhin die ungarische Volksmusik, und schließlich schrieb er 1852 an Louis Köhler, er wolle »die Ergebnisse dieser nationalen Studien in einem hübsch umfangreichen Band ungarischer Rhapsodien veröffentlichen«. Der Band, von dem Liszt hier sprach, kam 1853 heraus. Er enthielt nunmehr 19 Ungarische Rhapsodien (Searle 243), darunter sechs ganz neue Kompositionen (Nr. 1, 2, 9, 16–18), ansonsten Umarbeitungen aus Stücken der früheren zehn Bände (Nr. 3–8, 10–15), darunter 243/14 als Umarbeitung von 242/21 aus der Veröffentlichung von 1847. Dies war der erste von zwei Versuchen Liszt, einige kompositorische Probleme der Urfassung zu bewältigen, in diesem Fall insbesondere deren offene Harmonik, mit einem Schluß in F-Dur, der eine Rückkehr in die Anfangstonart e-moll konterkarierte. Bei der Umarbeitung nutzte Liszt die Gelegenheit, dies zu ändern und gestattete dem Stück, am Ende in die Anfangstonart zurückzukehren.

Wohl zur gleichen Zeit, als Liszt mit der Rhapsodie Nr. 14 experimentierte, begann er eine dritte Fassung der ursprünglichen Nr. 21, die später als Fantasie über Ungarische Volksmelodien (Searle 123) erschien und unter dem Namen Ungarische Fantasie bekannt wurde. Ungeachtet ihrer frühzeitigen Uraufführung im Jahr 1853 erschien die Ungarische Fantasie jedoch nicht in den veröffentlichten Rhapsodien des gleichen Jahres. Hans von Bülow, dem das Werk gewidmet ist und der oft als Kopist für Liszt arbeitete, dirigierte dessen Uraufführung. Die Fantasie verwirft wiederum den verbesserten Harmonik-Plan von Nr. 14 und kehrt zur offenen Harmonik der Urfassung zurück – beginnend in e-moll, durch E-Dur, cis-moll und a-moll hindurch bis hin zu F-Dur. Die Bearbeitung des Stückes für Klavier und Orchester gestattete Liszt, die Virtuosität des Klavierparts zu erhalten und zugleich den Tonumfang und die Farben des großen Orchesters zu nutzen.

Die vier Hauptthemen der Fantasie entsprechen Liszts Tradition, die Tiefe und emotionale Breite ungarischer Volksmusik einzufangen. Wie viele der Rhapsodien beginnt auch die Fantasie mit den langsameren, dunkleren Melodien, wird mit jedem neuen Thema lebendiger und katapultiert schließlich Klavier und Orchester in den Schlußakkord. Sie beginnt mit einer leicht instrumentierten, dunklen Einleitung in e-moll. Die statischen, punktierten Rhythmen im Horn entsprechen der Tempo-Angabe von Nr. 21 – lento, tempo di marcia funebre. Das Klavier unterbricht das Orchester immer wieder und treibt es mit Nachdruck in Richtung Dur. Eine brillante Kadenz führt in das erste Thema, Allegro eroica, in E-Dur. Der königlich-heroische Charakter wird jedoch durchbrochen von der Trompete, die über schwungvollen Klavier-Figurationen das Thema mehrmals wiederholt, bevor sie es dem Klavier und später Holzbläsern überlässt. Wie unfähig, sich selbst zu zwingen, übernimmt das Orchester das Thema nochmals für eine abschließende, majestätische Darstellung. Die Stränge des abschließenden Akkords dürfen gnädigerweise in Pausen der Stille verklingen, bevor das Klavier das zweite Thema präsentiert, quasi Fantasia. Es ist die erste von nur zwei Entlehnungen aus der Originalquelle der Fantasie, der Rhapsodie Searle 242/21. Ein Publikum, das mit ihr oder der Umarbeitung von 1853 als Rhapsodie Searle 243/14 vertraut ist, hätte nun einen Capriccio-Teil erwartet. Die Melodik dieses ursprünglichen Capriccios war ge-radezu eine Burleske des heroischen ersten Themas, verschieden im Charakter, doch unfähig, mit dem vorausgehenden Material zu kontrastieren und die weitere Durchführung des Stückes voranzubringen. Die Melodie, die Liszt in der Fantasie stattdessen wählte, nämlich das erste Thema der Rhapsodie Searle 242/10 von 1847, bietet nun einen beträchtlichen Kontrast zu dem heroischen ersten Thema und greift zugleich den Ton der Einleitung auf. Dieses ernste Thema beginnt in cis-moll, wird aber etwas humorvoller, als die Streicher hinzutreten, dann nach E-Dur ausweichend. Ein virtuoses Klavier-Zwischenspiel hin nach a-moll leitet nahtlos in das spielfreudige dritte Thema über, nun wieder auf die Originalvorlage zurückgreifend. Es steht den dunkleren Klängen von Einleitung und zweitem Thema fern und ist eine Zigeunerweise (à la Zingarese). Rasch folgt ein viertes Thema, markiert durch den Einsatz der Holzbläser und zupfenden Streicher. Während das Klavier atemlos durch virtuose Läufe und Figurationen hetzt, passiert das Thema von der Flöte in die Oboe und dann in die Klarinette. Es wird verkürzt und klingt fast nach Klezmer-Musik, als es ein kurzes Fugato erreicht, geprägt von Holzbläsern und einer ähnlich klingenden Viola. Die Aufregung steigt, wenn alle anderen Instrumente nach und nach einfallen, hinführend schließlich zu einer Wiederkehr des heroischen Hauptthemas im massiven Unisono, dem letzten Rückgriff auf die Original-Vorlage. Diese Reprise des Hauptthemas anstelle jenes neuen Themas in der Rhapsodie Searle 242/21 verleiht dem Werk eine Einheitlichkeit, die der Originalfassung für Klavier allein fehlt. Eine lange Kadenz führt dann in das Schlussthema, vivace assai, eingeführt vom Klavier unterstützt von zupfenden Streichern. Noch deutlicher ist das Thema beim Einsatz des Englisch-Horns zu hören. Ein letztes Mal kehrt vor der Coda im vollen Orchester das erste Thema wieder, das Stück trotzig in F-Dur zuende bringend.

Übertragung ins Deutsche: Benjamin-Gunnar Cohrs, © 2008

(Anmerkung des Übersetzers: Zum besseren Verständnis der verwirrenden Quellenlage wurden bei den Werk-Angaben im deutschen Text Ergänzungen vorgenommen, bezogen auf das maßgebliche Liszt-Werkverzeichnis von Humphrey Searle.)

Die Orchesterstimmen sind bei Peters erhältlich.

Franz Liszt
(b. Raiding, 22 October 1811 — d. Bayreuth, 31 July 1886)

Hungarian Fantasy
“Fantasie über ungarische Volksmelodien”

The folk melodies Franz Liszt heard in his childhood hometown of Raiding, Hungary, remained with him regardless of the passing of time or where his travels led him. These melodies provided the melodic material of the 21 Hungarian rhapsodies Liszt composed during a brief return to Pest in the winter of 1839–40. All 21 rhapsodies were published in 1847 under the title Magyar Rhapsodiak. Following their publication, Liszt continued his examination of Hungarian folk music, writing finally in 1852 to Louis Köhler of “publishing the result of [his] national studies in a pretty big volume of Hungarian Rhapsodies.” (Franz Liszt to Louis Köhler, in: Letters of Franz Liszt, collected and edited by La Mara, translated by Constance Bache, vol. 1, New York: Haskell House Publishers, 1968, p. 127.) The publication Liszt spoke of came about in 1853. While much of the material in this volume represented new compositions, Rhapsody N° 14 was a reworking of N° 21 from the 1847 publication. This was one of two efforts Liszt made to address some potential compositional problems in the earlier version. Rhapsody N° 14 specifically addresses the open harmonic plan of its model, whose F major conclusion fails to make the traditional return to the opening key of E minor. Liszt used the opportunity of N° 14 to alter the harmonic plan and allow the piece to make a harmonic return at its conclusion to the opening key.

At the same time Liszt was experimenting with Rhapsody N° 14, he was working on yet a third rendering of N° 21, the Fantasie über ungarische Volksmelodien, or Hungarian Fantasie by its more common name. Despite its earlier premier in 1853, the Hungarian Fantasie did not appear with the publication of the rhapsodies that same year. Hans von Bülow, to whom the work is dedicated and who often served as Liszt’s copyist, conducted the first performance of the Fantasie. Abandoning the harmonic plan of Rhapsody N° 14, the Fantasie retains the open harmonic plan of its earlier model: beginning in E minor, moving through E major, C-sharp minor, and A minor before concluding in F major. An orchestrated version of the piece allowed Liszt the freedom to retain a virtuosic piano line while exploring the wide range of tone and timber the full orchestra offered. The four themes that constitute the Fantasie follow Liszt’s rhapsodic tradition of capturing the depth and range of emotion characteristic of Hungarian folk music. As with many of his rhapsodies, the Fantasie begins with the slower, more somber settings, growing in vitality with each successive theme, catapulting the piano and orchestra to the final chord.

The piece begins with a lightly orchestrated, somber E minor introduction. The horn’s static dotted rhythms recall the tempo instruction of N° 21, lento, tempo di marcia funebre. Repeatedly interrupting the pensive orchestra, the piano insistently pushes the orchestra toward major mode. A brilliant cadenza leads into the first theme, Allegro eroica, in E major. The regally heroic character is punctuated by the trumpet’s repeated statement of the theme over the lilting figuration in the piano before passing it to the piano and then woodwinds. As if unable to constrain itself, the full orchestra takes up the theme for one final, majestic reiteration. The strains of the final chord are allowed to fade into rests of silence before the piano introduces the second theme, quasi Fantasia.

The second theme is the first of only two departures from the Fantasie‘s source, Hungarian Rhapsody N° 21. An audience familiar with Rhapsody N° 21 or the 1853 Rhapsody N° 14, would have expected a capriccio section here. The melodic material of the original capriccio seems almost a burlesque of the heroic first theme, different in character but not capable of making a notable contrast to the preceding melodic material nor of suggesting the continued development of the piece. The melody Liszt selected to take its place in the Fantasie, the first theme of Rhapsody N° 10 (1847), offers a marked contrast to the heroic first theme while at the same time recalling the more somber setting of the introduction. This pensive theme begins in C-sharp minor, adopting a somewhat more humorous tone only when the strings join the piano, shifting again to E major.

A virtuosic piano interlude turning to A minor makes a seamless transition to the third theme, returning to the work’s original model. This playful third theme bears no resemblance to the darker tones of the introduction and second theme. Played à la Zingarese (in gypsy style), the third theme quickly folds into the fourth, marked by the entrance of woodwinds and pizzicato strings. While the piano breathlessly tears through virtuosic runs and figuration, the theme passes from flute to oboe, then to the clarinet. It becomes truncated and, evoking the harmonies and tone quality of klezmer music, enters into a brief fugato passage featuring the woodwinds and equally reedy viola. Excitement rises as one by one the instruments of the orchestra join the frenzy, leading at last to a return of the first heroic theme in full orchestral unison. Apart from the second theme, the return of the first theme is the only other moment of departure from the original work. The re-incorporation of the first theme at this point, in place of the new theme that appears in Rhapsody N° 21, lends an added sense of unity to the piece absent from the original solo piano version.

A long cadenza brings about the final theme, vivace assai, which is introduced for the first time not by the solo piano, but rather by piano supported by string pizzicato. The theme is heard more clearly with the entrance of solo French horn. The first theme is announced one last time with the full orchestra before the coda, bringing the piece to its defiant conclusion in F major.

Lisa Hopper, 2008

Orchestral parts available from Edition Peters.