César Cui
(geb. Vilnius, 18. Januar 1835 - gest. St. Petersburg, 26. März 1918)

Suite Miniature Nr. 1
op. 20 (1882)

Vorwort
Zesar Antonowitsch Kjui (oder Cui, oder Queuille; 1835-1918) wurde in der litauischen Hauptstadt Wilna (Vilnius) als Sohn eines französischen Vaters und einer Litauerin geboren. Mit 15 Jahren zog er mit seiner Familie nach St. Petersburg, wo er 1851 an der dortigen Ingenieurschule immatrikulierte. Später setzte er seine Studien an der Peters-burger Militärischen Ingenieurakademie fort, wo er sie 1857 abschloß. Darauf folgte eine lange und glanzvolle Karriere als Militäringenieur, während der er 1879 zum Professor für Fortifikationswesen ernannt wurde. Schließlich stieg er zum General auf und genoß in Fachkreisen großes Ansehen für Veröffentlichungen wie sein Handbuch der Feldfortifikationen (3. Ausgabe 1880).

Bereits als Kind zeigte Kjui musikalische Begabung und erhielt von seiner Schwester Marjanna Klavierstunden. Bald wurde jedoch offensichtlich, daß er professionelleren Musikunterricht brauchte. Sein Vater entschied sich für einen Violinisten namens Dio, dessen Unterricht vorwiegend darin bestand, gemeinsam vierhändige Bearbeitungen beliebter Opern am Klavier zu spielen. Durch Dio lernte der 15jährige Kjui auch den polnischen Komponisten Stanislaw Moniuszko (1819-1879) kennen, der damals in Wilna lebte und der dem jungen Zesar sieben Monate lang Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt gab. 1856 lernte der angehende Komponist Mili Balakirew kennen, der sein musikalischer Mentor werden sollte. Bald darauf wurde er mit Alexander Borodin, Modest Mussorgsky und Nikolai Rimsky-Korsakow bekannt gemacht, mit denen er ab 1862 das berühmte “Mächtige Häuflein” bildete. Diese nationalistisch gesonnene Komponistengruppe wurde als “Neue Russische Schule” bekannt und betrachtete den Kritiker Wladimir Stassow als ästhetischen Mentor.

Kjui komponierte 14 Opern, von denen nur drei auf russischen Vorlagen beruhen: Kavkazskij plennik (Der Gefangene im Kaukasus, 1858/59), der Einakter Pir vo vremja kumy (Das Gelage während der Pest, 1900) und Kapitanskaja dotschka (Die Tochter des Kapitäns, 1907-09), alle drei nach Vorlagen von Puschkin. Seine weiteren Opern fußten vorwiegend auf Vorlagen aus der französischen Literatur: Andschelo nach Hugo (1871-75), Le Flibustier nach J. Richepin (1888/89), Sarazin nach Charles VII chez ses grands vassaux von A. Dumas dem Älteren (1896-98), Mademoiselle Fifi nach G. de Maupassant und O. Méténier (1902-03) sowie Mateo Falkone nach P. Mérimée (1907-07). Die zweite Oper Kjuis war Syn mandarina (Der Sohn des Mandarin, 1859) nach einem Libretto von Krylow, seine dritte William Ratcliff (1858) nach dem romantischen Theaterstück Heines. Trotz eines offensichtlichen Mangels an Orchestrations-kunst wurde William Ratcliff von seinen Komponistenkollegen mit Begeisterung aufgenommen und von Stassow sogar als “eine der wichtigsten Kompositionen unserer Zeit” bezeichnet.
Im späteren Leben komponierte Kjui auch vier Kinderopern: Sneezhnyj bogatyr (Der Schneeprinz, 1906), Krasnaja schapotschka (Rotkäppchen, 1911), Kot v sapogach (Der gestiefelte Kater, 1913) und Iwanuschka-duratschok (Hännschen-Dummkopf, 1913). Auch vervollständigte er die erste Aufführungsfassung von Mussorgskys Jahr-markt von Sorotschinzy, die im Oktober 1917 am Petrograder Theater des Musikdramas aufgeführt wurde.

Neben seiner Kompositionsarbeit arbeitete Kjui ab 1864 auch als Musikkritiker, der die Anschauungen seiner musikalischen Mitstreiter im Mächtigen Häuflein energisch vertrat und sich für den Realismus, die dramatische Wahrheit, die naturnahe Deklamation und die Verwendung russischer Vorlagen als Opernstoff einsetzte. Gegenüber der Musik von Tschaikowsky, Rakhmaninov und Rubinstein zeigte er eine tiefe Abneigung, vor allem da sie - seiner Ansicht nach - eine allzu große Abhängigkeit von westlichen Vorbildern an den Tag legten. Als die Erste Symphonie Rakhmaninovs 1897 ihre Uraufführung in Moskau erlebte, bezeichnete Kjui sie als “Programmsymphonie über die Sieben Plagen Ägyptens”. Dieses Werk stürzte den jungen Komponist in so tiefe Zweifel an den eigenen Kompositionen, daß er drei Jahre lang schöpferisch gelähmt war. Trotz seines Einsatzes für die ästhetische Haltung des Mächtigen Häufleins wurde Kjui selbst oft dafür kritisiert, daß er deren Idealen in den eigenen Werken nicht folgte. Tatsächlich ist eine Neigung zu kleineren Werken und Opern mit zu nichtrussischen Sujets kaum zu übersehen, aber durch seine französisch-litauische Abstammung leicht zu erklären.

Suite Miniature Nr. 1 op. 20 (1882)

Trotz seiner drei Streichquartette und 14 Opern zeichnete sich Kjui vor allem im Bereich der musikalischen Miniatur aus, und zwar instrumental wie vokal, kammermusikalisch wie orchestral. Selbst in seinen Opern neigte er zu Werken kleineren Umfangs: Bei nicht weniger als sechs der 14 Opernvertonungen handelt es sich um Einakter, und seine erste Oper bestand ursprünglich aus lediglich zwei Akten.

Um Miniaturen erfolgreich schreiben zu können, muß der Komponist die Fähigkeit besitzen, ein Stimmungsbild oder Gefühl einzufangen und knapp zum Ausdruck zu bringen. Zweifellos besaß Kjui die besondere Begabung, eine einzige Stimmung bzw. Gefühlsregung wie in einer Momentaufnahme darzustellen - eine Fähigkeit, die in vielen seiner Miniaturen beispielhaft zu finden ist. Oft hat er seine Instrumentalminiaturen für großes Orchester umgearbeitet, wie im Falle der vorliegenden Suite, die auf sechs kleinen Stücken aus seinen Zwölf Miniaturen für Klavier (1882) basiert. Hier handelt es sich um die Nr. 10, 4, 5, 6, 8 und 12.

Uraufgeführt wurde die Suite Miniature am 29. Oktober 1883 nach einer Darbietung der Dritten Symphonie Beethovens sowie des Zweiten Klavierkonzerts Rubinsteins im Rahmen eines Konzerts der Russischen Musikgesellschaft unter der Leitung von Leopold Auer. Später ertönte das neue Werk auch in Meiningen (Deutschland) sowie in Buffalo (New York) im März 1885.
Petite Marche
Zur Einführung der Suite bietet der Militäringenieur-Komponist Kjui ein kleines Stück, das beiden Berufe gleichermaßen huldigt. Diese zarte, feingliedrige musikalische Miniature erinnert an die Welt der Kinderspiele und an Bilder marschierender Zinn-soldaten. Der Marsch ist in drei Teilen einfach angelegt. Hier ragen die Holz- und Blech-instrumente hervor, um dem Satz einen durchsichtigen, hochpolierten Klang zu verleihen. Der erste bzw. dritte Teil des Stücks fängt mit einem rhythmischen Baustein an, der von den Klarinetten in A eingeführt wird:
Im Mittelteil wird die Tonart nach h-Moll versetzt und die rhythmische Figur des ersten Teils in eine geschmeidigere, von den Violinen getragene Version verwandelt:
Impromptu à la Schumann
Der Titel weist auch auf die Inspirationsquelle des Stücks hin. Die schwebende Melodik und die romantische Grundstimmung stellen eine musikalische Hommage an einen Komponisten dar, dessen Musik Kjui von Kindesbeinen an begleitete und zeitlebens von ihm bewundert wurde. Das Impromptu wird lediglich für Flöten, Klarinetten und Streicher instrumentiert, um eine zarte, durchsichtige Faktur zu erzielen. Die Melodik fußt auf einer rhythmischen Figur, die zunächst in den Violinen ertönt:
Die gleiche Figur erscheint zwar auch in den Flöten und Klarinetten, jedoch als Begleitung einer Geigenmelodie, um schließlich als leidenschaftliche abschließende Geste zurückzukehren.

Cantabile
Dieser weiche, ausdrucksstarke, lautere Satz fängt mit einer Geigenmelodie an, die von pulsierenden Schichten in den anderen Streichern begleitet wird. Hier besteht die melodische Sprache aus breitangelegten Kantilenen auf dem Hintergrund einer wiegenden rhythmischen Begleitung. Dem Titel nach hat dieses Stück seinen Ursprung im menschlichen Gesang, und tatsächlich weisen die Melodien des Cantabile große Ähnlichkeiten mit dem vokalen Schreibstil Kjuis auf.

Souvenir Douloureux
Die Anfangsmelodie wird von den Bratschen eingeführt und von pochenden Flöten und Oboen begleitet. Dieser ausdrucksvolle, leidenschaftliche Satz erinnert an den frühen Tschaikowsky - vor allem bezüglich der Instrumentation - und fließt dem nächsten Satz der Suite sanft entgegen.

Berceuse
Die Berceuse weist eine sehr durchsichtige Faktur und eine romantische Stimmung auf. Die zartgliedrig-elegante Orchestrierung besticht mit zwei hinzugezogenen Harfenstimmen, die durch das ganze Stück hindurch oberhalb der Geigenmelodien emporschweben. Dieser kurze Satz schließt mit einem schlichten Harfenarpeggio in hoher Lage, wobei die Solovioline die gleiche Melodie übernimmt, die kurz davor im vorhergehenden Abschnitt in Oktavverdoppelung erklang. In der Grundstimmung ist die Berceuse verhalten, friedlich und ohne jegliche Eile.

Scherzo Rustique
Dieses ausgelassen-energische Scherzo schafft es dennoch, zart und feinfühlig zu wirken. Wie so oft bei dieser Gattung verleiht das Fehlen des tiefen Blechs dem Satz einen leichtfüßigen Eindruck. Trotzdem fängt der Satz mit stampfenden Akkordballungen an, während Violoncelli und Kontrabässe die rhythmisch betonte, klar gegliederte Melodie vortragen.

Dieses Finale verdankt seine Harmonik der russischen Folklore, ohne jedoch dem Gesamteindruck des kosmopolitischen Hintergrund Kjuis den geringsten Abbruch zu tun.
 

Übersetzung: Bradford Robinson

Aufführungsmaterial ist von Belaief, Pinneberg. zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

César Cui
(b. Vilnius, 18. January 1835 - d. St. Petersburg, 26. March 1918)

Suite Miniature No. 1
Op. 20 (1882)

Vorwort
César Antonovich Cui (1835-1918) was born in Vilna (Vilnius), Lithuania, to a French father and Lithuanian mother. When he turned fifteen, his family moved to St. Petersburg where he entered the Engineering School in 1851. He went on to study at the Academy of Military Engineering, graduating in 1857, and then began a long and illustrious career, becoming a professor of military fortification by 1879. Cui rose to the rank of the General, and was greatly respected in his professional circles for publications such as his Handbook of Field Fortification (3rd edn. 1880).

From an early age Cui showed musical talent, and his sister Marianna started teaching him piano. Soon it was obvious that he needed a professional teacher, and Cui’s father hired a violinist by the name of Dio, whose instruction consisted of playing four-hand arrangements of popular operas on the piano with his student. Dio introduced fifteen-year-old Cui to the Polish composer Stanisław Moniuszko (1819-1872), who lived in Vilna at the time, and who taught the young César harmony and counterpoint for seven months. In 1856 Cui met Mili Balakirev, who for many years became his musical mentor. Soon afterwards he met Alexander Borodin, Modest Mussorgsky, and Nikolai Rimsky-Korsakov, and by 1862 the famous ‘Mighty Handful’ was formed. This group of nationalistically inclined composers became known as the ‘New Russian School’ of music, and counted the critic Vladimir Stasov as their aesthetic mentor.
Cui wrote fourteen operas, only three of which were written on Russian sources: Kavkazskiy plennik (A Prisoner in the Caucasus), 1858-59; the one-act Pir vo vremya chumy (A Feast in Time of Plague, 1900), and Kapitanskaya dochka (The Captain’s Daughter, 1907–9), all inspired by Pushkin’s works. His other operas were mostly written on French literary sources: Andzhelo after Hugo, 1871-5; Le Flibustier after J. Richepin, 1888–9; Saratsin after A. Dumas père: Charles VII chez ses grands vassaux), 1896–8; Mademoiselle Fifi, after G. de Maupassant and O. Méténier, 1902–3; and Mateo Falkone after P. Mérimée, 1906–7. Cui’s second opera was Syn mandarina (The Mandarin’s Son), written on a libretto by Krylov in 1859, and his third William Ratcliff (1858), inspired by Heine’s romantic play. Cui’s fellow composers received William Ratcliff enthusiastically and, although they noted the lack of orchestration skills, it was deemed by Stasov to be ‘one of the most important compositions of our time’.
In the later years of his life Cui composed four children’s operas: Snezhnyi bogatyr (The Snow Hero), 1906; Krasnaya shapochka (Little Red Riding-Hood), 1911; Kot v sapogakh (Puss in Boots), 1913; and Ivanushka-durachok (Ivan the Little Fool), 1913. He also completed the first performing version of Musorgsky’s Sorochinskaya Yarmarka (The Fair at Sorochintsy), which was given at the Petrograd Music Drama Theatre in October 1917.
Parallel to composition, Cui began his career as a music critic in 1864, during which he fiercely promoted and defended the positions and views of his fellow members of the Mighty Handful, espousing realism, dramatic truth, faithful declamation, and the use of Russian sources for operatic texts. He exhibited aversion to the music of Tchaikovsky, Rachmaninov, and Rubinstein, mostly because he considered them to be too dependent on Western musical models. When Rachmaninov’s First Symphony was premiered in Moscow in 1897, Cui called it ‘a programme symphony on the Seven Plagues of Egypt’, causing the young composer severe disillusionment with his own compostion, which resulted in a creative hiatus that lasted for three years. Although he defended the Mighty Handful’s aesthetic stance, Cui himself was often criticised for not following the same ideals in his own music. Indeed, his tendency to favour smaller-scale works and foreign subjects for his operas is difficult to overlook, yet easy to explain by his French-Lithuanian descent, which even Cui himself admitted caused him avoid Russian subjects.

Suite Miniature No. 1 Op. 20 (1882)
Despited writing three string quartets and fourteen operas, Cui excelled in the field of miniatures—instrumental, vocal, chamber, and orchestral. Even in his operas, he leaned toward smaller-scale structures works: six out of fourteen are one-act compositions, and his first opera initially consisted of just two acts.

In order to write successful muniatures, a composer must possess an ability to capture the mood or feeling, and express it concisely. Cui certainly had the gift of presenting a snapshot of a single emotion or mood, and his many miniatures are exemplary of this skill. He frequently arranged his instrumental works for symphony orchestra, and this Suite is one such, taking six short pieces from his Twelve Miniatures for piano (1882). Presented here are numbers 10, 4, 5, 6, 8, and 12.

The Suite Miniature was premiered on 29 October 1883 at a concert of the Russian Musical Society, conducted by Leopold Auer, where it was preceded by Beethoven’s Third Symphony and Rubinstein’s Second Piano Concerto. It was also performed in Meiningen, Germany, and Buffalo, North America, in March 1885.

Petite March

Cui the military engineer-composer opens his Suite with a work that pays mini-homage to his two careers. This delicate, refined musical miniature brings to mind the world of children’s games, and images of marching tin soldiers. The march is written in simple three-part structure. The woodwind and brass are prominent here, giving the music a highly polished, clear sound. The rhythmical building-block of the first and third parts opens the piece, stated by the clarinets in A major:
The middle section is in B minor, and the rhythmical figure of the opening part is transformed into a softer version, played by the violins:
Impromptu à la Schumann

The title points to the inspiration for the piece. Its floating melodies and romantic mood are a musical homage to the composer whose works Cui grew up on and admired throughout his life. The Impromptu is scored only for flutes, clarinets, and strings, which contribute to a transparent, delicate texture. The melodic material is built on a rhythmical figure presented by the violins:
This figure appears in flutes and clarinets, but as accompaniment to a violin melody, before returning as a passionate concluding gesture.

Cantabile

This gentle, expressive, sincere movement opens with a violin melody, supported by pulsating layers of other string instruments. Its melodic language consists of soaring melodies against the background of lilting rhythmical accompaniment. The title suggests singing origins, and indeed, the melodies of this Cantabile are very close to Cui’s vocal writing style.

Souvenir Douloureux

The opening melody is stated in the altos, accompanied by throbbing flutes and oboes. This expressive, passionate piece is reminiscent of early Tchaikovsky, particularly in instrumentation, and it gently glides towards the next piece in the Suite.

Berceuse

This Berceuse is very transparent in texture and romantic in mood. Its orchestration is delicate and elegant, and features two additional harps that soar above the violin melodies throughout the piece. This short movement ends with a harp arpeggio in the high register, and a solo violin plays the melody, which just appeared doubled in octaves in the previous section. The general mood of the Berceuse is subdued, peaceful, and unhurried.

Scherzo Rustique

This boisterous, energetic scherzo still manages to sound delicate and refined. A complete absence of heavy brass, not unusual in this genre, enables the scherzo to appear light on its feet. Nevertheless it opens with stomping chord clusters in the violins, while celli and basses play the rhythmical, clearly defined melody:

This finale owes its harmonic language to Russian folk sources, but does not detract form the overall sense of the composer’s more cosmopolitan background.

Anastasia Belina, 2008

For performance material please contact the publisher Belaief, Pinneberg. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.