Wilhelm Stenhammar
(geb. Stockholm, 7. Februar 1871— gest. Stockholm, 20. November 1927)

Streichquartette Nr. 3
F-Dur op. 18

Die Fortschritte der Streicher-Kammermusik des 19. Jahrhunderts wurden durch österreichisch-deutsche Komponisten dominiert, von Haydns musikalischem Vermächtnis bis hin zu Schönbergs Sextett Verklärte Nacht (1899). Zwar schließt eine solche Bewertung Meisterwerke wie Beethovens späte Quartette, Schuberts Quintett und die beiden Sextette von Brahms als Höhepunkte des Genres ein, doch neigt sie dazu, bedeutsame Traditionen in anderen Ländern auszuschließen. In Schweden bestimmte den Charakter des musikalischen Estbalishments einerseits das Ausmaß, mit dem Komponisten deutschen Vorbildern folgten, andererseits ein individuelleres, oft durch Folklore geprägtes, national-typisches Idiom. Franz Berwald (1796–1868), der bedeutendste schwedische Komponist seiner Zeit, löste sich nach und nach von Beethovens überwältigendem Einfluß und schuf zunehmend Originalwerke, die man zunächst aufgrund ihrer rauhen Modulationen bemerkte, später jedoch wegen ihrer idiomatischen Meisterschaft schätzte. Wenn auch Berwalds Ruf vor allem auf seinen vier Sinfonien beruhte, dominierte sein Schaffen zwischen 1848 und 1859 doch die Kammermusik. Seine beiden reifen Quartette von 1849 zeigen Originalität in der Form, polyphone Gewandheit und das Experimentieren mit chromatischer Harmonik – Aspekte einer Kunst, die sich auch bei seinen Nachfolgern von Ludwig Norman über Oscar Byström bis hin zu Wilhelm Stenhammar herausfiltern läßt.

Schweden ließ sich Zeit damit, Kammermusik-Gesellschaften zur Unterstützung kommender Komponisten durch Aufführungen zu etablieren. Die Lage besserte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Kammermusik-Recitals allmählich aus bürgerlichen Kreisen in die Konzertsäle wanderten und die Vorliebe der Volksseele für Vokalmusik unterwanderten. Tor Aulin, renommierter Geiger und ruheloser Anwalt für Kammermusik, gründete 1887 sein Streich-Quartett. Es gewann durch Aufführungen in ganz Skandinavien und Deutschland rasch Reputation und überwand die schwedi-sche Indifferenz gegenüber Kammermusik. Stenhammar wurde regulärer Klavierbegleiter dieser Formation – er sollte mehr als 1000 Aufführungen mit ihr bestreiten –, und im Zuge dieser Zusammenarbeit bekam er intime Einblicke in die Fähigkeiten des Streicher-Ensembles. Stenhammar hatte Klavier mit dem bedeutenden Pädagogen Richard Anderssohn studiert, war aber als Dirigent und Komponist Autodidakt. Später wurde er künstlerischer Leiter der Philharmonischen Gesellschaft Stockholm (1897–1900), der Neuen Philharmonischen Gesellschaft (1904–6) und des damals neu gegründeten Göteborger Sinfonieorchesters (1906–22). Unter seinen Werken befinden sich zwei Sinfonien, zwei Klavierkonzerte, zwei Opern, Schauspielmusiken, Chorwerke, Lieder und sechs Streichquartette. Stenhammars stilistische Entwicklung als Komponist brachte ihn von einer typisch spätromantischen Hinwendung zu Wagner, Liszt und Brahms hin zu einer mehr persönlichen Art des Klassizismus, beruhend auf einer intensiven Auseinandersetzung mit Beethoven sowie – im Zuge seiner kammermusikalischen Tätigkeiten – Haydn und Mozart. Er interessierte sich außerdem für die Polyphonie der Renaissance und strengen Kontrapunkt. Zwar findet man bei ihm durch-aus Anklänge an schwedische Volksmusik, doch war er mit direkten Zitaten von Volksliedern sparsam.

Das dritte Streichquartett F-Dur op. 18 entstand zwischen 1897 und 1900, als Stenhammar begann, konventionelle romantische Ausdrucksformen in Frage zu stellen: Seine Oper Tirfing aus dieser Zeit (1897/8) war ausgesprochen wagnerisch geraten, und ungeachtet ihrer Popularität sah sich der Komponist in die Falle ausschweifenden Epigonentums geraten. Die lange Entstehungszeit des dritten Quartetts kennzeichnet diese Schaffenskrise. Das Aulin-Quartett bestritt am 24. April 1903 in Stockholm die Uraufführung. Der Kopfsatz ist eine höchst zivilisierte, ausgefeilte Errungenschaft, dicht gewebt, bei großzügigen Proportionen. Kurze Motive werden in Art Beethovens geradlinig entwickelt, doch ihr Charakter ist oft folklore-artig – die Hervorhebung der sechsten, fünften und dritten Stufe (in F-Dur: D, C, A) oder Moll-Septakkorde (z. B. T. 7) sind nur die offenkundigeren Manifestationen. Die Coda dieses Sonatensatzes erzeugt durch zarte Wiederholung der Hauptmotive eine wundervolle Ruhe-Stimmung. Das brutale Scherzo bildet dazu einen starken Kontrast; sein Mittelteil, beginnend mit Läufen der 1. Violine, verspricht strenge Freudigkeit. Wiederholte F’s steigern sich bis Ende zum fff; dann wird dieser Ton dominantisch umgedeutet, um in den langsamen Satz in b-moll überzuleiten. Vier Einleitungstakte bestätigen diese Tonart, bevor ein schlichte Melodie mit spukhaft tropfenden Terzen erklingt. Ihr liegen drei folgende Variationen zugrunde. Der Satz erinnert an den Friedensgesang aus Beethovens op. 135, wenn auch Stenhammars Auszierung des Kernmaterials viel ungezügelter wirkt. Die Coda mit ihrem chromatischen Bass-Ostinato erinnert an die Parallelstelle im Kopfsatz aus Beethovens Neunter. Auch die Finalsätze beider Werke haben deutliche Gemeinsamkeiten: Stenhammar zitiert Themen aus den vorangegangenen Sätzen, in Art einer Fantasia, bevor eine Fuge beginnt. Deren Thema ist rhythmisch ähnlich der cis-moll-Fuge in Beethovens op. 131, doch die Melodik erinnert eher an das berühmte Motto Es muß sein aus dem Finale von op. 135. Stenhammar beschleunigt gegen Ende das Tempo, bevor sich ein nostalgischer Rückblick auf den Anfang des Quartettes in einem letzten, sehr lebendigen Ausbruch verliert.

Übertragung ins Deutsche: Benjamin-Gunnar Cohrs, © 2008
(Kontakt: bruckner9finale@web.de)


Aufführungsmaterial ist von Benjamin, Hamburg zu beziehen.

Wilhelm Stenhammar
(b. Stockholm, 7. February 1871 — d. Stockholm, 20. November 1927)

String Quartet N° 3
in F major Op. 18

The progress of nineteenth-century string chamber music was dominated by Austro-Germanic composers, from the legacy of Haydn’s output to Schoenberg’s sextet Verklärte Nacht written in 1899. While such an evaluation rightly positions such masterpieces as Beethoven’s late quartets, Schubert’s string quintet and Brahms’ two sextets at the summit of achievement, it tends to eclipse distinguished traditions in other countries. In Sweden the character of the musical establishment was determined by the extent to which composers subscribed to German models on the one hand, or to a more individual or indigenous, often folk-inspired, idiom on the other. Franz Berwald (1796–1868), the most eminent Swedish composer of his time, gradually extricated himself from the overwhelming influence of Beethoven to produce truly original works, at first noted for their bold modulations but later appreciated for their idiomatic mastery. Though Berwald’s reputation rests principally on his four symphonies, his life between 1848 and 1859 was dominated by chamber music. The two mature string quartets of 1849 show formal originality, polyphonic dexterity and a desire to experiment with chromatic harmony – aspects of an art that would filter down through his successors Ludwig Norman and Oscar Byström to Wilhelm Stenhammar.

Sweden had been slow to establish chamber music societies to support through performance works by upcoming composers. The situation improved in the second half of the Nineteenth Century when chamber music recitals moved from the private to the public domain, gradually eroding the pre-eminent position of vocal music in the native psyche. Tor Aulin, a distinguished violinist and tireless advocate for the chamber art, founded his quartet in 1887. The quartet overcame the Swedish public’s indifference to serious chamber music, and won wide recognition throughout Scandinavia and Germany for their performances. Stenhammar became the regular pianist for this quartet – he would give more than 1000 performances with them –, and through this association, developed an intimate knowledge of the capabilities of the string ensemble. Stenhammar had studied piano with the eminent teacher Richard Andersson, but in conducting and composition he was self-taught. As a conductor he would hold the posts of artistic director of the Stockholm Philharmonic Society (1897–1900), of the New Philharmonic Society (1904–6) and of the newly founded Gothenburg Symphony Orchestra (1906–22). His compositions include two symphonies, two piano concertos, two operas, incidental music for plays, choral works and songs, and six string quartets.
Stenhammar’s stylistic itinerary as a composer took him from a typical late Romantic sensibility, imbued with influences of Wagner, Liszt and Brahms to a more personal form of classicism based on a close study of Beethoven and – through his activities as a chamber musician – of Haydn and Mozart. He also had an intense interest in Renaissance polyphony and strict counterpoint. Traits of Swedish folk music are perceptible, but quotation of actual folk tunes is kept well reined in. The Third String Quartet in F major Op. 18 was written between 1897 and 1900, at a time when Stenhammar was questioning conventional Romantic modes of expression: his opera Tirfing written at the same time (1897/8) showed a strong Wagnerian hue, and although the opera found popularity with the public, its composer saw himself falling into an excessively imitative style. The long gestation period of the Third Quartet was indicative of an internal creative crisis. It received its first performance in Stockholm on 24th April 1903, played by the Aulin Quartet.

The first movement of this quartet is a supremely civilised and refined utterance, at once tightly argued and generous in proportion. Short motifs are straightway developed in a Beethovenian manner, but the character of these motifs often seems folk-inspired – the emphasis on a 6th-5th-3rd (D-C-A in F major) pattern or the use of minor 7th chords (e.g. bar 7) are only the more obvious manifestations of the tendency. The coda of this sonata form movement creates a wonderful sense of calm through gentle reiteration of the main motifs. The violent Scherzo that follows is in strong contrast; its trio section, starting with 1st violin runs, proposes a fierce joyfulness. Repeated Fs crescendo to fff at the conclusion, and this note then takes on the function of a dominant to lead into the slow movement in b flat minor. Four introductory bars reinforce the new tonality, before a simple, plangent melody with haunting dropping 3rds is stated. This is the thematic basis for the three variations that follow. The shape of the movement recalls the Süsser Ruhegesang oder Friedengesang from Beethoven’s Opus 135 quartet, even if Stenhammar’s decoration of the core material is much more unbridled. The coda, with its chromatic ostinato in the bass, has reminded some commentators of a comparable passage towards the end of the first movement of Beethoven’s Ninth Symphony. Even clearer links – this time with the symphony’s last movement – appear at the start of the finale: themes from earlier in the quartet are recalled in a quasi-fantasia, before a fugue begins. Its subject shares its rhythmic outline with Beet-hoven’s C sharp minor fugue in Opus 131, while certain melodic shapes resemble the ‘Es muss sein’ motto from Opus 135’s last movement. Stenhammar increases the tempo towards the end, before a nostalgic memory of the opening of the quartet is lost in a final burst of high spirits.

Alasdair Jamieson, 2008

For performance material please contact the publisher Benjamin, Hamburg.