Alexander Konstantinowitsch Glasunow
(geb. St. Petersburg, 10. August 1865 - gest. Neuilly-sur-Seine, 21. März 1936)

„Aus dem Mittelalter“ Suite für Orchester, op. 79

Vorwort Wie stellt man sich ein musikalisches Wunderkind vor? Natürlich in erster Linie ungewöhnlich musisch begabt, darüber hinaus aber auch lebhaft, extrovertiert, gerne und selbstbewusst im Mittelpunkt stehend und – nomen est omen – mit Vornamen wie Felix oder gar Amadeus ausgestattet. Doch sind das nur die Klischees der heutigen, von der Filmindustrie einschlägig bedienten Gesellschaft?

Am 29. März 1882 findet ein Konzert in der Freien Musikschule in Sankt Petersburg statt. Auf dem Programm steht die Uraufführung einer viersätzigen Symphonie für großes Orchester, als Komponist wird der bis dato unbekannte Alexander Glasunow genannt. Das Publikum ist von der Darbietung begeistert, man applaudiert laut und verlangt, dass sich der Komponist auf der Bühne zeigt. Zur Überraschung aller betritt ein sechzehnjähriger Junge in Schuluniform die Bühne, der eher publikumsscheu wirkt und mit dieser Form von Erfolg zunächst nichts anzufangen weiß. Soll das ein Wunderkind sein? Die Presse ist misstrauisch, zwischen den Zeilen der an sich lobenden Kritik wird der Verdacht laut, die Lehrer Glasunows hätten diesem die Symphonie mehr oder weniger diktiert. Selbst Peter Tschaikowsky wir sich aus Moskau einige Monate später erkundigen, wie groß Glasunows eigener Anteil am Zustandekommen der Symphonie war.

Ein Blick in die Biografie Glasunows verrät, dass diese Zweifel allesamt unberechtigt waren. Alexander Glasunow wird am 10. August 1865 in St. Petersburg geboren. Beide Elternteile, selbst musikalisch begabt und kulturell interessiert, erkennen die Begabung ihres Sohnes und fördern seine Ausbildung, indem sie ihm renommierte Lehrer zur Seite stellen. Zuletzt sind dies Mili Balakirew, der als Leiter der Freien Musikschule auch die oben genannte Uraufführung leitete, und Nikolai Rimsky- Korsakow. Briefwechsel und Notenmanuskripte belegen aber eindrucksvoll, dass beide „Lehrer“ schon sehr bald nur noch „Berater“ sind. Zumindest Rimsky- Korsakow wird sich dies auch schnell selbst eingestehen, Balakirew tut sich damit schwer. Sehr geschickt und äußerst diplomatisch geht Glasunow auf die Kompositionsratschläge seiner beiden doch sehr unterschiedlichen Lehrerpersönlichkeiten ein, um dann schließlich seine eigenen Ideen kompositorisch umzusetzen, ohne seine Lehrer dabei zu brüskieren - ein Wunderkind der leisen Töne eben.

Neben seinen musikalischen Weggefährten muss ein weiterer Name genannt werden, der maßgeblich zur Förderung des Komponisten beigetragen hat. Bei einer der Aufführungen der ersten Symphonie wird der vermögende Holzgroßhändler und Musikliebhaber Mitrofan Belaieff auf Glasunow aufmerksam. Seine Begeisterung für den jungen Komponisten ist so groß, dass er fortan dessen Konzerte und Konzertreisen durch ganz Europa managt und finanziert. Ferner gründet Belaieff einen Musikverlag, der nahezu alle Werke Glasunows drucken wird uns somit erheblich zur Steigerung der Bekanntheit des Komponisten beiträgt - heute würde man von einem uneigennützigen Hauptsponsor sprechen!

Nicht zuletzt durch diese finanzielle Unabhängigkeit verkehrt Glasunow bald in allen musikalischen Kreisen. Obwohl seine Wurzeln im Kreise des „Mächtigen Häufleins“, den Petersburger Musikern liegen, verschließt er sich nicht anderen Musikströmungen. Seiner ausgleichenden Art entsprechend hält er freundschaftlichen Kontakt zu den Moskauer Musikern um Tschaikowsky (von anderen Petersburgern als zu kosmopolitisch verpönt) und auch außerhalb Russlands wird man bald auf Glasunow aufmerksam. So gehört selbst der schon betagte Franz Liszt, in seinem Gebaren sicherlich ein Antipode zu Glasunow, bald zu seinen Freunden.

Im Jahr 1899 wird Glasunow Professor für Komposition und Instrumentation am Petersburger Konservatorium. Aus Solidarität mit seinem ehemaligen Lehrer Rimsky-Korsakow, dem Leiter des Konservatoriums, legt er jedoch sein Amt nieder, als dieser im Rahmen von politischen Querelen 1905 aus dem Amt gedrängt wird. Und wiederum kommt Glasunow nicht nur seine Fachkompetenz, sondern auch seine diplomatische Art zugute. Als das Konservatorium den erstrittenen Autonomiestatus erhielt, wird der Komponist zu dessen neuen Rektor gewählt. Doch die Arbeit wird Glasunow nicht leicht gemacht, insbesondere nach der Oktoberrevolution verschlechtern sich die Bedingungen am Konservatorium. Schweren Herzens gibt selbst Glasunow 1928 auf und emigriert nach Frankreich, wo er den Rest seines Lebens verbringen wird - keineswegs nur seiner angeschlagenen Gesundheit bzw. des guten Klimas in Frankreich wegen, wie uns sowjetische Biografen weismachen wollten. Die Briefe an die am Konservatorium verbliebenen Kollegen (formell ist Glasunow zunächst noch immer Rektor!) belegen, dass er nach wie vor regen Anteil am musikalischen Geschehen seiner Heimat nimmt. Am 21. März 1936 stirbt Glasunow in Paris, wo er zunächst auch beigesetzt wird. 1972 werden die sterblichen Überreste in die Heimat nach St. Petersburg überführt.

Glasunows Werkverzeichnis ist recht umfangreich und umfasst nahezu alle musikalischen Gattungen, doch im Orchesterklang findet er seine Ideen am besten verwirklicht. Selbst einige sehr frühe Werkskizzen sind schon mit Instrumentationsangaben versehen bzw. als Partiturentwürfe konzipiert, Glasunow beherrschte mehrere Instrumente und hatte eine sehr feinsinnige Klangvorstellung. Obwohl er hinsichtlich seiner Kompositionstechnik nicht gerade als fortschrittlich galt (sehr zum Verdruss einiger seiner Schüler!), war er für neue Klangfarben bis ins hohe Alter empfänglich: selbst dem ansonsten von klassischen Komponisten eher geschmähten Saxofon hat er Kompositionen gewidmet!

Neben den zahlreichen großen Orchesterwerken wie Symphonien, Konzerten, Ballet-tmusiken und symphonischen Dichtungen gibt es im Werkkatalog Glasunows auch viele kleinere, nichtzyklische Orchestersätze, über die teilweise nur sehr wenig bekannt ist. Gelegentlich sind es die Widmungsträger, die den Anlass zur Komposition lieferten, einige dieser Werke mögen auch schlicht Kompositionsstudien sein, oder sie sind aus nicht verwendetem Material zu größeren abgeschlossenen Kompositionen entstanden. In diese Kategorie gehören auch die zwei vorliegenden Werke.

Die viersätzige Orchestersuite Aus dem Mittelalter op. 79 wurde im Herbst 1902 zusammengestellt. Glasunow griff hierbei teilweise auf ältere musikalische Gedanken zurück, so findet sich das thematische Material zum Präludium bereits in einer mit „Allegro vivo“ betitelten Orchesterskizze aus dem Jahr 1895, und der dritte Satz wurde schon 1901 fertiggestellt. Diese Umstände verdeutlichen, dass das der Suite beigefügte Programm mehr die verschiedenen Stimmungen der Sätze verdeutlichen soll und weniger inhaltliche Zusammenhänge offenbart. Die Suite entstand unmittelbar nach Abschluss der 7. Symphonie, beide Werke weisen nahezu die gleiche, im Vergleich zu den vorangehenden Orchesterwerken kleinere Orchesterbesetzung auf. Die etwa 1890 beginnende Verlagerung vom Komponieren weg zum Dirigieren hin versetzte Glasunow offensichtlich in die Lage, Klangexperimente nicht mehr allein durch Vergrößerung des Orchesterapparates zu bewerkstelligen, sondern auch mit kleineren Besetzungen subtiler im Klangbereich zu arbeiten.

Der dritte Satz der Suite wurde bereits am 16. Februar 1902 im Rahmen der Russischen Symphoniekonzerte in Sankt Petersburg uraufgeführt (noch vor Erstellung der Gesamtkonzeption als Suite), die erste vollständige Aufführung der vier Sätze erfolgte am 21. Dezember 1902 ebendort. Beide Male stand Glasunow selbst am Dirigentenpult.

Der Notentext der handschriftliche Partitur- sie ist eine der wenigen, die sich nicht in Sankt Petersburg befindet, sonder im Tschaikowsky-Museum in Klin- erfuhr vor der Drucklegung noch einige Änderungen. Im Sommer 1903 erstellte Glasunow außerdem eine Bearbeitung für zwei Klaviere. Der russische Pianist Alexander Siloti verfasste ferner eine leichter spielbare Fassung für Klavier solo. Silotis Ehefrau Vera hat Glasunow das Werk gewidmet. 1903 wurden die Suite und ihre Bearbeitungen im Verlag Belaieff publiziert.

Programm (Wortlaut nach der Originalausgabe) - Satz „Präludium“: Die grauen Meereswogen rollen. Am strande, im Schlosse, ist das junge Paar in stilles Liebesglück versenkt; es hört nicht die Wogen, hört nicht das Getöse des Sturmes. - Satz „Scherzo“: Auf den Brettern eines Straßentheaters wird ein „Todtentanz“ dargestellt. Der Tod erscheint und spielt auf seiner Fiedel; er ladet die Leute ein, mit ihm den letzten Reigen zu tanzen. - Satz „Des Troubadours Ständchen“ - Satz „Die Kreuzfahrer“: Auf den Ruf der Trompete versammeln sich Reiter und Fußvolk. Der rauhe Heerführer entflammt ihren Muth mit einer zündenden Rede. Eine Procession kommt ihnen mit Gesang entgegen; die Geistlichen segnen das Heer zu seiner kühnen Fahrt. Vorübergehend trübt eine finstere Ahnung die Gemüther der Kämpen; die Trommel erschallt – und aufs Neue sind die Herzen in kühner Entschlossenheit vereint. Die Töne des Marsches gesellen sich zu denen des geistlichen Gesanges und verklingen allmählich in der Ferne. Das Volk begleitet die Krieger mit Freudenrufen.

Wolfgang Eggerking, 2007

 

Aufführungsmaterial ist von der Belaieff, Frankfurt zu beziehen.

Alexander Konstantinowitsch Glasunow
(b. St. Petersburg, 10 August 1865 - dt. Neuilly-sur-Seine, 21 March 1936)

From the Middle Ages Suite for orchestra, op. 30 (1895-1901)

Preface What springs to mind when we think of a child prodigy? Phenomenal artistic gifts, of course, but beyond that a lively, extroverted personality, intent on standing self-confidently at the center of things and (what’s in a name?) equipped with a portentous first name such as Felix, or even Amadeus. But aren’t these nothing but clichés foisted upon present-day society by the movie industry?

On 29 March 1882 a concert took place at the Free School of Music in St. Petersburg. The program included the world première of a four-movement symphony for full orchestra by a previously unknown composer named Alexander Glazunov. The audience is elated, the applause is loud, the composer is called to the stage. Then, to everyone’s surprise, a sixteen-year-old boy in school uniform steps onto the podium, obviously reclusive and ill at ease with this sort of success. Is this supposed to be a child prodigy? The press is dubious; between the lines of the mainly positive reviews one hears the suspicion that the boy had more or less taken down the symphony in dictation from his teachers. Even Tchaikovsky, writing from Moscow a few months later, will ask how much of the symphony came from Glazunov himself.

A quick glance at Glazunov’s biography reveals that these suspicions were wholly unjustified. Alexander Glazunov was born in St. Petersburg on 10 August 1865. Both his parents were musically gifted and culturally minded; they recognized their son’s talents and furthered his education by entrusting him to highly regarded teachers. In the end these were Mily Balakirev, the director of the Free School of Music and the conductor of the above-mentioned première, and Nikolai Rimsky-Korsakov. Yet, as their correspondence and the musical manuscripts impressively reveal, before long these two «teachers» were little more than «advisers»: Rimsky-Korsakov soon admitted as much, while Balakirev had a harder time of it. Glazunov dealt adroitly and extremely diplomatically with every suggestion from his two highly contrasting teachers, only to follow his own compositional ideas in the end without causing the least offense to either of the two men – a prodigy of the gentle utterance.

Besides these two musical confrères, we should also mention another man who substantially assisted the young composer. At a performance of the First Symphony an affluent timber dealer and music-lover named Mitrofan Belaïeff became aware of the young composer. His enthusiasm was so great that from that point on he agreed to manage and finance Glazunov’s concerts and tours throughout the whole of Europe. Belaïeff also founded a musical publishing house that would eventually publish virtually all of Glazunov’s works, thereby greatly enhancing the composer’s fame. Today we would call Belaïeff a self-sacrificing principal sponsor.

It was not least this financial independence that soon projected Glazunov into the highest musical circles. Though firmly rooted in the St. Petersburg tradition of the «Mighty Handful,» he was not averse to other musical currents. In keeping with his even temper, he maintained friendly relations with the Moscow musicians associated with Tchaikovsky (decried by other St. Petersburg composers as overly cosmopolitan). Glazunov even attracted attention outside Russia: the aged Franz Liszt, surely the diametrical opposite of Glazunov in his demeanor, soon numbered among his friends.

In 1899 Glazunov was appointed professor of composition and orchestration at St. Petersburg Conservatory. However, in deference to the Conservatory’s director, his former teacher Rimsky-Korsakov, he resigned from this position in 1905 when Rimsky was forced from office during the ongoing political turmoils. Once again Glazunov could profit both from his professional prowess and his diplomatic finesse: no sooner had the Conservatory attained the autonomous status it desired than he was chosen to become its new rector. But his work was not made easy for him, least of all after the October Revolution, when conditions at the Conservatory worsened. With a heavy heart Glazunov gave up his position in 1928 and emigrated to France. There he spent the rest of his life – but not merely because of his stricken health or the salubrious French climate, as Soviet biographers were fond of claiming. His letters to his colleagues at the Conservatory (pro forma Glazunov still remained the rector) prove that he continued to take an active interest in the musical life of his native country. He died on 21 March 1936 in Paris, where he was initially buried. In 1972 his remains were transferred to St. Petersburg in his native Russia.

Though the list of Glazunov’s works is quite long and covers virtually every genre, it was in the sound of the orchestra that he was best able to realize his ideas. Even some of his very early sketches already have instrumental cues or are laid out in short score. Glazunov was a master of several instruments and possessed a highly refined sense of timbre. Though not exactly progressive with regard to his compositional technique (much to the annoyance of some of his students!), he still remained receptive to new tone-colors at an advanced age, even devoting compositions to an instrument otherwise derided by classical composers: the saxophone.

Besides many large-scale orchestral compositions – symphonies, concertos, ballets, and symphonic poems – Glazunov’s catalogue of works also includes many lesser, non-cyclic pieces for orchestra. Often enough little is known about these works: some owe their existence to their dedicatee; others are little more than compositional studies; still others emerged from material left over from larger finished compositions. The two works in our volume fall into the latter category. From the Middle Ages, op. 79, is a four-movement orchestral suite that Glazunov assembled in autumn 1902 partly from earlier musical ideas. The thematic material of the Prelude, for example, came from an orchestral sketch of 1895 entitled Allegro vivo, and the third movement was finished as early as 1901. These circumstances reveal that the program accompanying the work was intended less to reveal its underlying connections than to convey the contrasting moods of its movements. The suite originated just after the completion of the Seventh Symphony, with which it shares almost the same relatively small orchestral forces compared to the preceding orchestral works. Glazunov’s shift from conducting to composition, beginning roughly in 1890, obviously placed him in a position to experiment with sound, not by enlarging the orchestral apparatus, but by working with greater timbral subtlety using smaller ensembles.

Even before the work was fully conceived as a suite, its third movement was premièred in St. Petersburg as early as 16 February 1902 during a Russian Symphony Concert. The first performance of all four movements took place at the same location on 21 December 1902. Glazunov conducted on both occasions.

The musical text of the handwritten score (one of the few not located in St. Petersburg but in the Tchaikovsky Museum in Klin) underwent a few changes prior to publication. In summer 1903 Glazunov also prepared an arrangement for two pianos. Further, the Russian pianist Alexander Ziloti produced a simpler version for solo piano. The work is dedicated to Ziloti’s wife, Vera. The suite and its arrangements were published by Belaieff in 1903.

Program (As presented in the first edition) - Prelude: Gray waves roll on the sea. On the shore, in the castle, a young couple are lost in quiet rapture, heedless of the waves and the buffetings of the storm. - Scherzo: A danse macabre is depicted on stage in a street theater. Death appears and plays on his violin, inviting the onlookers to join him in the final round. - The Minstrel’s Serenade. - The Crusaders: The sound of trumpets summons cavalry and infantrymen to assemble. The grim commander steels their courage with a fiery speech. A procession approaches; the chanting clergymen bless the men for their daring enterprise. A dark foreboding flits across the minds of the soldiers; the drum resounds – and their hearts are reunited in bold resolution. The sounds of the march mingle with the singing of the clergymen and gradually fade away in the distance. The people accompany the warriors with cries of joy.

Translation: Bradford Robinson

For performance material please contact the publisher Belaieff, Frankfurt.