Peter Iljitsch Tschaikowsky
(geb. Votkinsk, 7. Mai 1840 – gest. St. Petersburg, 6. November 1893)

Pikovaja dama
(“Pique Dame”), op. 68 (1890)
Oper in 3 Akten nach Alexander Puschkin

Vorwort
“Pique Dame beeindruckt mich nicht, zu diesem Sujet würde ich nur etwas Minderwertiges schreiben können.” So Tschaikowsky in einem Brief vom 28. März 1888 an seinen Bruder Modest. Kaum hätte er ahnen können, wie anders das allgemeine Urteil über seine vorletzte Oper ausfallen würde.

Angefangen hat es mit Pique Dame im Jahre 1887, als sich Modest Tschaikowsky anschickte, für den eher unbedeutenden Komponisten und Theaterdirigenten Nikolai Klenowsky ein Opernlibretto nach Alexander Puschkins berühmter Novelle von 1833 zu verfassen. Bei Puschkins Text, der bereits Fromental Halévy (1850) und Franz von Suppé (1862) als Opernvorlage gedient hatte, handelt es sich um die erschütternde Beschreibung einer seelischen Zerrüttung, die in einem stark ironisierenden Ton verfaßt und von Dostojewsky einmal als Meisterwerk des „kalten Zorns“ bezeichnet wurde. Bei der Auftragsvergabe hatte jedoch die Leitung des Petersburger Mariinsky-Theaters etwas ganz anderes im Sinn: Sie suchte ein aufwendiges „Kostümdrama“, das mit spektakulären Bühneneffekten und Elementen der französischen Grand opéra aufwarten konnte. Um diesen Erfordernissen Genüge zu tun, mußte Modest Tschaikowsky den Handlungsverlauf der Novelle um ein Vielfaches erweitern und grundlegend ändern: Die Zeit der Handlung wurde vom 19. ins späte 18. Jahrhundert des Ancien regimes verlegt, um so historische Tanzeinlagen und Versatzstücke der Grand opéra (einschließlich eines kurzen Auftritts der Zarin Katharina der Großen) unterzubringen; die Liebesgeschichte zwischen German und Lisa wurde stärker in den Vordergrund gestellt und der Schluß in einen Doppelselbstmord der beiden Liebenden umgeändert (bei Puschkin wird German in eine Nervenheilanstalt eingeliefert, während Lisa eine lieblose Vernunftehe mit einem niedrigen Beamten eingeht). Auch die Person des Fürsten Jelezki kam neu hinzu, und die Gräfin wurde in eine dämonische Gestalt umgewandelt, die imstande ist, die Geschicke der Protagonisten auch nach dem Tod zu lenken. Kurzum: Eine Erzählung voller selbstzerstörerischer Zwangshandlungen im Geiste Edgar Allan Poes wurde zu einer Operntragödie mit stark melodramatischen Zügen.

Wohl wegen der großen Unterschiede zum Original verlor Klenowsky bald das Interesse am neuen Projekt (das gleiche tat auch der zweite Komponistenkandidat Nikolai Solowjow). Dadurch wurde die Bahn für Tschaikowsky frei, der plötzlich im Libretto seines Bruders große Vorzüge entdeckte. Während eines Aufenthalts in Florenz Anfang 1890 machte er sich sofort an die Vertonung und vertiefte sich bald in das Projekt wie in kaum ein anderes seiner Karriere. In nur 44 Tagen – zwischen dem 30. Januar und dem 14. März – entstand die ganze Oper als Particell. In dieser Zeit arbeitete Tschaikowsky fieberhaft und selbstvergessen, daß sich sogar sein treuer Diener Nasar um sein seelisches Wohlbefinden Sorgen machte. Die erste Herausforderung bestand darin, den noch unfertigen Text seines Bruders in ein brauchbares Opernlibretto umzuarbeiten: Der Komponist machte überall Striche („entschieden zu wortreich“ lautete sein gnadenloses Urteil), verfaßte einige Stellen selber (der Text des russischen Lieds im 2. Bild des I. Akts, der Arie des Fürsten im 1. Bild des II. Akts sowie der großartigen Arie des Lisa im 2. Bild des III. Akts stammt vom Komponisten) und änderte den dramaturgischen Aufbau zwecks besserer Bühnenwirksamkeit („Der ganze dritte Akt ohne eine einzige Frau, das ist langweilig“). Anscheinend entdeckte Tschaikowsky in der Person des zwanghaft getriebenen German auch eigene Charakterzüge, und so strömte die Musik zeitweilig so schnell aus seiner Feder, daß er den Text lieber selbst gestaltete, statt eine Reaktion auf seine Wünsche aus Rußland abzuwarten. Bezeichnend ist etwa sein Tagebucheintrag vom 23. Februar: “Quälte mich den ganzen Vormittag hindurch mit den Worten zum Arioso der Lisa. Ein Dichter bin ich beileibe nicht!“ Derselbe Schaffensdrang verlieh jedoch der Musik eine Einheitlichkeit und Kohärenz, die in seinen Bühnenwerken wohl ihresgleichen sucht. Über die Qualität des musikalischen Ergebnisses war der Komponist nie im Zweifel: “Entweder irre ich mich gewaltig, Modja“ – so schrieb er an seinen Bruder Modest am 11. April – “oder die Oper ist mein Chef d’oeuvre.” So hatte sich sein erster Eindruck des Pique Dame-Projekts in sein genaues Gegenteil umgekehrt – und damit in ein Urteil, das auch die Nachwelt mit ihm teilt.

Die Musik zur Pique Dame weist stilistisch eine ungewöhnliche Bandbreite auf, die sich von geschickten Mozart-Parodien (der Anfang des II. Akts) bis zu Zitaten aus der französischen Opéra comique des 18. Jahrhunderts (André-Ernest-Modeste Grétrys Richard Coeur de Lion aus dem Jahr 1784), von offensichtlichen Huldigungen an Bizets Carmen (die Soldatenknabenchor im ersten Bild) bis zur nachempfundenen Folklore (das Tanzlied der Pauline im 2. Bild des I. Akts) und von ausladender lyrischer Emphase (die Arie des Fürsten im II. Akt) bis zur erschütternden vorexpressionistischen Ausdruckskunst und schaurig-düsteren Orchestrierung bei den dramaturgischen Schlüsselszenen erstreckt. Dennoch erhielt die Partitur durch die geniale Schöpfungskraft des Komponisten eine wohl unverrückbare Einheitlichkeit. Einige Forscher entdecken sogar leitmotivische Verbindungen zwischen den scheinbar nebensächlichen Balladen des Tomski (1. Bild, I. Akt) und der Pauline (2. Bild, I. Akt) einerseits und den tragischen Entwicklungen andererseits in der musikalischen Charakterdarstellung der beiden Hauptfiguren German und Lisa.

Letztendlich stellt Pique Dame demnach ein tragisches Kammerstück dar, wird jedoch in ein historisches Kostümdrama eingebettet, das nicht nur eine aufwendige Inszenierung und Bühnendekoration erfordert, sondern auch reichlich Auftrittsmöglichkeiten für das Corps de ballet bietet, vor allem während des Schäferspiels, das sich innerhalb des Maskenballs im II. Akt abspielt. In diesem Sinne wurde die Oper bei ihrer Uraufführung am 19. Dezember 1890 am Petersburger Mariinsky-Theater unter der Leitung von Eduard Nápravník auch aufgefaßt und inszeniert, wobei das Schäferspiel von keinem geringeren als Marius Petipa choreographiert wurde. Die Aufführung wurde für den Komponisten zu einem absoluten Triumph, und binnen kürzester Zeit wurde die Oper auch anderweitig in Rußland inszeniert. Bereits zwei Jahre nach der Petersburger Uraufführung erlebte Pique Dame in Prag die erste Auslandsinszenierung, der eine lange Reihe weiterer Inszenierungen folgte: Darmstadt (1900), Wien (1902 unter Gustav Mahler), Mailänd (1906), New York (1910, wiederum unter Mahlers Leitung mit Emmy Destinn und Leo Slezak in den Hauptrollen), Paris (1911), London (1915) und Buenos Aires (1924). Die angeblich peinlichen Verunstaltungen des Puschkinschen Originals führten gelegentlich zu Rehabilitierungsversuchen im Interesse des literarischen Texttreue, allerdings bisher mit eher zweideutigen Ergebnissen. Der erste dieser Versuche erfolgte 1935 durch den großen russischen Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Ein weiterer Versuch, diesmal durch den Komponisten Alfred Schnittke und den Theaterregisseur Juri Ljubimow, erhielt 1978 kurz vor der geplanten Premiere an der Pariser Oper von den sowjetischen Behörden ein Aufführungsverbot und durfte erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1990 in Karlsruhe und wiederum 1996 in Bonn über die Bretter gehen. Keiner dieser beiden hochinteressanten Alternativfassungen wird es jedoch wohl je gelingen, die Originalfassung Tschaikowskys zu verdrängen, die vielerseits als sein wichtigster Beitrag zur Operngattung bewertet wird und nur durchh Eugen Onegin in der Gunst des Publikums übertroffen wird. Weit davon ernfernt, „etwas Minderweitiges“ geschaffen zu haben, hatte der Komponist tatsächlich sein Chef d’oeuvre in die Welt gesetzt.

Handelnde Personen
German - Tenor
Graf Tomski - Bariton
Fürst Jelezki - Bariton
Tschekalinski - Tenor
Surin - Baß
Tschaplizki - Tenor
Narumow - Baß
Zeremonienmeister - Tenor
Gräfin - Mezzosopran
Lisa - Sopran
Polina - Alt
Gouvernante - Mezzosopran
Mascha - Sopran
Ein Junge - Sprechrolle

Personen des Intermezzos
Prilepa (Soprano), Milowsor (Alt), Slatogor (Bariton)

Chor, Statisterie
Kinder, Kinderfrauen, Gouvernanten, Ammen, Spaziergänger, junge Damen, ältere Frauen, junge Herren, ältere junge Damen und Herren, als Schäfer verkleidete junge Männer und Mädchen, Gefolge Slatogors, Diener, Pagen, Erscheinung am Fenster, Zimmermädchen und Gefolge der Gräfin, Gäste in der Spielbank

Ballett
Amor, Hymen, Schäferinnen, Schäfer

Ort und Zeit
St. Petersburg, Ende des 18. Jahrhunderts.

Zusammenfassung der Handlung
I. Akt, 1. Bild, kleiner Platz im „Sommergarten“: Unter den Spaziergängern, die den schönen Frühlingstag genießen, befinden sich auch die Offiziere Tschekalinski und Surin; sie sprechen über das seltsame Verhalten ihres Kameraden German, der seine ganze Zeit im Spielkasino zubringt, ohne jedoch selbst zu spielen. Seinem Freund Graf Tomski gesteht German, daß er leidenschaftlich verliebt sei, den Namen seiner Angebeteten aber nicht kenne; er wisse nur, daß sie als Adlige für ihn unerreichbar sei. Fürst Jelezki tritt zu den Offizieren, um ihnen seine Verlobte Lisa vorzustellen, die sich in Begleitung ihrer Großmutter, der alten Gräfin, unter den Spaziergängern befindet. Zu seinem Entsetzen erkennt German in Lisa seine heimliche Liebe. Auch Lisa fühlt sich von Germans leidenschaftlichen Blicken seltsam berührt, während die Gräfin bei seinem Anblick von düsteren Vorahnungen befallen wird. Als die Damen mit Jelezki weitergehen, machen sich die Offiziere über die alte Frau lustig. Tomski erzählt die Geschichte der Gräfin, die in ihrer Jugend in Paris als „Venus von Moskau“ Furore machte, jetzt aber von allen nur noch „Pik-Dame“ genannt wird, da sie zu jener Zeit der Spielleidenschaft verfallen war. Für den Preis eines Rendezvous erfuhr sie von einem französischen Grafen drei Karten, die sicheren Sieg bedeuten. Zweimal hat sie bisher das Geheimnis dieser Karten weitergegeben, doch jedesmal drohte ihr danach eine seltsame Erscheinung, daß sie von dem dritten Mann, dem sie jenes Geheimnis verrät, einen tödlichen Schlag erhalten werde. German unterdessen ist fest entschlossen, von der Gräfin das Geheimnis der drei Karten zu erfahren, um so genug Geld zu gewinnen und Lisa Jelezki entreißen zu können. 2. Bild, Lisas Zimmer: Vergeblich versuchen Polina und ihre Freundinnen Lisa mit Gesängen und Tänzen aufzuheitern. Allein geblieben, gesteht sich Lisa ein, daß sie über ihre Verlobung mit Jelezki nicht glücklich ist, vielmehr fühlt sie sich immer mehr von German angezogen. Als dieser durch die geöffnete Balkontür tritt, um seine Angebetete ein letztes Mal zu sehen, ist Lisa erst nach einigem Zögern bereit, ihm ihre Liebe zu gestehen.

II. Akt, 1. Bild, Ballsaal: Auf einem Maskenball erklärt Jelezki Lisa sein aufrichtige Liebe und bringt die Hoffnung zum Ausdruck, daß sie, die ihm gegenüber immer reservierter erscheint, in ihm doch einen wahren Freund erkennen möge. Auch German, den Lisa herbestellte, erscheint auf dem Fest, bei dem als Intermezzo ein Schäferspiel zur Aufführung gelangt. Die Idee, mit Hilfe des Geheimnisses der drei Karten um Lisas willen zu Reichtum zu gelangen, ergreift immer mehr Besitz von German, so daß es für Tschekalinski und Surin ein leichtes ist, ihn zu verspotten. Als Lisa German einen Schlüssel zusteckt, mit dem er durch das Zimmer der Gräfin zu dem ihrigen gelangen kann, sieht er sich seinem Ziel nah, von der Alten das Geheimnis zu erfahren. Das Maskenfest erreicht unterdessen mit dem Auftritt der Zarin seinen Höhepunkt. 2. Bild, Schlafzimmer der Gräfin: German gelangt in das Zimmer der Gräfin. Beim Anblick ihres Porträts meint er zu spüren, daß ein gemeinsames unheilvolles Geschick sie beide verbindet. Als die Gräfin mit ihren Dienerinnen den Raum betritt, versteckt sich German. Während sie für die Nacht fertig gemacht wird, erinnert sich die Gräfin an das glanzvolle Leben in Paris. Nachdem sich das Personal zurückgezogen hat, tritt German aus seinem Versteck und fleht die Gräfin an, ihm um der Liebe willen das Geheimnis der drei Karten zu verraten. Doch die Gräfin schweigt. Als German eine Pistole zieht, um sie zum Sprechen zu bringen stirbt sie vor Schreck. Auf dem Lärm hin erscheint Lisa und muß voll Entsetzen feststellen, daß es German allem Anschein nach nur um die drei Karten ging und nicht um ihre gemeinsame Liebe.

III. Akt, 1. Bild, Germans Zimmer in der Kaserne: In einem Brief bittet Lisa German um eine Aussprache. German versucht zu schlafen. In ihm wird die Erinnerung an das Begräbnis der Gräfin wach. Da erscheint ihm ihr Geist, der ihn auffordert, Lisa zu heiraten, und ihm die gewinnbringenden Karten nennt: die Drei, die Sieben und das As. 2. Bild, winterlicher Kanal: Voll Angst wartet Lisa auf German. Doch als dieser kommt, muß sie erkennen, daß jetzt, wo er das Geheimnis der Karten erfahren hat, die Spielleidenschaft vollends von ihm Besitz ergriffen hat, so daß er selbst Lisa nicht mehr erkennt. In ihrer Verzweiflung geht sie ins Wasser. 3. Bild, Spielbank: Beim Kartenspiel macht German große Gewinne, als er auf die Drei und die Sieben setzt. Zu einem dritten Spiel ist nur noch Jelezki bereit, der sich an German wegen der Auflösung seiner Verlobung mit Lisa rächen will. German setzt alles auf das As, doch er hat die Pik-Dame. Im Wahn erscheint ihm nochmals die Gräfin, von der er glaubt, daß sie sein Leben fordere. Er erschießt sich. (aus: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Bd. 6, S. 346 f.)

 

Bradford Robinson, 2009

 

 

Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen.