Richard Wagner
(geb. Leipzig, 22. Mai 1813 - gest. Venedig, 13. Februar 1883)

Frühe Chorwerke

“Der Tag erscheint” (WWV 68a/b)
“Im treuen Sachsenland” (WWV 71)
An Webers Grabe (WWV 72)
Neujahrs-Kantate (WWV 36)
Nicolai: Volkshymne (WWV 44)

Vorwort
Bei den in diesem Band versammelten Chorwerken handelt es sich um Jugendwerke, was im Falle des Spätzünders Wagner heisst, dass sie alle zwischen seinem 22. und 32. Lebensjahr entstanden. Einige wurde für besondere Anlässe in Auftrag gegeben, andere verliehen den Gefühlen des Komponisten spontan Ausdruck, ein weiteres stellt eine musiktheatralische Routinearbeit dar. Allesamt jedoch legen sie Zeugnis davon ab, wie Wagner aus der Erfahrung weiter dazulernte, wie er die ersten Anzeichen des Erfolgs genoß und wie er schon damals mit dem gleichen Einsatz ans Werk ging, den er später bei der Entstehung seiner großen Meisterwerke an den Tag legen sollte. Tatsächlich fand in einem Falle (WWV 71) die Musik Eingang in eines seiner Meisterwerke.

Der Männerchor “Der Tag erscheint, der uns Ihn wiedergab” (WWV 68a) für vier Chorstimmen (TTBB) ohne instrumentale Begleitung entstand zur feierlichen Enthüllung eines Denkmals für den sächsischen König Friedrich August I. (1750-1827), der sein Königreich über mehr als ein halbes Jahrhundert lang regierte und – nicht gerade erfolgreich – durch die Umwälzungen der Napoleonischen Kriege führte, infolge deren das Königreich Sachsen bekanntlich fast die Hälfte seines Territoriums verlor. Als zweiter sächsischer Kapellmeister wurde Wagner beauftragt, den von einem gewissen Christoph Christian Hohlfeld gedichteten Text als Gelegenheitsstück zu vertonen. Das Werk entstand im Mai 1843 und wurde am 7. Juni des gleichen Jahres bei der Enthüllung des Monuments von einem unbegleiteten Männerchor uraufgeführt. Etwa um die gleiche Zeit entstand auch eine zweite Fassung mit hinzugefügtem Bläsersatz (vier Hörner, vier Trompeten, drei Posaunen und eine Kontrabaßtuba), über die nichts weiteres bekannt ist und die am Ende des vorliegenden Bandes der Vollständigkeit halber abgedruckt wird.

Ein Jahr später entstand unter gänzlich anderen Umständen das Chorwerk “Im treuen Sachsenland” (WWV 71) für vierstimmigen Männerchor (TTBB) und Blasorchester. Komponiert wurde das Werk erneut für einen Sachsenkönig – Friedrich August II. (1797-1854) –, diesmal jedoch gab es keinen besonderen Anlaß und keinen offiziellen Auftrag: Wagner schrieb sowohl den Text als auch die Musik im August 1844 als spontanen Ausdruck seiner Zuneigung gegenüber dem vom Volk vielgeliebten Monarchen – und wahrscheinlich auch, um bei jenem einen Stein im Brett zu haben. Dadurch zog sich der Komponisten jedoch den Zorn seines Vorgesetzten zu, des Theaterleiters Baron Lüttichau sowie des ersten Theaterkapellmeisters Karl Reissiger, die beide zu diesem Zeitpunkt verreist waren und sich vom jungen Emporkömmling aus Leipzig deutlich hintergangen fühlten. Die doplimatischen Fähigkeiten Wagners wurden auf eine harte Probe gestellt: Um das heikle Problem zu lösen, übertrug er an Reissiger die musikalische Leitung der Uraufführung, während er selber unter den Tenoristen sang. Die Aufführung, die am 12. August 1844 in Pillnitz bei Dresden anläßlich der Rückkehr des Königs nach einem Englandbesuch stattfand, wurde von nicht weniger als 300 männlichen Chorsängern und 120 Instrumentalisten bestritten. Der König zeigte großen Gefallen am neuen Werk, das auf seinem Geheiß gleich wiederholt werden mußte, während die Königin die diplomatische List mitmachte, indem sie Wagners Leistung als „sehr gut komponiert“, Reissigers hingegen als „sehr gut dirigiert“ gesondert pries. Der Baron Lüttichau, der die allgemeine Zufriedenheit aller erkannte, schloß – vorübergehend – Frieden mit seinem hitzköpfigen zweiten Kapellmeister. Später hielt Wagner mit großer Ausführlichkeit die Umstände dieses Ereignisses in seiner Autobiographie Mein Leben fest, wobei er den Tagbeschrieb als „der schönste Sommertag, dessen ich mich in meinem Leben erinnern kann“. Zwei melodische Einfälle aus diesem Chorwerk, das schließlich den etwas pompösen Titel Gruß seiner Treuen an Friedrich August den Geliebten bei seiner Zurückkunft aus England, den 9. August 1844 erhielt, fanden Eingang in die gleichzeitig entstandene Partitur des Tannhäuser: der Große Marsch und die Vertonung der Worte „Sei mir gegrüsst“ in der „Hallenarie“ der Elisabeth. Zu diesem Chorwerk gibt es auch eine vom Komponisten angefertigte Fassung für Gesang und Klavier, die jedoch in unseren Band nicht aufgenommen wurde.

Der Chor An Webers Grabe (WWV 72) für vier unbegleitete Männerstimmen (TTBB) entstand im frühen November 1844 zu einem Anlaß, der für Wagner eine besondere Herzensangelegenheit darstellte und zu dem er selber maßgeblich beigetragen hatte: die Überführung der sterblichen Reste Carl Maria von Webers von London nach Dresden, wo der große Komponist bis zu seinem frühen Tod in London im Jahre 1826 als musikalischer Leiter des Hoftheaters amtiert hatte. Auch hier schrieb Wagner nicht nur die Musik, sondern auch den Text („Hebt an den Sang, ihr Zeugen dieser Stunde“). Zur Begräbnisfeier, die am Abend des 14. Dezember 1844 in Dresden stattfand, ertönte eine Trauermusik (WWV 73), die Wagner besonders zu diesem Anlaß komponiert hatte. Am darauffolgenden Tag, dem 15. Dezember 1844, hielt er eine bewegende Rede, die er ausnahmsweise auswendig gelernte hatte, und dirigierte die Uraufführung seines neuen Chorwerks, über das er später berichtete, es sei „sehr schwierig für Männergesang, unter der Anführung unsrer besten Theatersänger aber sehr schön ausgeführt“ worden.

Die Neujahrskantate “Wir nahen mit frohen Gesängen” (WWV 36) für vierstimmigen gemischten Chor und Orchester (mit Bläsergruppe auf der Bühne) entstammt einer früheren Schaffensperiode Wagners, als er bei einer Theatertruppe in Magdeburg als Kapellmeister angestellt war. Der Leiter dieser Truppe, Wilhelm Schmale, hatte zur Feier des neuen Jahres 1835 einen allegorischen Einakter mit dem Titel Beim Antritt des neuen Jahres geschrieben, zu dem der 21jährige Wagner ohne grosse Vorwarnung die Aufgabe erhielt, hierzu passend fünf neue Musiksätze zu komponieren. Die Begleitumstände werden in seinem Brief vom 17. Dezember 1834 an seinen Jugendfreund Theodor Apel lebhaft, wenn auch etwas atemlos dargestellt: „Nun aber höre: – bis zu Neujahrstag – also künftigen Donnerstag, mußt auch Du da sein; – denn es wird Dir doch auf jeden Fall Spaß machen, ein Festspiel, von mir komponiert und von Schmale gedichtet, – aufgeführt zu sehen: – ich habe deshalb jetzt zu tun, daß ich nicht weiß, womit ich anfangen soll. Es sind im ganzen fünf Nummern; – eine große Ouvertüre, die ich in 1 ½ Stunde gemacht habe, und Chören und allegorischen Musiken, die ich in einem Vormittage gemacht habe; – ich bekam nämlich erst vorgestern den Auftrag; – so schlecht es nun auch ausfallen sollte, so ärgere ich mich doch genug, daß es noch gut ausgefallen ist; – nur muß ich jetzt noch alles instrumentieren.“

Nach der Uraufführung, die am Neujahrstag 1835 im Magdeburger Theater planmäßig stattfand, wandte sich Wagner anderen Aufgaben zu und scheint die ganze Angelegenheit mehr oder minder vergessen zu haben. Zu seinem 60. Geburtstag jedoch überraschte ihn sein Freund und zeitweiliger Adlatus Peter Cornelius mit einer Neufassung der Neujahrskantate, die nun als „gereimter Roman“ mit von Cornelius neuverfaßtem Text und einer optischen Umrahmung von Lebendbildern aufgeführt wurde. Und im gleichen Jahr – am 27. Januar 1873 – hat der ebenso sentimentale wie egoistische Komponist nach knapp 40jähriger Abwesenheit dem vergreisten Schmale einen Besuch abgestattet und dabei entdeckt, daß der mittlerweile 84jährige immer noch als Theaterleiter aktiv war.

Die „Volkshymne“ Nikolai für Solotenor (oder -sopran), vierstimmigen gemischten Chor und großes Orchester (WWV 44) entstand im Herbst 1837 zur Feier des Namenstags des russischen Zaren Nikolai. Zu diesem Zeitpunkt fungierte Wagner als musikalischer Leiter des Stadttheaters der lettischen Hauptstadt Riga, die damals zum russischen Reich gehörte. Auch dieses Chorwerk wurde Wagner offiziell in Auftrag gegeben, wurde jedoch bei der Rigaer Uraufführung am 21. November 1837 derart erfolgreich aufgenommen, daß es Jahre danach zum gleichen Anlaß wiederholt wurde. In seiner Autobiographie äußerte sich Wagner später nicht ganz ohne Stolz auf seine jugendliche Leistung: „Für den Namenstag des Kaisers Nikolaus ward mir die Komposition einer von Brackel gedichteten ‚Nationalhymne‘ übertragen, welcher ich eine möglichst despotisch-patriarchalische Färbung zu geben suchte und damit nicht weniger Ruhm einlegte, da sie alljährlich am gleichen Tage eine Zeitlang wiederholt aufgeführt wurde.“

Auch im späteren Leben vergaß der Komponist das Auftragswerk nicht: Am 11 September 1880 spielte und sang er das Werk seiner Frau Cosima während eines Abends vor, den er vorwiegend verschiedenen Volkshymnen widmete, wobei jedoch Nikolai in nächster Nähe des Marseillaise anscheinend etwas an Glanz verlor.

Bradford Robinson, 2008

 

Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Richard Wagner
(b. Leipzig, 22 May 1813 - d. Venice, 13 February 1883)

Early Choruses

“Der Tag erscheint” (WWV 68a-b)
“Im treuen Sachsenland” (WWV 71)
An Webers Grabe (WWV 72)
New Year’s Cantata (WWV 36)
Nicolai: National Anthem (WWV 44)

Preface
The choruses in this volume were all composed in Wagner’s youth, which in his case, being a slow starter, means between the ages of twenty-one and thirty-one. Some were commissioned for special occasions, others were spontaneous expressions of personal feelings, and still others were theatrical hackwork. All reveal the composer learning from experience, savoring the first vestiges of success, and generally throwing himself into his profession with the same alacrity that he would later apply to his great masterpieces for the musical stage. Indeed, in one case (WWV 71), the music actually found its way into one of those masterpieces.

“Der Tag erscheint, der uns Ihn wiedergab” (“The day appears that gave Him back to us,” WWV 68a), for a cappella men’s chorus (TTBB), was written for the unveiling of a monument to King Friedrich August I of Saxony (1750-1827), who ruled his kingdom for over half a century and steered it, not exactly successfully, through the turmoil of the Napoleonic Wars, in the aftermath of which Saxony lost almost half its territory. The words were written by Christoph Christian Hohlfeld, and Wagner, as deputy Saxon Kapellmeister, was officially commissioned to set them to music as a pièce d’occasion. The chorus was composed in May 1843 and premièred at the unveiling of the monument on 7 June of that same year. At the première the piece was performed by unaccompanied male voices, but a second version, probably written about the same time, calls in addition for four horns, four trumpets, three trombones, and a contrabass tuba. This version (WWV 68b), of which nothing further is known, is reproduced at the end of our volume for the sake of completeness.

“Im treuen Sachsenland” (“In the loyal land of Saxony,” WWV 71), for male chorus (TTBB) and wind orchestra, arose one year later under quite different circumstances. Once again the recipient was a Saxon king, Friedrich August II (1797-1854), but this time there was no special occasion and no official commission: Wagner wrote both the words and music in August 1844 as a spontaneous expression of his affection for the much-loved monarch - and probably to keep himself in his royal employer’s good graces. In doing so he incurred the wrath of his immediate superior, the theater director Baron Lüttichau, and the theater’s principal conductor Karl Reissiger, both of whom were away at the time and found themselves high-handedly sidestepped by the young upstart from Leipzig. Wagner’s diplomatic skills were put to a severe test, and he solved the delicate problem by asking Reissiger to conduct the première and by consigning himself to the tenor section. The performance, given in Pillnitz near Dresden on 12 August 1844 to mark the king’s return from a visit to England, involved no fewer than three-hundred male singers and one-hundred-twenty wind players. The king was hugely pleased, even asking for the work to be encored, and the queen went along with the diplomatic ruse by praising Wagner for “composing so well” and Reissiger for “conducting so well.” Baron Lüttichau, seeing everyone content and placated, basked in the success and made his peace with Wagner - temporarily. Later Wagner, writing in his autobiography My Life, described the circumstances surrounding this event in great detail and referred to the day itself as “the most beautiful summer day that I can recall in my life.” Two melodic ideas from the chorus, which was given the grandiose title Greeting to the Beloved Friedrich August from his Loyal Subjects on the Occasion of his Return from England on 9 August 1844, found their way into the score of Tannhäuser: the Grand March, and the music to “Sei mir gegrüsst“ from Elisabeth’s “Hall of Song” aria. The chorus also exists in Wagner’s own version for voice and piano which, however, is not included in our volume.

An Webers Grabe (“At Weber’s Grave,” WWV 72), for a capella male chorus (TTBB), was written in early November 1844 for an occasion especially dear to Wagner’s heart, and one which he himself had done much to bring about: the removal of Carl Maria von Weber’s mortal remains from London and his reburial in Dresden, where the great composer had served as principal conductor at the Court Theater before his untimely death in London in 1826. Once again Wagner wrote not only the music but the words (“Lift up your voices, ye witnesses to this hour”). The burial ceremony itself took place in Dresden on the evening of 14 December 1844, accompanied by a funeral dirge composed by Wagner especially for the occasion (WWV 73). On the next day, 15 December 1844, Wagner held a moving address, which, unusually for him, he had committed entirely to memory, and conducted his new chorus, which he called “very difficult for men’s voices, but very well performed under the leadership of the best singers from our theater.”

The New Year’s Cantata “Wir nahen mit frohen Gesängen” (“We approach with cheerful songs,” WWV 36), for four-voice mixed chorus and orchestra with on-stage wind band, dates from an earlier period in Wagner’s career when he was employed by a theater company in Magdeburg. The company’s director, Wilhelm Schmale, produced a one-act allegorical play entitled Beim Antritt des neuen Jahres to ring in the New Year 1835, and the twenty-one-year-old Wagner suddenly found himself burdened with the task of having to compose five numbers for it on very short notice. He breathlessly described the circumstances in a letter of 17 December 1834 to his boyhood friend Theodor Apel: “Now listen closely: - you also have to be here by New Year’s Day - that is, this coming Thursday; - for you’re sure to have fun watching a performance of a festival play with music by me and words by Schmale: - so now I’ve got so much to do that I don’t know where to begin. There are five numbers altogether; - a large overture that I turned out in an hour and a half, and choruses and allegorical pieces that I polished off in the course of a morning; - you see, I only received the commission the day before yesterday: - as poor as it should have turned out, I was so angry that it turned out well after all; - except that now I have to orchestrate the whole lot of it.”
The performance duly took place on New Year’s Day 1835, after which Wagner went on to other things and more or less forgot the whole affair. But on his sixtieth birthday his friend and sometime amanuensis Peter Cornelius surprised him with a version of the New Year’s Cantata decked out with new words by Cornelius himself to form a “rhymed novel,” performed to the visual accompaniment of tableaux vivants. And on 27 January 1873 Wagner, a man as sentimental as he was egoistic, paid an emotional visit after a forty-year absence to the aged Schmale, now eighty-four years old but still an active theater director.

Nicolai, for solo tenor (or soprano), mixed four-voice chorus, and large orchestra (WWV 44), was composed in autumn 1837 as a “national anthem” for the name-day of Tsar Nicholas of Russia during Wagner’s brief period in the Latvian city of Riga, which then belonged to the Russian Empire. Once again the work was written to fulfill a commission, but the première, given in Riga on 21 November 1837, was successful enough that the chorus was performed for years thereafter to mark the same occasion. Wagner later described it in his autobiography with a tinge of pride in his youthful accomplishment: “For the name-day of the Emperor Nicholas, I was handed a poem by [Harald von] Brackel to be set to music as a ‘national anthem.’ I sought to give the piece the strongest possible despotic and patriarchal coloring and thereby instilled into it no small amount of fame, for it was performed repeatedly every year on the same day for some time therafter.”

Nor did Wagner forget the piece in his later years: on 11 September 1880 he played and sang it at the piano to his wife Cosima during an evening devoted to national anthems, when it apparently paled somewhat alongside the Marseillaise.

Bradford Robinson, 2008

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.