Max Reger (geb. Brand, 19. März 1873 – gest. Leipzig, 11. Mai 1916)

Arcangelo Corelli (geb. Fusignano, 17. Februar 1653 - gest. Rom, 8. Januar 1713)

Hubert Léonard (geb. Bellaire bei Liège, 7. April 1819 - gest. Paris, 6. Mai 1890)

Arcangelo Corelli

Variations on La Folía für Solovioline und Klavier bzw. Orchester bearbeitet von Hubert Léonard

Neuinstrumentiert von Max Reger

 

Vorwort

Max Reger starb an einem Herzinfart im relativ frühen Alter von 44 Jahren. Die Nachwelt tat sich nicht schwer, die eigentliche Todesursache festzustellen: Überarbeitung. Teils wegen der finanziellen Belastung durch seine junge Familie, teils wegen der Verachtung durch seine Verwandten, die ihn für einen exzentrischen Versager hielten, teils auch angetrieben von einem drängenden Bedrüfnis, seine überschäumenden musikalischen Gedanken zu Papier zu bringen (und durch unermüdliche Reisetätigkeit zu verbreiten), schuf er ein grosses musikalisches Ouevre, das heute – fast ein Jahrhundert nach seinem Tod – immer noch nicht vollständig gesichtet und gewürdigt ist. So macht man die überraschende Entdeckung, daß dieses riesige Gesamtwerk eine immense Anzahl an Bearbeitungen der verschiedensten Art birgt: Klavierauszüge, vierhändige Bearbeitungen, Orchestrierungen von Opern, desgleichen von Klavierliedern (u.a. von Schubert, Schumann, Brahms, Grieg und Wolf), zusätzliche Violinstimmen zu den Klaviersonaten Mozarts und den Klaviersonatinen Clementis, Orgelfassungen von Orchesterwerken, Orchesterfassungen von Orgelwerken und immer wieder Bach – die Brandenburgischen Konzerte und die vier Orchestersuiten für Klavier zu vier Händen, die Französischen und Englischen Suiten für Orchester, Orgelchoräle für diverse Instrumentalbesetzungen sowie merkwürdigerweise eine zusätzliche dritte Stimme zu den Inventionen, die diese zweistimmigen Kompositionen in dreistimmige Triosonaten verwandelt. Versteckt in dieser teilweise noch unerschlossenen Schatztruhe befindet sich auch die vorliegende Orchesterbearbeitung der berühmten Variationen Arcangelo Corellis über das beliebte Baßmuster der Renaissancezeit: La Folía.

Ursprünglich bildeten die 22 Variationen d-Moll über La Folía das Schlußwerk der 12 Sonaten für Violine und Basso continuo, die Corelli 1700 im Rom als sein Opus 5 privat veröffentlichte Als der wohl größte Geiger seiner Zeit war es Corellis besonderes Anliegen, die „Violine gebührend zur Schau zu stellen“ – wobei er vorwiegend sein eigenes technisches Können im Auge hatte – , und schuf dabei ein Werk, das seinerzeit als unübertrefflicher Gipfel der modernen Geigentechnik galt. Nach Angaben des Komponisten bereitete ihm die Komposition dieses Variationensatzes eine besondere Freude und das Ergebnis eine besondere Genugtuung; seine geigenden Kollegen dürften jedoch das Werk mit kaum verhohlenem Schrecken betrachtet haben. Im 19. Jahrhundert jedoch hatte sich jedoch die Kunst des Violinspiels derart fortentwickelt – und die Variationenform in den Händen der deutschen Sinfoniker derart verwandelt –, daß die ursprüngliche Fassung Corellis kaum mehr repertoirefähig erschien. Das Werk bedurfte der Erneuerung.

Hier trat Hubert Léonard (1819-1890) auf den Plan: Professor für Violinspiel am Brüsseler Konservatorium, ehemaliger Schüler von Mendelssohn, Mitgründer (mit Henri Vieuxtemps) der französisch-belgischen Schule, die das Violinspiel bis weit ins 20. Jahrhundert beherrschte. Léonard besorgte eine Bearbeitung von Corell’s Variationen über La Folía (die er nun in Anlehnung an Mendelssohn als “variations sérieuses“ bezeichnete), die seinerzeit als maßgebend galt und im Violinrepertoire noch heute zu finden ist. Bei dieser Fassung handelt es sich jedoch um eine umfassende Romantisierung des Corellischen Originals: Viele Variationen (vor allem diejenigen, die vorwiegend aus Figurenwerk bestehen) wurden ersatzlos gestrichen, andere wurden aneinandergehängt, um größere Spannungsbögen zu erzeugen, und manchmal wurden sogar frei erfundene Nebenstimmen der Begleitung zugewiesen, um einen Dialog mit dem Solisten zu schaffen. Vor allem aber schrieb Léonard eine lange Solokadenz im Stile der Hochblüte der musikalischen Romantik: Quadrupelgriffe, thematisch-motivische Arbeit, Sechstparallelen mit Trillern, Bariolage und viel anderes mehr, wobei anschließend das ursprüngliche Thema angehängt wurde, um dem Werk eine abschließende Wirkung zu verleihen. Die Bearbeitung atmet die gleiche Luft wie die Mozart-, Verdi- und Schubert-Paraphrasen Liszts und verwandelt das Original Corellis in ein Vehikel fürs Virtuosentum im Sinne des 19. Jahrhunderts.

Die Bearbeitung Léonards wurde 1877 mit Begleitung für Orchester bzw. Klavier von Musikverlag B. Schott Frères in Brüssel und Mainz veröffentlicht. Im Jahre 1913 beschloß der Verlag – wohl um seine erschöpften Lagerbestände aufzustocken –, eine neue Orchesterfassung zu verlegen, und verstand es, Max Reger für das Projekt zu gewinnen. Die neue Orchesterbearbeitung entstand im Mai 1914, das Ergebnis erschien im gleichen Jahr beim Brüsseler Verlag Schott als “Nouvelle Edition, revue et doigtée par Issay Barmas / Orchestré par Max Reger.” Regers Bearbeitung, die eine Besetzung für zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Fagotte, zwei Pauken und Streicher vorsieht, öffnet mit einer schlichten Streichertranskription von Léonard’s Aussetzung des Generalbasses Corellis. Es dauert jedoch nicht lange, bis die Bearbeitung in den raffinierten Orchestereffekten und Spielanweisungen schwelgt, die die eigene Orchestermusik Regers kennzeichnet: ausgeklügelte Pizzicatoeffekte, geteilte Streicher, eine differenzierte Reduzierung des Orchesterapparats (man beachte etwa den Anfang der 3. Variation: vier erste Geigen, zwei gedämpfte zweite Geigen, drei Bratschen sowie das ganze Kontingent an Kontrabässen!) und viele neukomponierte Nebenstimmen und Begleitfiguren, um die kontrapunktische Faktur zu bereichern. Im weiteren Verlauf des Stückes nehmen die Variationen über La Folía allmählich die Gestalt und den Anspruch von Regers eigenen großangelegten Variationswerken an: die Variationen und Fuge über ein Thema von J. A. Hiller op. 100 (1907) oder die genau gleichzeitig entstandenen Variationen über ein Thema von Mozart op. 132 (1914).

Die weitere Geschichte der Variationen über La Folía von Reger/Corelli/Léonard bleibt weitgehend im Dunkeln: Das Datum der Uraufführung ist unbekannt, ebenfalls der Name des Künstlers, für den die Bearbeitung eventuell geschrieben wurde, eine Platteneinspielung gibt es bis heute nicht. Es existiert nicht einmal ein Briefwechsel zwischen Reger und der Firma Schott, um die Entstehungsgeschichte der Bearbeitung zu durchleuchten. Dennoch: Dank der Bemühungen des Max-Reger-Instituts Karlsruhe (der Verfasser dieses Vorworts ist dem wissenschaftlichen Assistent des Reger-Instituts, Dr. Jürgen Schaarwächter, für hilfreiche Informationen zum Dank verpflichtet) wurde die Bearbeitung Regers wiederbelebt und 2006/2007 an der Musikhochschule Karlsruhe erneut aufgeführt. Die vorliegende Studienpartitur soll das Interesse an dieser historischen Kuriosität wecken und zugleich die Arbeit eines der Meister der Orchestrie-rungskunst im frühen 20. Jahrhundert ins Licht rücken.

Bradford Robinson, 2008

 

 

Aufführungsmaterial ist von Schott, Mainz zu beziehen.

 

 

Max Reger (b. Brand, 19 March 1873 - d. Leipzig, 11 May 1916)

Arcangelo Corelli (b. Fusignano, 17 February 1653 - d. Rome, 8 January 1713)

Hubert Léonard (b. Bellaire nr. Liège, 7 April 1819 - d. Paris, 6 May 1890)

Arcangelo Corelli Variations on La Folía Arranged for solo violin and piano or orchestra by Hubert Léonard Re-orchestrated by Max Reger

 

Preface

Max Reger died of a heart attack at the relatively early age of forty-three, and posterity has had no trouble diagnosing the true cause of his death: overwork. Partly from the financial pressure of having to support a young family, partly from the disapproval of his relatives, who regarded him as an eccentric failure, and partly from an innate need to put his musical thoughts continually down on paper (and to proselytize it in endless concert tours), he produced a huge body of music that is still being sifted and assessed today, almost a century after his death. All the more surprising, then, to find, hidden in this voluminous oeuvre, an equally huge body of arrangements of the most varied sort. They include piano reductions, four-hand arrangements, orchestrations of operas, the same of lieder (by Schubert, Schumann, Brahms, Grieg, and Wolf), extra violin parts for Mozart’s piano sonatas and Clementi’s sonatinas, organ arrangements of orchestral works, orchestral arrangements of organ works, and over and over again Bach: the Brandenburg Concertos and the Orchestral Suites for piano four-hands, the French and English Suites for orchestra, organ chorales for diverse combinations of instruments, and, curiously, added voices for the Inventions, turning these quintessentially two-voice works into exercises in the trio sonata. Tucked away among this undigested wealth of music is the present orchestral arrangement of Arcangelo Corelli’s famous set of variations on the Renaissance bass pattern, La Folía.

Corelli’s original set of twenty-two variations, in D minor, forms the final work of his Twelve Sonatas in D minor for violin and basso continuo, published privately as op. 5 in Rome in 1700. Being perhaps the greatest violinist of his day, Corelli was intent on “showing off the violin” - meaning more specifically his technical mastery of the instrument - and produced a piece that was regarded, in its time, as the ne plus ultra in advanced violin technique. Corelli himself confessed that its composition gave him much pleasure and he was highly satisfied with the result; contemporary violinists may well have found it daunting in the extreme. By the nineteenth century, however, violin playing had advanced to such a degree, and variation form had undergone such changes at the hands of German symphonists, that Corelli’s original piece could no longer hold its place in the repertoire. Something new was required.

Enter Hubert Léonard (1819-1890), a professor of the violin at Brussels Conservatory, a student of Mendelssohn, and together with Henri Vieuxtemps a founder of the Franco-Belgian school that dominated violin playing until well into the twentieth century. Léonard produced an arrangement of Corelli’s Variations on La Folía (now called “variations sérieuses“ in deference to Mendelssohn) that became definitive for its time and still survives in the violin repertoire today. But it was a heavily romanticized version of Corelli’s original: many variations were dropped entirely (especially those that thrived on pure figuration), others were elided to generate forward motion, two were spliced together to create a single variation, and sometimes a melody line was added to the bass to create a dialogue between soloist and accompaniment. But most of all there was a long, freely invented cadenza in the ripest romantic style, including quadruple stops, motivic development, trilled parallel sixths, bariolage, and much else besides, with the original theme tacked on at the end to provide a sense of conclusion. It was an arrangement in the spirit of Liszt’s paraphrases of Mozart, Verdi, and Schubert, and it turned Corelli’s original piece into a vehicle for the nineteenth-century travelling virtuoso.

Léonard’s arrangement was published with an accompaniment either for piano or orchestra by B. Schott Frères of Brussels and Mainz in 1877. In 1913 the publishers, perhaps to renew their depleted stock, sought a new editor for the orchestral version, and Reger agreed to supply a new orchestration. He prepared it in May 1914, and the results were published that same year by Schott in Brussels in a “Nouvelle Edition, revue et doigtée par Issay Barmas / Orchestré par Max Reger.” Reger’s orchestration, for two flutes, two oboes, two bassoons, two timpani, and strings, begins with a straightforward string setting of Léonard’s realization of Corelli’s figured bass. Before long, however, it begins to revel in the fastidious orchestral effects and performance instructions that marked Reger’s own music for the orchestra: elaborate pizzicato effects, divided desks, carefully reduced forces (note the opening of Variation 3 for four first violins, two muted seconds, three violas, and all the double basses), and many fresh countermelodies and added figures in the orchestra to thicken the texture. As the music progresses, the La Folía Variations gradually take on the quality of Reger’s own massive Variations and Fugue on a Theme by J. A. Hiller, op. 100 (1907), or the exactly contemporary Variations on a Theme by Mozart, op. 132 (1914).

The subsequent history of Reger/Corelli/Léonard’s La Folía Variations is shrouded in obscurity: it is not known when the piece was first performed, or for which performer it might have been prepared, and it has never been recorded. There is no known correspondence between Reger and Schott to throw light on its gestation. However, thanks to the efforts of the Max Reger Institute in Karlsruhe (the author is especially grateful for helpful information supplied by its musicological assistant, Dr. Jürgen Schaarwächter), the arrangement has recently undergone a revival and was performed at the Karlsruhe Musikhochschule in 2006 and 2007. It is to be hoped that the present study score will renew interest in this historical curiosity and shed light on the work of one of the master orchestrators of the early twentieth century.

Bradford Robinson, 2008