Antonín Dvořák (geb. Mühlhausen, 8. September 1841 - gest. Prag, 1. Mai 1904)

Bagatellen op. 47

Maličkosti heißt die Suite von fünf Sätzen aus der Feder von Antonín Dvořák (1841-1904) im tschechischen Original. Bei diesen Miniaturen von je gut drei Minuten Spieldauer handelt es sich um „Hausmusik“ in jeder Hinsicht, sowohl was den Anlass ihrer Entstehung wie ihre Besetzung und ihre Struktur anbelangt, Hausmusik allerdings von erster Güte. Die Bagatellen op. 47, die im Thematischen Verzeichnis der Werke Dvořáks vom Jarmil Burghauser als B 79 erscheinen und oftmals unter dieser alternativen Kennung firmieren, sind Musik für den intimen, wenn vielleicht auch nicht notwenig privaten Rahmen.i Sie wurden erdacht für das eigene Spiel des Komponisten mit Freunden.

Typischen Dvořák und zugleich etwas völlig anderes bekommt man in diesen Sätzen geboten, die der Komponist im Jahr 1878 im Umfeld der ersten Sammlung Slawische Tänze op. 46 und dem Streichsextett A-Dur op. 48 komponierte. Denn einerseits begegnet man vielen der musikalischen Charakteristika, die gemeinhin mit dem Namen dieses Komponisten verbunden werden, in den Bagatellen auch einmal tatsächlich in extensiver Form: tänzerische Rhythmik, eingängige Melodik, Volksliedton, Spielwitz und attraktiver Streichersatz. Wie ein Beleg für das allzu oft herabwertend gebrauchte Klischeebild des „böhmischen Musikanten“ wirkt diese Beschreibung, jene Schablone, die das Gesamtschaffen dieses äußerst vielseitigen Künstlers beständig in einem weithin eingeschränkten Blickwinkel erscheinen lässt. Und fast paradigmatisch erweist sich dieses Rezeptionsproblem in jenen Miniaturen gebündelt, so es zwar einerseits allen Erwartungen an „Typischen Dvořák“ zu entsprechen scheint und doch eben eine singuläre Erscheinung in diesem auch kammermusikalisch äußerst umfangreichen Œuvre darstellt. Denn was dieses Werk aus jenem heraushebt, ist der Klang, der wesentlich auf die Besetzung zurückgeht: Die Bagatellen sind Musik für Quartett, bestehend aus zwei Violinen, einem Violoncello und – einem Harmonium.

Dvořák selbst spielte neben anderem Viola. In jüngeren Jahren hat er auf diese Weise auch als Orchestermusiker gearbeitet und seinen Lebensunterhalt verdient. In den 1870er Jahren war er Mitglied einer privaten Kammermusikvereinigung, wo er mit Freunden insbesondere Streichquartettliteratur spielte. Josef Srb-Debrnov, Cellist des Ensembles, in dessen Räumlichkeiten die Treffen stattfanden, besaß kein Klavier – dafür jedoch ein Harmonium. Hieraus ergab sich die Besetzung, in dem Dvořák auf sein Streichinstrument im Quartettsatz verzichtete und an dessen Stelle das Harmonium spielte. Eben diesen Part übernahm er auch bei der öffentlichen Uraufführung der Bagatellen am 2. Februar 1879 in Prag, die gemeinsam mit den Geigern Vorel und Lachner und dem Cellisten Neruda vonstatten ging. Die Komposition selbst war Anfang Mai 1878 erfolgt. Das Autograph verzeichnet den 12. Mai jenes Jahres als Tag der Vollendung.ii Die Bagatellen erschienen bereits im Jahr 1879 bei Dvořáks Verleger Simrock in einer Fassung für Klavier vierhändig, im Jahr darauf dann in der originalen Besetzung, wobei dem Interpreten das Klavier als Alternative zum Harmonium angezeigt wurde, sofern vorhanden jedoch letzteres zu verwenden sei.

Das Harmonium ist ein Instrument, das heute nur noch vergleichsweise selten in klassischen Konzerten zu hören ist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfreute es sich jedoch einer hohen Verbreitung und ausgesprochenen Beliebtheit. Der Begriff geht zurück auf Alexandre François Debain (1809-1877), einem französischen Instrumentenbauer. Er ließ im Jahr 1840 eine von ihm entwickelte Variante dieser Instrumentengattung auf diesen Namen patentieren. Rasch entwickelt sich die Bezeichnung darüber hinaus jedoch zum Ausdruck für alle Instrumente dieser Familie, gleichgültig bau- und klangtechnischer Unterschiede im Einzelnen. Gerade im französischen Sprachraum erlangte das Harmonium auch einige Aufmerksamkeit unter den Komponisten von Kunstmusik. So schrieben unter anderem César Franck, Camille Saint-Saëns und Louis Vierne hierfür Solowerke. Für die deutschen Lande sei etwa Max Reger genannt. Und noch Kurt Weills Originalpartitur zu Die Dreigroschenoper von 1928 sieht ein Harmonium vor. Hiernach begann die Verbreitung außerhalb des kirchlichen Milieus und der dortigen Verwendung als Orgelersatz langsam zurückzugehen. Noch mehr denn als Medium für die Schöpfung von Originalwerken wurde das Harmonium jedoch als Mittel für deren Darstellung unter häuslichen Bedingungen genutzt, was bedeutet, dass gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein enormer Markt an Bearbeitungen jedweder Art von Musik für dieses Instrument existierte, der quantitativ gesehen demjenigen für das Klavier durchaus nahe zukommen vermochte. Angesichts der weitgehenden Abstinenz des Harmoniums in heutigen Kammermusikkonzerten und der herrschenden Vorstellung, dass das 19. Jahrhundert das Zeitalter des Klaviers war, eine durchaus unerwartete Erkenntnis. Der Erfolgszug des Harmoniums lässt sich jedoch recht leicht nachvollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass dieses Instrument in den Anschaffungs- und Unterhaltskosten deutlich bescheidenere Anforderungen stellte. Aufgrund seiner ähnlichen Klanglichkeit wurde dem Harmonium in Arrangements symphonischer Musik für kleine Besetzungen dabei gerne der Bläsersatz übertragen. Ausgesprochener Beliebtheit erfreute sich auch die Kombination von Harmonium und Klavier.

Worauf diese Ausführungen hinweisen möchten, ist die Erkenntnis, dass Dvořáks Opus aufgrund seiner Besetzung von heutiger Warte aus betrachtet durchaus ein wenig exzentrisch wirken mag, diese Einschätzung jedoch in keiner Weise der Entstehungszeit der Bagatellen entspricht. Im übrigen ist festzustellen: Die Wahl der Instrumente für diese Sammlung von Miniaturen geht zwar auf einen äußeren Anlass zurück. Dennoch war Dvořák die Besetzung ausgesprochen wichtig, da er die klanglichen Möglichkeiten der drei Streicher in Gegenüberstellung zum Harmonium auf das Subtilste ausbalanciert hat. Das Harmonium tritt kaum einmal in den Vordergrund, grundiert die Streicherlinien jedoch mit einer klanglichen Atmosphäre, die für eine ausgesprochene individuelle musikalische Färbung in diesem Opus sorgt, mal an eine Orgel, mal an einen Bläsersatz und mal an ein Akkordeon erinnert. In moderner Terminologie gesprochen möchte man als zentrales Charakteristikum dieser Stücke herausstellen, dass das Besondere an den Maličkosti auf der Ebene des Sounds liegt. Aufgrund dessen verwahrte sich Dvořák auch gegen die jenen Aspekten missachtenden Absichten seines Verlegers Simrock. Dieser wollte nach der Erstausgabe 1879 für Klavier vierhändig im Folgejahr eine Quartettfassung herausgeben. Hierbei gedachte er jedoch, das Klavier anstelle des Harmoniums in den Vordergrund zu stellen, was jenes zu einer lediglich alternativ gemeinten Option degradiert hätte. Dvořák wies indessen Simrock gegenüber auf jene ausgewogene Struktur in der Werkkonzeption hin, die durch den Wechsel eines Instruments nicht unbeeinflusst bleiben könnte:

„Ich habe es gleich von allem Anfang an bedauert, daß Sie sich nicht schon damals für die Herausgabe der ‘Bagatellen’ in der Originalgestalt entschließen konnten. Ich bin natürlich vollkommen damit einverstanden, und glaube sehr, daß erst jetzt das Werk zu voller Geltung kommen wird. Nur wie Sie das wünschen, nämlich Pianoforte oder Harmoniumbegleitung, könnte ich mich nicht leicht entschließen. Würde ich eine neue Pianofortebegleitung machen, müßte sie jedenfalls eine mehr hervorragende Rolle spielen, dann müßte ich aber auch in den Streichinstrumenten vieles ändern. Das würde aber dem ganzen Werk eine andere Gestalt geben und würde es überhaupt schaden. So möchte ich ihnen folgendes vorschlagen. Wir lassen alles wie es ist und schreiben dann: ‘Bagatellen’ für 2 Violinen, Cello mit Harmonium oder Pianobegleitung. Es müßte also das Harmonium zuerst genannt werden, und wär’s dann an zweiter Stelle erst Fortepiano. Wem Harmonium zu Gebote steht, der soll’s spielen, wem nicht, geht’s mit Piano auch allein.“iii

Entsprechend haben die Ausführenden, die auf ein Klavier zurückgreifen müssen oder wollen, auf die sich hierdurch veränderte Klangbalance zu achten und das prägnantere, sich von den Streichern stärker abhebende Klavier mit Bedacht zu integrieren, um den Charakter des Werks zu erhalten.

Die Sätze I. Allegretto scherzando, III. Allegretto scherzando und V. Poco allegro zitieren alle ein tschechisches Volkslied, „Die Dudelsackmusikanten spielten in Poduba“. Wie eine Tanzsuite alten Stils entfalten sich auch die Bagatellen. Einzig der Satz IV. Andante con moto beruhigt den Reigen kurz. Seine Klanglichkeit ist dabei erstaunlich nah an den anderthalb Jahrzehnte später in den Vereinigten Staaten geschaffenen Werken wie dem Streichquartett F-Dur op. 96 oder dem Streichquintett Es-Dur op. 97. Dieses Exempel illustriert damit trefflich, wie sehr Dvořáks Schaffen entgegen der landläufigen Vorstellung in jenen, in seiner Rezeptionsgeschichte wohl populärsten Jahren 1892-1895, in die auch die Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 „Aus der Neuen Welt“ fällt, nicht zuvorderst durch den Kontakt mit dortigen Musikformen „amerikanisiert“ wurde. Viel mehr blieb sein Stil auch über jene Phase hinweg vor allem anderen konstant und zu aller erst „Dvořák“. Abgerundet wird die Suite von einem an zweiter Stelle stehendem Menuett, II. Tempo di minuetto, grazioso.

Frederic Döhl, 2008

 

i Jarmil Burghauser, Antonín Dvořák. Thematischer Verzeichnis, Bärenreiter, Prag 1996, S. 162. i Ebenda. ii Antonín Dvořák, Brief an Fritz Simrock vom 16. Februar 1880; zitiert nach: Klaus Döge, Dvořák. Leben, Werke, Dokumente, Atlantis, Mainz 1997, S. 364f.

 

For performance material please contact the publisher Supraphon, Prag.

Antonín Dvořák (b. Mühlhausen, 8. September 1841 - d. Prag, 1. Mai 1904)

Bagatelles, op. 47

Maličkosti: thus the original Czech title of this five-movement suite by Antonín Dvořák (1841-1904). These miniatures, each a good three minutes long, are Hausmusik in every respect, whether in their choice of instruments, their structure, or the occasion that gave rise to their existence, but they are Hausmusik of the very first order. Listed as “B 79” in Jarmil Burghauser’s thematic catalogue of Dvořák’s music and often identified by this alternative tag,i the Bagatelles are music for an intimate, though perhaps not necessarily private setting, having been conceived for performance by the composer and his friends.

These pieces, written in 1878 at roughly the same time as the first set of Slavonic Dances (op. 46) and the A-major String Sextet (op. 48), are at once typically Dvořákian and something entirely different. First of all, we indeed encounter, in large amount, many of the musical features commonly associated with this composer: dance rhythms, ingratiating melodies, folksong inflections, playful witticisms, and attractive string writing. This description almost stands surety for the (often pejorative) cliché of the “musicianly Bohemian,” a quip often used to squeeze the rich output of this extremely versatile composer into a convenient pigeonhole. The problem of Dvořák’s latter-day reception is virtually distilled into a paradigm in these miniatures, which seem to satisfy every expectation of the “typically Dvořákian” while being unique among his extremely protean oeuvre, even in its large body of chamber music. What singles this work out from the rest of Dvořák’s output is its sound, which basically derives from the choice of instruments: the Bagatelles are, namely, music for a quartet consisting of two violins, one cello, and – a harmonium.

Dvořák himself was a player of the viola, among other instruments. In his youth he played the viola in orchestras to earn his living. In the 1870s he joined a private chamber music society in which he played music, especially string quartets, with his friends. The ensemble’s cellist and host, Josef Srb-Debrnov, did not have a piano at his residence. But he was the owner of a harmonium, and it was this circumstance that led Dvořák to select his scoring and to abandon his string instrument in the quartet in favor of a harmonium. He also played the harmonium part in the first public performance of the Bagatelles, given in Prague on 2 February 1879 with Vorel and Lachner (violins) and Neruda (cello) on the other parts. The work itself was composed in early May 1878, with the autograph giving May 12th as its date of completion.ii That same year the Bagatelles were issued in print by Dvořák’s publisher Simrock in a version for piano four-hands. The original version followed a year later, with the option of using a piano in lieu of a harmonium, though the latter was to be preferred if available.

Although rarely heard today in classical concerts, the harmonium was very widespread and hugely popular in the latter part of the nineteenth century. The name was coined by Alexandre François Debain (1809-1877), a French instrument builder who patented a variant of this species of instrument under this name in 1840. The term soon became a portmanteau word for all the instruments in its family, notwithstanding their differences in sound and construction. The harmonium also attracted art composers, particularly in the French-speaking countries, where solo works were written for it inter alia by César Franck, Camille Saint-Saëns, and Louis Vierne, not to mention Max Reger in Germany. Even as late as 1928 Kurt Weill called for a harmonium in the original score of Die Dreigroschenoper. Thereafter its use outside of a church context, where it served in lieu of an organ, entered a gradual decline.

Yet the harmonium was less a vehicle for the creation of original works than a means for presenting them in a domestic context. Consequently, precisely in the latter half of the nineteenth century, there was a vast market for arrangements of all kinds of music for this instrument, a market that easily brooks comparison, in sheer quantity, with that for the piano. Given the general absence of the harmonium in today’s chamber music recitals, and the prevailing notion that the nineteenth century was the age of the piano, this is an unexpected discovery. Yet the harmonium’s triumphal progress can be easily imagined if we bear in mind that it was far more affordable than the piano in its purchase price and maintenance costs. Owing to the similar range of timbres, the harmonium was frequently entrusted with the brass writing in transcriptions of orchestral music for small ensembles. Equally popular was the combination of harmonium and piano. The gist of the above discussion is that Dvořák’s Bagatelles, owing to their choice of scoring, may well seem a bit eccentric from today’s vantage point, but that this view is thoroughly out of touch with the age in which they originated. Moreover, it should be noted that the choice of instruments for this collection of miniatures, though predetermined by the circumstances of their origins, was of great significance to Dvořák, for he had to balance the timbral potential of the three strings vis-à-vis the harmonium in the subtlest possible way. The harmonium rarely steps into the foreground, but undergirds the string lines with a timbral nimbus that lends this work a highly distinctive flavor, now recalling an organ, now a wind section, now an accordion. In modern terminology we might want to single out sound per se as the central feature of the Maličkosti. It was for this reason that Dvořák resisted the efforts of his publisher Simrock to underplay this sound. Simrock wanted the first edition of 1879, for piano four-hands, to be followed the next year by a quartet version in which, however, the main emphasis would fall on the piano rather than the harmonium, thereby relegating the latter instrument to the status of an ad libitum option. Dvořák drew Simrock’s attention to the balanced structure of the work’s conception, which could not remain unaffected by the change of instrument:

“From the very beginning I regretted that you did not decide to publish the Bagatelles in their original form. I am, of course, completely in agreement with [the original form], and firmly believe that it alone will present the work to full advantage. But I cannot readily consent to the way you want it, namely, with pianoforte or harmonium accompaniment. If I were to write a new pianoforte accompaniment, it would in any case have to play a more conspicuous role, in which case I would also have to alter many things in the strings. This would give the entire work a different shape, and damage it altogether. So let me make the following proposal. We’ll leave everything as it is and write ‘Bagatelles for two violins, cello, and harmonium or piano accompaniment.’ In other words, the harmonium must be mentioned first, with the pianoforte only coming second. Those who have a harmonium at hand should use it; if not, a piano alone will also do.”iii

Consequently, those performers who must, by force or inclination, resort to a piano should pay heed to the altered balance of timbre and judiciously integrate the more compact sound of the piano, in contrast to the strings, lest the work lose its character.

Movements I (Allegretto scherzando), III (Allegretto scherzando), and V (Poco allegro) all quote a Czech folk song entitled “The bagpipe musicians played in Poduba.” The Bagatelles also unfold in the manner of an old-fashioned dance suite. Only Movement IV (Andante con moto) adds a moment of repose to the dance. Its sonority is astonishingly similar to other Dvořák works written one-and-a-half decades later in the United States, especially the String Quartet in F major (op. 96) and the String Quintet in E-flat major (op. 97). This example aptly illustrates the fact that Dvořák’s music, contrary to a widely held belief, did not have to wait for his contact with American musical forms in 1892-5 – the most popular years in his subsequent historical reception, and those which also witnessed the “New World” Symphony No. 9 in E minor (op. 95) – in order to become “Americanized.” On the contrary, his style remained, above all else, constant and quintessentially “Dvořákian” throughout this period and beyond. Rounding off the suite, as Movement II, is a minuet marked “Tempo di minuetto, grazioso.”

Translation: Bradford Robinson

i Jarmil Burghauser: Antonín Dvořák: Thematischer Verzeichnis (Prague: Bärenreiter, 1996), p. 162. i Ibid.. ii Antonín Dvořák, letter of 16 February 1880 to Fritz Simrock, quoted from Klaus Döge: Dvořák: Leben, Werke, Dokumente (Mainz: Atlantis, 1997), pp. 364f.

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