Gabriel Pierné
(geb. Metz, 16. August 1863 – gest. Ploujean, 17. Juli 1937)

Introduction et variations sur une ronde populaire

Vorwort
Gabriel Pierné war ein vielseitiger und allseits kompetenter Musiker, der gleichermaßen als Dirigent, Organist und Komponist hohes Ansehen genoß. Während seiner Studienzeit am Pariser Conservatoire gewann er erste Preise jeweils im Alter von 16 (Orgelspiel), 17 (Harmonielehre) und 18 (Kontrapunktlehre) Jahren. Nach Grove Music Online1 wurde ihm 1882 auch der Prix de Rome für seine Kantate Edith verliehen. Allerdings fehlt der Name Gabriel Pierné im Beitrag “Prix de Rome” des gleichen Lexikons – vor allem im Verzeichnis der ehemaligen Preisträger,2 in dem der Preis fürs Jahr 1882 Georges-Eugene Marty zugewiesen wird. Scheinbar handelt es sich bei dieser Kantate um eine erfolgreiche Gemein-schaftskomposition von Pierné und Marty. Diese Vermutung wird auch durch einen Aufsatz von Mimi Segal Daitz bekräftigt, in dem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß “der Komponist und Dirigent Georges-Eugene Marty (1860 – 1908) zusammen mit Pierné am Conservatoire studierte und 1882 den Prix de Rome mit diesem zusammen gewann.”3 Offensichtlich bedarf diese Angelegenheit einer weiteren Untersuchung.

In den meisten Fällen dient die Verleihung des Prix de Rome, bei dem auch so bedeutsame Komponisten wie Berlioz und Debussy zu den ehemaligen Preisträgern zählen, als wichtiges Sprungbrett zu einer glänzenden Zukunft im Komponistenberuf. Später fühlte sich Pierné jedoch scheinbar eher von der Laufbahn eines Organisten und Dirigenten angezogen: Zwar gab er das Komponieren nie endgültig auf, jedoch fand er seine Haupttätigkeiten in anderen Gefilden. Indem er 1903 zum stellvertretenden Dirigenten, 1910 sogar zum Chefdirigenten der Concerts Colonne ernannt wurde, sah er sich verpflichtet, „wenigstens 48 verschiedene Konzertprogramme im Jahr vorzubereiten“4, was notgedrungen eine nicht unerhebliche Wirkung auf die ihm verbleibende Muße zum Komponieren hatte. Wichtig zu merken, - um mit der Musikwissenschaftlerin Katy Romanou zu sprechen -, ist, daß „der Dirigent Pierné als ausgesprochen großzügig den Komponisten gegenüber galt, und zwar nicht nur wegen der Zeit, die er der Einstudierung ihrer Werke widmete, sondern auch wegen der großen Anzahl der neuen Werke, die er in seine Konzertprogramme unterbrachte”.5 Um den Charakter Piernés gebührend umreißen zu können, sollte auch der Eindruck erwähnt werden, den er auf den jungen, in Paris ansäßigen griechischen Komponisten Manolis Kalomiris machte. Kalomiris, der 1924 damit beschäftigt war, ein Konzert seiner eigenen Orchesterwerke in Paris zu organisieren, schickte einige seiner Partituren an Pierné zur Durchsicht. Leider waren die Unkosten eines solchen Konzerts ziemlich hoch, und der junge Komponist mußte einsehen, daß sie seine finanziellen Möglichkeiten überstiegen. Als er Pierné zu Hause besuchte, um seine Partituren wieder abzuholen, lernte er ihn aus nächster Nähe kennen: „Als ich bei Pierné eintraf und diesen wunderbaren Musiker kennenlernte – als Komponist sowie als Mensch gleichermaßen großartig –, war ich zutiefst berührt …‘Ich habe Ihre Partituren studiert und finde sie überaus interessant‘ – so Pierné. ‚Ich verstehe, daß Sie eine so hohe Summe unmöglich aufbringen können, um ihr eigenes Orchesterkonzert zu organisieren. Ferner: Ich bin nicht der Meinung, daß ein solches Konzert Ihnen viel bringen würde. ... Warum erlauben Sie es mir nicht, einige Ihrer Werke in eines unser Konzerte mit dem Orchester der Concerts Colonne zu unterbringen? Es wird Sie nichts kosten und der Saal wird allein durch unsere Abonnenten ausverkauft sein.‘ Dieses Angebot des Maestro Pierné übertraf bei weitem meine wildesten Träume, und ich konnte kaum anders, als es zu akzeptieren und ihm meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.”6

Ein Jahr später orchestrierte Pierné die Erste Klavierrhapsodie von Kalomiris – ein Werk, das noch heute vorwiegend in der Orchesterfassung aufgeführt wird.

Was das vorliegende Werk Introduction et variations sur une ronde populaire betrifft, soll wohl am besten mit der offensichtlichen Tatsache begonnen werden, daß es sich um ein Werk für Saxophon-Quartett (Bariton-, Tenor, Alt- und Sopransaxophon) handelt. Die Variationenform, auf die das ganz Werk beruht, wird in verschiedenen Schichten aufgebaut. Außerdem scheint das Werk in einigen Stellen einer lockeren polyphonen Satzweise zu huldigen. Das thematische Hauptmaterial, das im Laufe des Werks immer wieder erneut aufgegriffen wird, wird in den ersten 30 Takten zum erstenmal dargestellt und im Laufe des Werks auf verschiedener Weise verarbeitet, wobei der Komponist oft neue Klänge aus bereits vorhanden Motiven „erfindet.“ Häufig verleihen Tempo- und Taktwechsel dem Werk ein romantisches Kolorit, das dieser Art von Musik durchaus angemessen erscheint. Ungefähr um die Mitte des einsätzigen Werkes scheint sich das musikalische Material zu verdichten. Ebenfalls erwähnenswert ist der Charakter der Modulationen, die an einigen Stellen zum Vorschein kommen. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß die Komposition eine beinahe impressionistische Qualität aufweist.

Keinesfalls sollte man die technischen Schwierigkeiten unerwähnt lassen, die den Aus-führenden der Introduction et variations sur une ronde populaire begegnen. Alle vier Stimmen scheinen gleichermaßen schwierig zu sein und verlangen den Musikern ein hohes Niveau an technischem Können ab, um den interpretatorischen Herausforderungen gerecht zu werden.

Translation: Bradford Robinson

1 Georges Masson, „Pierné, Gabriel“, in: Grove Music Online (am 20. Februar 2008 aufgerufen), http://www.grovemusic.com/shared/views/article.html?section=music.21712
2 David Gilbert, „Prix de Rome: Winners of the prix de Rome“, in: Grove Music Online (am 23. Mai 2008 aufgerufen), <http://www.grovemusic.com/shared/views/article.html?section=music.40632.1>
3 Mimi Segal Daitz, „Grieg and Bréville: ‘Nous parlons alors de la jeune école française...’“, in: 19th-Century Music, Bd. 1/3 (März 1978), S. 233-245
4 Georges Masson, „Pierné, Gabriel“, Grove Music Online (am 20. Februar 2008 aufgerufen), http://www.grovemusic.com/shared/views/article.html?section=music.21712
5 Katy Romanou, „Εκπρόσωπος ενός συλλογικού δημιουργικού οργασμού. Η προβολή της Ελληνικής μουσικής στη Δύση κατά τον Μεσοπόλεμο“ [Ein Vertreter des kollektiv Schöpferischen: Die Darstellung der griechischen Musik im Westen zwischen den Weltkriegen], Ο Μ α νώλης Κ α λομ οίρης κ α ι η Ελληνικ ή Μ ου σ ικ ή . Κ είμ ενα α πό κ α ι για τον Μ α νώλη Κ α λομ οίρη. Samos, Manolis Kalomiris Festival 1997), S. 65-72.
6 Manolis Kalomiris: Rhapsody for Orchestra [foreword by the composer] (Athens, 1957).

Aufführungsmaterial ist von Kalmus, Boca Raton zu beziehen.

Gabriel Pierné
(b. Metz, 16 August 1863 – d. Ploujean, 17 July 1937)

Introduction et variations sur une ronde populaire

Preface
Gabriel Pierné was a versatile and all-around musician who was highly estemmed as a conductor, organist, and composer. As a student at the Paris Conservatoire he won first prizes at the ages of sixteen (organ), seventeen (harmony), and eighteen (counterpoint). In Grove Music Online1 we also read about him winning the Prix de Rome for the cantata Edith. However, in the entry “Prix de Rome” for the same dictionary, and more specifically in the list of prizewinners, the name of Gabriel Pierné is not mentioned at all:2 the composer listed as the winner of the 1882 prize is Georges-Eugene Marty. It appears that this cantata represents a fruitful cooperation between Pierné and Marty. This supposition receives support from an article by Mimi Segal Daitz, who clearly states that “Georges-Eugene Marty (1860–1908), a composer and conductor, was a student with Pierné at the Conservatoire and his co-winner of the 1882 Prix de Rome”.3 This point obviously requires further investigation.

In most cases the Prix de Rome, a prize that great composers such as Berlioz and Debussy have won as well, was a fine start to a bright future in the field of composition. However, in his later years, Pierné seemed more intrigued by a career in organ playing and conducting. Although he never abandoned composition, it was not his primary aim. By becoming a deputy (1903), and later the principal (1910), conductor of the Concerts Colonne, he had to prepare „at least forty-eight different programs a year“,4 a fact that had a clear impact on his available time for composition. It is important to note, as the musicologist Katy Romanou points out, that „as a conductor [Pierné] was recognized to be very generous to composers for the time he devoted to the preparation of their works and the number of new works he included in his programs.“5 In order to outline Pierné’s character it is worth mentioning the impression he made on Manolis Kalomiris, a young Greek composer living in Paris in 1924. Hoping to organize a concert of his orchestral compositions, he sent some of his scores to Pierné for perusal. Unfortunately the costs of such a concert were quite high, and Kalomiris decided that he could not afford them. Here is his impression of Pierné when he went to the French composer’s home to retrieve his scores: “When I arrived to Pierné’s studio and met this wonderful musician, great both as a composer and a human being, I felt deeply touched…’I studied your scores and I find them very interesting’ Pierné told me ‘I understand that you cannot spend such a high amount for organizing your own symphonic concert. Moreover, I would not think that it could be very helpful for you either…Why don’t you let me include some pieces of yours in one of our concerts with the Concerts Colonne orchestra? This will not cost you anything and you will get a full house just from our subscribers.’ This offer by Maestro Pierné was far beyond my wildest dreams and I could not do anything else but accept his offer and express my gratitude to him.”6
A year later Pierné orchestrated Kalomiris’s First Rhapsody for piano, a piece that is still performed in its orchestrated form today.

Concerning the piece in question, Introduction et variations sur une ronde populaire, we should begin with the obvious fact that it is written for a saxophone quartet (baritone, tenor, alto, and soprano). The “theme and variations” form used throughout the piece is built up in several layers. Also, at some points the work seems loosely contrapuntal in conception. The main thematic material recycled throughout the piece is presented roughly in the first thirty bars. The composer uses this material in several ways during the course of the piece and “invents” new sounds from pre-existing motifs.

Often changes of tempo and meter add a romantic flavor appropriate to music of this sort. Towards the middle of this single-movement piece the musical material seems to thicken. Mention should also be made of the modulatory character that occurs at certain points in the work. In general, one can say that the composition reveals an almost impressionistic quality.

It would be a serious oversight not to refer to the technical difficulties that players will encounter in Introduction et variations sur une ronde populaire. All four parts seem equally difficult and require a high level of technical proficiency from the players if they are to fulfill their musical duties.

Alexandros Charkiolakis, Musicologist
Music Library of Greece “Lilian Voudouri”

1 Georges Masson, „Pierné, Gabriel“, in: Grove Music Online (am 20. Februar 2008 aufgerufen), http://www.grovemusic.com/shared/views/article.html?section=music.21712
2 David Gilbert, „Prix de Rome: Winners of the prix de Rome“, in: Grove Music Online (am 23. Mai 2008 aufgerufen), <http://www.grovemusic.com/shared/views/article.html?section=music.40632.1>
3 Mimi Segal Daitz, „Grieg and Bréville: ‘Nous parlons alors de la jeune école française...’“, in: 19th-Century Music, Bd. 1/3 (März 1978), S. 233-245
4 Georges Masson, „Pierné, Gabriel“, Grove Music Online (am 20. Februar 2008 aufgerufen), http://www.grovemusic.com/shared/views/article.html?section=music.21712
5 Katy Romanou, „Εκπρόσωπος ενός συλλογικού δημιουργικού οργασμού. Η προβολή της Ελληνικής μουσικής στη Δύση κατά τον Μεσοπόλεμο“ [Ein Vertreter des kollektiv Schöpferischen: Die Darstellung der griechischen Musik im Westen zwischen den Weltkriegen], Ο Μ α νώλης Κ α λομ οίρης κ α ι η Ελληνικ ή Μ ου σ ικ ή . Κ είμ ενα α πό κ α ι για τον Μ α νώλη Κ α λομ οίρη. Samos, Manolis Kalomiris Festival 1997), S. 65-72.
6 Manolis Kalomiris: Rhapsody for Orchestra [foreword by the composer] (Athens, 1957).

For performance material please contact the publisher Kalmus, Boca Raton.