Franz Liszt (geb. Raiding, 22. Oktober 1811 - gest. Bayreuth, 31. Juli 1886)

Der 13. Psalm für Tenorsolo, gemischten Chor und Orchester (1855-63)

Vorwort

Im Sommer 1855 brach Franz Liszt, der sich mittlerweile in Weimar als Hofkapellmeister voll etabliert und die vollkommene Umgestaltung des zeitgenössischen Komponierens in Angriff genommen hatte, seine Kompositionsarbeiten an der gewaltigen Dante-Symphonie sowie an den Prometheus-Chören ab, zugunsten einer Neuvertonung des 13. Psalms mit seiner berühmten Wehklage: „Herr, wie lange willst du mein so gar vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?“ Liszt war die neue Komposition ganz offensichtlich eine ausgesprochene Herzensangelegenheit: „Sie kam mir aus der Fülle meines Herzens“, sagte er später in Anspielung auf das berühmte Bibelwort Matthäus 12:34. Und weiter: “Die Gefühle des König David strömten in Fleisch und Blut aus mir heraus.“ Für einen Künstler, der bisher als Inbegriff des Weltlichen, gar des Diabolischen in der musikalischen Romantik galt, stellte das neue Werk eine ziemlich überraschende ästhetische Wende dar und nahm seine später erblühende Religiosität und die Mönchskutte als „Abbé Liszt“ nach seiner Weimarer Zeit im Jahre 1861 vorweg. Durchaus bewußt, wie sehr sich die Psalmvertonung aus seinem Oeuvre heraushob, beschloß Liszt, die Uraufführung des neuen Werks für einen besonderen Anlaß aufzuheben, nämlich für ein Konzert, das er zum Ende des gleichen Jahres in Berlin plante und das ausschließlich aus eigenen Werken unter eigenen Leitung bestehen sollte. Anfang Dezember 1855 fuhr also Liszt, begleitet von einer Schar seiner Jünger (darunter seine neueste Entdeckung, das 14jährige Wunderkind Carl Tausig) mit der Eisenbahn nach Berlin, wo am Zielbahnhof eine noch größere Schar von Anhängern seiner harrte. Es folgte die übliche Runde taumelnder Abendgesellschaften, auf die er mit der ihm eigenen Mischung von Belle Esprit und aristokratischer Noblesse regierte. Das Konzert, das am 6. Dezember in der Berliner Singakademie stattfand, war bis auf den letzten Sitzplatz ausverkauft; unter den Zuhörern befanden sich König Friedrich Wilhelm IV., Königin Elisabeth und weitere Mitglieder der preußischen Königsfamilie, die folgendes Programm unter der Leitung des Komponisten erleben durften: das Orchesterwerk Les Préludes, ein Ave Maria für gemischten Chor und Orchester, das Klavierkonzert Nr. 1 (mit dem brennenden Lisztianer Hans von Bülow als Solist), die großangelegte symphonische Dichtung Tasso und schließlich Der 13. Psalm, bei dem ein sichtlich tief ergriffener Liszt den Solotenorpart mitsang. Das Publikum war im großen und ganzen außer sich vor Begeisterung: Nach dem Psalm, der nach Angaben des Komponisten perfekt ablief, gab es zwar einige Zischlaute („st’s und szt’s, die letzten Buchstaben meines Namens“), sie wurden jedoch sofort durch einen Schwall von Bravorufen übertönt. Darauf verließ Liszt den Konzertsaal und begab sich Richtung Hotel Arnim, wo er bei einem Gala-Festmahl mit 300 geladenen Gästen gefeiert wurde. Die Berliner Kritiker waren gegenüber der bisher besten Chorkomposition Liszts jedoch nicht so wohl gesonnen wie das Publikum, und letztendlich mußte der Komponist den Mißerfolg des Unternehmens eingestehen. (Die Lorbeeren, die er davongetragen habe – so Liszt später -, seien ein „Salat mit Disteln gemischt“). Dennoch behielt Der 13. Psalm weiterhin einen wichtigen Platz im Herzen seines Schöpfers, und als Liszt am 14. September 1860 sein vorläufiges Testament verfaßte, verfügte er in einem Anhang, daß sein getreuer Verfechter Hans von Bülow den noch im Manuskript befindlichen 13. Psalm veröffentlichen lassen möge, und zwar „in Partitur mit der Klavierbegleitung unten auf jeder Seite“. Tatsächlich ist das Werk bei seiner Erstveröffentlichung, die der Leipziger Verleger Kahnt 1864 mit der erwünschten Widmung an Peter Cornelius vornahm, ausgerechnet in diesem ungewöhnlichen Format – einem Zwischending zwischen Partitur und Klavierauszug – in Druck erscheinen.

Bis dahin hatte jedoch Der 13. Psalm bereits eine ziemliche Verwandlung erfahren: Das Werk, das in der Erstausgabe Kahnts erschien, war nämlich nicht mehr mit dem identisch, das bei der Berliner Premiere erklang. Vorgesehen in dieser ersten Fassung waren nicht nur ein Solotenor, ein gemischter Chor und ein Orchester, sondern auch zwei Soloparts für Sopran und Mezzosopran. Zwischen 1859 und 1863 arbeitete Liszt das Werk um, indem er die beiden weiblichen Solopartien wegfallen ließ, um zu der heute bekannten zweiten Fassung für Tenor, gemischten Chor und Orchester zu gelangen. Bis zum Erscheinungsjahr 1864 hatte Liszt jedoch sein sakrales Oratorium Die Legende der Heiligen Elisabeth (1857-62) bereits vollendet und war mit der Komposition seines kirchenmusikalischen Hauptwerks Christus (1862-67) stark beschäftigt – beides sehr groß angelegte Werke, die die Bedeutung des 13. Psalm innerhalb seines sakralen Oeuvres eher in den Schatten stellten. Und dennoch: Später genoß die Psalmvertonung nach ihrer etwas mißratenen Uraufführung doch eine durchaus anständige Rezeptionsgeschichte: Die Kahnt-Ausgabe wurde im weiteren Verlauf des Jahrhunderts mehrfach neuaufgelegt, auch erschien das Werk 1876 in einer englischen Fassung, 1878 in einer französischen, 1888 wiederum in einer englischen (mit einer Übersetzung durch den wackeren Reverend Dr. J. Troutbeck) sowie 1880 auszugsweise in einer Orgelbearbeitung. Im Jahre 1975 wurde Der 13. Psalm in einem von Márta Papp herausgegebenen Partiturdruck und Klavierauszug (mit neuer Klavierbearbeitung) bei Editio Musica Budapest und C. F. Peters Frankfurt veröffentlicht, neuerdings wurde dem Werk sogar die Ehre einer vollständigen Transkription für Soloklavier (Chicago 1995) zuteil. Obwohl nicht sonderlich zahlreich auf Tonträger erschienen, gibt es zumindest eine bemerkenswerte historische Aufnahme des 13. Psalms durch das Royal Philharmonic Orchestra unter Sir Thomas Beecham, die – digital veredelt – bei EMI unlängst nachgepreßt wurde.

Bradford Robinson, 2008

Aufführungsmaterial ist von Peters, Frankfurt zu beziehen.

Franz Liszt (b. Raiding, 22 October 1811 - d. Bayreuth, 31 July 1886)

Psalm XIII for tenor, mixed chorus and orchestra (1855-63)

Preface

In the summer of 1855 Franz Liszt, now firmly ensconced in Weimar as court conductor and intent on reinventing the essence of nineteenth-century composition, interrupted his work on the mighty Dante Symphony and the Prometheus Choruses to write a setting of the 13th Psalm with its well-known cri du coeur: “How long wilt thou forget me, O Lord? for ever? how long wilt thou hide thy face from me?” For Liszt, it was quite obviously a labor of love: “It came to me out of the abundance of my heart,” he later remarked, paraphrasing the famous passage from Matthew 12:34. “King David’s feelings poured out of me in flesh and blood.” The new work was a surprising step for a man then thought to be the incarnation of the secular, if not the diabolical, in musical romanticism, and it clearly presaged his later turn to religiosity and minor monastic orders as “Abbé Liszt” after his departure from Weimar in 1861. Liszt was fully aware that the new work stood out in his oeuvre, and resolved to set aside its first performance for a special occasion: an all-Liszt concert to be given in Berlin under his direction later that year.

In early December 1855 Liszt duly set out by train to Berlin, accompanied by an entourage of camp-followers, among whom was his latest discovery, the fourteen-year-old prodigy Carl Tausig. A large pro-Liszt faction greeted him at the Berlin station, and the usual round of high-level socializing, with Liszt’s unmistakable blend of belle esprit and aristocratic grandezza, was set in motion. The concert itself, given in the Berlin Singakademie on 6 December, was packed to the rafters, with King Friedrich Wilhelm IV, Queen Elisabeth, and other members of the Prussian royal family in attendance to hear Liszt conduct a program of Les Préludes, an Ave Maria for mixed chorus and orchestra, the First Piano Concerto (played by that ardent Lisztian Hans von Bülow), the mighty symphonic poem Tasso, and finally Psalm XIII, in which Liszt, visibly moved, sang along with the tenor part. The audience was, for the most part, thrilled: “After the psalm, which went perfectly, there were several st‘s and szt‘s (the last letters of my name), and these occasioned a roar of bravos.” Liszt then left the hall for a lavish banquet held in his honor at the Arnim Hotel, where he was fêted by three-hundred guests.

Berlin’s critics, however, were not as well-disposed as the audience toward Liszt’s best choral composition to date, and he was forced in retrospect to admit that the concert had been, all in all, a failure (the laurels, he later quipped, were a “salad tossed with thistles”). But Psalm XIII continued to hold a special place in his affections; and when he came to write his will, on 14 September 1860, he added a special codicil in which he enjoined Hans von Bülow to arrange for Psalm XIII, then still in manuscript, to be “published in score with the piano accompaniment at the bottom of each page.” Indeed, when the work was finally issued in print by Kahnt of Leipzig in 1864, with a dedication to Peter Cornelius, it appeared precisely in this unusual format, a hybrid combination of full score and piano-vocal score.

By that time, however, Psalm XIII had undergone a metamorphosis. The piece heard at the Berlin première was not the one that appeared in the Kahnt print: the initial version had called for a soprano and mezzo-soprano in addition to tenor, mixed chorus, and orchestra. Between 1859 and 1863 Liszt reworked the score to its present form, dropping the two women’s parts and leaving behind the second version for tenor, mixed chorus, and orchestra that we know today. By then he had already completed his sacred oratorio The Legend of Saint Elisabeth (1857-62) and was fully immersed in the magnum opus of his sacred music, the oratorio Christus (1862-7), both of which have tended ever since to dwarf the significance of Psalm XIII in his sacred oeuvre. Nevertheless, the psalm setting, after its ill-starred première, enjoyed a perfectly respectable career: the Kahnt edition was frequently reissued in the latter course of the century, and the work also appeared in an English version (1876), a French version (1878), yet another English version (1888, translated by the redoubtable Reverend Troutbeck), and an abridged organ arrangement (1880). In 1975 it was reissued in full score and vocal score (with a new piano reduction) by Editio Musica in Budapest and C. F. Peters in Frankfurt, edited by Márta Papp, and it has latterly been given the honor of a complete transcription for solo piano (Chicago, 1995). Though not particularly well-represented on disc, a remarkable historic recording of Psalm XIII with the Royal Philharmonic Orchestra under Sir Thomas Beecham was recently remastered and reissued on the EMI label.

Bradford Robinson, 2008.

 

 

 

 

 

For performance material please contact the publisher Peters, Frankfurt.