Edvard Grieg (geb. Bergen, 15. Juni 1843 – gest. Bergen, 4. September 1907)
Den Bergtekne
(“Der Einsame”) op. 32 (1877/78) Altnorwegische Volkspoesie für Bariton, zwei Hörner und Streichorchester
Vorwort
Bei der Vokalkomposition Den Bergtekne, die in Deutsch als Der Einsame, in Französisch als Le solitaire und schliesslich im Englischen als The Mountain Thrall bekannt ist, handelt es sich um die Vertonung einer altnorwegischen Volksballade, die – um die beredten Worte Percy Graingers zu zitieren – “das Schicksal eines Mannes nacherzählt, der in der Bergwelt seinen Weg verliert und von Riesen angegriffen wird. Grieg erzählte mir, er habe Den Bergtekne mit seinem ‘Herzensblut’ komponiert, denn er betrachte das Gedicht als getreue Widerspiegelung seines eigenen hoffnungslosen und ‘verlorenen’ Seelenzustandes.”1 Das Werk wurde für den befreundeten dänischen Organisten und Komponisten Gottfred Matthison-Hansen geschrieben. Interessanterweise birgt die Geschichte eines Mannes, der seinen Weg verliert und von Riesen angegriffen wird, einige Ähnlichkeiten mit den Irrfahrten des Odysseus‘ nach dem Niedergang Trojas, einschließlich der Begegnung mit dem einäugigen Riesen Polyphem.
Grieg nahm die Kompositionsarbeiten 1877 im entlegenen Dorf Lofthus auf und schloß sie bereits im darauffolgenden Jahr ab. Das Werk erschien 1882 beim Kopenhagener Verlag Hansen in Druck.
Manchmal wird Den Bergtekne als Dichtung für Orchester, manchmal auch als Orchesterlied bezeichnet. Obwohl der Begriff „Tondichtung“ etwas verfehlt erscheint, weist das Werk doch einige Gemeinsamkeiten mit dieser Gattung auf, indem es zumindest eine Reihe von Elementen verfügt, die gemeinhin als angemessene Bestandteile großangelegter Werke betrachtet werden. In diese Hinsicht erinnert Den Bergtekne an ein anderes Werk mit ähnlichem Titel: nämlich dem “Einsamen im Herbst“ aus dem Lied von der Erde von Gustav Mahler, das ebenfalls eine lyrische Emphase vermittelt, die die ausgewählte Gattung zugleich umschließt und übersteigt.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war es auch die ländliche Umgebung von Lufthus, die Grieg zu diesem berückend schönen lyrischen Werk zugleich inspirierte und ermutigte. Vermutlich diente die umgebende Einsamkeit als Ansporn seiner Phantasie und Schöpfungsdrang. Beim Hören des Werks fällt es leicht, sich die grünen Wälder und die ländliche Ruhe vor Auge zu führen, die Grieg bei der Entstehung von Den Bergtekne wohl begleiteten.
Die Opuszahl von Den Bergtekne ist nicht ganz unproblematisch, denn in einigen Quellen wird das Werk mit der Nummer 28 versehen, während die Titelseite eindeutig die Opuszahl 32 aufweist. Letztere Zahl ist auch in der einschlägigen Literatur am häufigsten zu finden und erscheint zudem auf der Vorlage der vorliegenden Studienpartitur. In der Vorlage wird der Balladentext in deutscher, englischer und französischer Sprache abgedruckt. Als Einstiegshilfe für den Leser geben wir nachfolgend den deutsche Text dieser ergreifenden Volksballade wieder:
Der Einsame
Ich ging fehl im dunkeln Walde zwischen den Erlensteinen, Erlentöchter äfften mich, ich fand niemals wieder heim, ich fand niemals wieder heim.
Ich ging fehl im Walde, rings um die Erlenhöhe, Erlenmaid, du äffest mich, keinen Heimweg mehr ich sehe!
Ich war unter dem Erlenvolk im Spiele den Lieblichsten nah’, in der Erlenjungfrau Blick das Glück doch nie ich sah, nie ich sah!
Ich war unter dem Erlenvolk, wo wild man im Tanze mich band, in der Erlentochter Arm das Glück doch nie ich fand, nie ich fand.
Fischlein in dem tiefen Wasser zum Meere schwimmt voll Lust. Mancher grüsst ein Lieb beglückt, von dem er kaum gewusst.
Fischlein in dem tiefen Wasser und’s Eichhorn in dem Hain, alle die haben ein Lieb so süss, doch keines ich nenne mein, doch keines ich nenne mein.
Ich ging fehl im dunkeln Walde zwischen den Erlensteinen, Erlentöchter äfften mich, ich fand niemals wieder heim, ich fand niemals wieder heim.
Übersetzung: Bradford Robinson
1 Vgl. P. Grainger, Edvard Grieg. A Tribute, in: The Musical Times, Jg. 98, Nr. 1375 (Sept. 1957), S. 483, Spalte 1. Aufführungsmaterial ist von der Peters, Frankfurt zu beziehen.
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