Albert Roussel
(geb. Tourcoing, 5. April 1869 — gest. Royan, 23. August 1937)

Le Festin de l´Araignée
(Das Festmahl der Spinne)
Ballett op. 17

Ähnlich wie Nikolaj Rimskij-Korsakov hat auch Albert Roussel eine maritime Vergangenheit: Zwar entstammt er einer Familie begeisterter Hobby-Musiker, doch seine musikalischen Gehversuche am Klavier endeten 1887, als die Ecole Navale in Paris ihn als Kadett annahm. Der hochbegabte Teenager bestand den Eignungstest als Sechzehnter von mehr als fünfhundert Kandidaten. Ohnehin war Roussel hin- und hergerissen zwischen seinen verschiedenen Interessen – der Begeisterung für die Natur, für fremde Länder, für die Musik und Literatur. Er war als Jugendlicher begeisterter Leser der Erzählungen von Jules Verne; ab 1884 studierte er am Collège Stanislas zu Paris Rhetorik. Es gab eine gewisse Rastlosigkeit in Roussel – nicht zuletzt auch wohl deshalb, weil er schon in früher Kindheit beide Eltern verloren hatte, im Alter von acht Jahren zu seinem Großvater, nach dessen Tod nur drei Jahre später zu einem Onkel in Pflege gegeben wurde. Außerdem hatten lange sommerliche Ferienaufenthalte am Meer eine besondere Sehnsucht in Roussel geweckt. 1889 schloß er die Marine-Ausbildung als Fähnrich zur See ab und diente anschließend fünf Jahre lang auf verschiedenen Schiffen. Seine Reisen führten ihn um die ganze Welt, doch schon an Bord vertiefte er seine Liebe zur Musik. Auf der Fregatte Melpoméne gab es ein Klavier, wo Roussel bald Gottesdienste zur See begleitete und Bordmusiken veranstaltete. 1894 wurde der Konflikt zwischen Dienst und Musik unerträglich: Roussel reichte seinen Abschied ein und ging nach Paris, um privat bei Eugène Gigout zu studieren, denn für das Conservatoire war er mit 25 schon zu alt. 1898 wechselte er an die neu gegründete Schola Cantorum zu Vincent d`Indy. Nur vier Jahre später unterrichtete Roussel dort bereits selbst. Schon mit seinen ersten veröffentlichten Kompositionen zählte er rasch zur Spitze der Avantgarde. Seine erste Tondichtung Résurrection nach Tolstoi verabscheuten die Kritiker wegen ihrer dissonanten Tonsprache. Die erste Sinfonie Le Poème de la Forêt wurde aufgrund ihrer Modernität anfangs nur in Teilen aufgeführt, und sein Divertissement für Bläserquintett und Klavier von 1906 nannte Norman Demuth in seiner Roussel-Studie 1947 ›zukunftsweisend‹: »In diesem kurzen Stück nahm Roussel nahezu alles vorweg, was in den folgenden 15 Jahren in der Musik geschrieben werden würde, wodurch es zu einem staunenswerten Dokument der Prophezeihung wurde.« 1908 folgte die fantastische Bühnenmusik zu Le Marchand de sable qui passe seines Freundes Jean-Aubry; im gleichen Jahr heiratete Roussel und unternahm mit seiner Frau zwei Jahre später eine große Europa-Afrika-Asien-Reise. Deren Frucht, die große Chor-Sinfonie Evocations, erntete bei ihrer Uraufführung 1912 eine Sensation. Im ersten Weltkrieg wurde er zum Militärdienst eingezogen; sein Gesuch auf Freistellung aufgrund seiner labilen Gesundheit war abgelehnt worden. Erst nach 1918 konnte er sich wieder seinem Schaffen widmen. Albert Roussel starb am 23. August 1937 infolge eines schweren Herzanfalls. Er hinterließ zwar nur knapp 70 Kompositionen, doch darunter viel Bedeutendes wie die vier Sinfonien, Orchesterstücke, Bühnenwerke und Kammermusik.
Le Festin de l´Araignée ist Roussels erstes großes Ballett. Es verdankt seine Entstehung indirekt dem Ballet Russes von Sergej Diaghilev, dessen Erfolge zahlreiche Trittbrettfahrer nach sich zogen. So fand 1912 auch der Direktor des Théâtre des Arts, Jacques Rouché, es sei Zeit für eine Ballett-Produktion, und er bat Roussel, eine einaktige Tanz-Pantomime zu einem Libretto von Gilbert de Voisins zu schreiben. Bei konservativen Komponisten hatte das Ballett immer noch etwas Anrüchiges; Roussel mußte sich erst von seiner Frau zur Annahme des Auftrags überreden lassen. Das Ergebnis freilich war ein kleines Wunder – eine für ein Orchester von lediglich 32 Musikern meisterhaft instrumentierte Preziose, die neben Ravels Ma mére l´oye zu den anrührendsten und farbenreichsten Balletten des 20. Jahrhunderts zählt. Die Handlung folgt einer uralten Tradition seit den Fabeln des Aesop: Im Festmahl der Spinne passiert etwas ähnliches wie in Janáceks Oper Das schlaue Füchslein oder achtzig Jahre später in dem Dokumentarfilm Microcosmos von Claude Nuridsany und Marie Pérennou – die Welt der Insekten wird wie mit dem Vergrößerungsglas betrachtet und zum Spiegelbild menschlichen Lebens. Roussel war von dieser Welt stets fasziniert; schon als Elfjähriger gab der kleine Albert jeden Morgen im Garten seines Onkels ein Konzert, wo er am Boden ein imaginiertes Orchester aufstellte, es dirigierte, und den Klang der Instrumente singend und pfeifend imitierte. Roussel hat hier eins seiner am stärksten wirkenden Stücke geschaffen. Noch in seinen Briefen von der Front schrieb er sechs Jahre später, wie sehr ihm dort das Anfangsthema der Flöte oft in den Sinn kam. Nach dem Erfolg der Uraufführung am 3. April 1913 wurde es im gleichen Jahr noch zweiundzwanzig Mal gegeben. Später hat Roussel es für den Konzertsaal bearbeitet und dabei um ein Drittel zusammengestrichen. Freilich wirkt angesichts der Kürze des Werkes dieser Eingriff heute unverständlich – zumal Le Festin de l´Araignée komplett so gut wie nie aufgeführt wird. Eine vorzügliche Gesamt-Einspielung erschien mit dem Ulster Orchestra unter Yan Pascal Tortelier bei Chandos.

Synopsis
Das Ballett beschreibt einen Tag im Garten. Der Morgen erwacht. Die Spinne, die wir hier einmal nach altem deutschen Sagen-Brauch ›Frau Thekla‹ nennen wollen, sitzt in ihrem Netz und betrachtet voller Frühstücks-Appetit das aufkommende Leben. Ein paar Ameisen finden ein zu Boden gefallenes Rosenblatt, heben es unter größter Kraftanstrengung auf und tragen es davon. Die Spinne träumt in den Tag hinein und arbeitet dabei geistesabwesend, doch emsig an ihrem Netz. Ein paar Mistkäfer treten auf, die Ameisen haben ihr Rosenblatt fortgeschafft, es erscheint ein wunderschöner Schmetterling und gaukelt, nichts Böses ahnend, durch den Garten. Frau Thekla lädt ihn freundlich ein, doch näher zu kommen, weil sie seinen Tanz besser sehen möchte. Natürlich verfängt sich der Schmetterling im Netz und stirbt ermattet. Die Spinne triumphiert, hüllt die Beute in einen Kokon und will sie gerade davonschleppen, da fällt plötzlich mit lautem Krach ein Apfel vom Baum. Frau Thekla erschrickt und verzieht sich. Es erscheinen zwei Fruchtwürmer, um den Apfel anzubohren, doch werden sie ihrerseits von zwei Gottesanbeterinnen entdeckt, die sich allerdings sofort um die Beute streiten. So gelingt es den Würmern, in den Apfel zu entkommen, während die Ameisen und anderen Insekten einen Kreis um die Gottesanbeterinnen bilden: Die Show wollen sie sich nicht entgehen lassen. Doch die beiden Kämpferinnen verfangen sich ebenfalls im Spinnennetz. Frau Thekla freut sich: Nach der Vorspeise schon der Hauptgang! Da schlüpft eine Eintagsfliege und lenkt alle Anwesenden mit ihrem sorglosen Tanz ab, bis sie erschöpft zu Boden sinkt. Die Tierwelt applaudiert, doch bescheiden winkt die Fliege ab. Nun gibt es nichts mehr zu sehen, und die Ameisen verschwinden. Nur die Würmer, die gerade vollgefressen aus dem Apfel kriechen, haben die Ereignisse verpaßt. Ihnen zuliebe tanzt die Eintagsfliege noch einmal mit ihnen gemeinsam, doch durch die Anstrengung ist ihr kurzes Leben erschöpft, und sie stirbt. Frau Thekla will sich die Fliege noch zum Nachtisch holen und in Ruhe ihr Drei-Gänge-Menü vorbereiten, doch da wird plötzlich eine der Gottesanbeterinnen vom Hirschkäfer befreit. Sofort greift die Gottesanbeterin die Spinne an. Ein schrecklicher Kampf entbrennt, den Frau Thekla verliert. Röchelnd haucht sie ihr Leben aus. Die Insekten bahren die Eintagsfliege auf und tragen sie feierlich zu Grabe. Der Trauerzug verschwindet in der Ferne, und Nacht senkt sich über den Garten.

Benjamin Gunnar Cohrs, © 2008
(Kontakt: Bruckner9finale@web.de)

Aufführungsmaterial leihweise bei Editions Durand, Paris

Albert Roussel
(b. Tourcoing, 5 April 1869 — d. Royan, 23 August 1937)

Le Festin de l´Araignée
(The Spider’s Banquet)
Ballett op. 17

Like Nikolai Rimsky-Korsakov, Albert Roussel had a nautical past: although he came from a family of enthusiastic amateur musicians, his fledgling efforts at the piano came to an end in 1887 when the École Navale in Paris accepted him as a cadet. The highly gifted teenager passed the aptitude test by sixteenth among more than five-hundred applicants. Roussel was torn hither and thither between his conflicting interests: nature, foreign countries, music, and literature. As an adolescent he excitedly read the tales of Jules Verne; from 1884 on he studied rhetoric at the Collège Stanislas in Paris. There was a certain restlessness about him, perhaps not least because he lost both parents in early childhood, lived with his grandfather from the age of eight, and was sent to live with an uncle after his grandfather’s death a mere three years later. Moreover, his long summer holidays at the sea kindled a special longing in him. In 1889 he completed his seaman’s training as a midshipman, after which he spent five long years on various ships. His travels took him around the world, but hardly was he on board than he pursued his love of music. The frigate Melpoméne had a piano on which Roussel soon found himself accompanying church services at sea and arranging musical events on board. In 1894 the conflict between music and his profession became unbearable, and he tendered his resignation and moved to Paris to take private lessons from Eugène Gigout, having already passed the twenty-five-year age limit for admission to the Conservatoire. In 1898 he switched to Vincent d’Indy at the newly founded Schola Cantorum, where he joined the teaching staff a mere four years later. His first published compositions catapulted him to the forefront of the avant-garde. He horrified critics with the dissonant idiom of his first tone-poem, Résurrection (after Tolstoy); his first symphony, Le Poème de la Forêt, was initially performed only in excerpts owing to its modernity; and his Divertissement for wind quintet and piano (1906) was called “far-reaching” by Norman Demuth in his biography of 1947: “In this short work [Roussel] anticipated nearly everything which came to be written during the following fifteen years, this forming an amazing prophetical document.” The year 1908 witnessed not only the imaginative incidental music to Le Marchand de sable qui passe by his friend Jean-Aubry, but also his marriage. Two years later he and his newly-wed wife undertook a long tour of Europe, Africa, and Asia. The fruits of this journey, a large-scale choral symphony entitled Evocations, created a sensation at its première in 1912. During the First World War was drafted into military service after his request for deferment due to weak health was rejected, and it was not until 1918 that he could return to his creative work. He died on 23 August 1937 after suffering a severe heart attack. He left behind little more than seventy compositions, but they include such significant achievements as the four symphonies, orchestral pieces, stage works, and chamber music.

Le Festin de l’Araignée is Roussel’s first large-scale ballet. It owes its existence indirectly to Sergey Diaghilev’s Ballets Russes, whose successes spawned a large number of imitators. Among them was the director of the Théâtre des Arts, Jacques Rouché, who in 1912 felt that the time was ripe for a ballet production and asked Roussel to write a one-act dance-pantomime to a libretto by Gilbert de Voisins. At the time the ballet was still in bad odor among conservative composers, and Roussel first had to be persuaded by his wife to accept the commission. The results, however, were a minor miracle – an exquisitely scored jewel for an orchestra of no more than thirty-two musicians that is fully capable of standing alongside Ravel’s Ma mère l’oye among the most fetching and colorful ballets of the twentieth century. The scenario is based on an ancient tradition as old as Aesop’s fables. Le Festin de l’Araignée deals with much the same material as Janáček’s Cunning Little Vixen or, eighty years later, Claude Nuridsany and Marie Pérennou’s documentary film Microcosmos: the world of insects, viewed as it were through a magnifying glass and transformed into a mirror of human behavior. Roussel had always been fascinated by this world; as an eleven-year-old boy he had held a concert every morning in his uncle’s garden, where he set up an imaginary orchestra on the ground and conducted it, imitating the sound of the instruments with his singing and whistling. In Le Festin de l’Araignée Roussel created one of the most powerful of all his works; even six years later, in his letters from the front, he wrote how often the opening flute theme came to his mind. After the success of the première on 3 April 1913 the piece was given another twenty-two times that same year. Later Roussel arranged the score for the concert hall, reducing its length by roughly a third. Admittedly, given the work’s brevity, these cuts seem incomprehensible today, particularly as Le Festin de l’Araignée is practically never performed intact. An excellent complete recording with Yan Pascal Tortelier conducting the Ulster Orchestra was issued by Chandos.

Scenario
The ballet describes a day in the garden. It is daybreak. The Spider sits in her nest, hungry for breakfast, observing life as it awakes. A couple of Ants discover a rose petal that has fallen to the ground, lift it with huge exertion, and bear it away. The Spider daydreams, working absent-mindedly but busily on her nest. A couple of Dung Beetles enter; the Ants have carried away the rose petal; a beautiful Butterfly appears and flutters through the garden, oblivious to the danger. The Spider cheerily invites it to approach so that she can watch its dance more closely. Naturally the Butterfly gets caught in the web and perishes of exhaustion. The Spider is jubilant; she wraps her prey in a shroud and is about to drag it away when an apple falls from the tree with a crash. Startled, the Spider scurries away. Two Fruit Worms arrive to burrow into the apple; they are in turn discovered by two Praying Mantises, who, however, promptly quarrel about who should get the booty. The Worms succeed in escaping into the apple while the Ants and other insects form a ring around the Praying Mantises: they don’t want to miss the show! But the two squabblers likewise get ensnared in the web. The Spider is delighted: she now has a main course to follow the appetizer! A Mayfly slips out of its egg and distracts the onlookers with its carefree dance until it falls down exhausted. The insects applaud, but the Mayfly makes a modest self-effacing gesture. Now there is nothing more to look at, and the Ants disappear. Only the Fruit Worms, who crawl satiated out of the apple, have missed the happenings. The Mayfly performs its dance with them once again for their benefit, but the exertion is too much for its short life-span, and it falls lifeless to the ground. The Spider now tries to fetch the Mayfly as her dessert and calmly prepares her three-course meal. Suddenly one of the Praying Mantises is freed by a Stag Beetle. The Mantis immediately attacks the Spider. A terrible battle ensues - with the Spider on the losing end. She expires on the spot. The insects place the Mayfly on a bier and carry it solemnly to its grave. The funeral procession vanishes into the distance, and night falls on the garden.

Translation: Bradford Robinson

 

 

 

 

 

Performing material available on hire from Editions Durand S.A., Paris.