Frederic Hymen Cowen
(geb. 29. Januar 1852, Kingston, Jamaica - gest. 6. Oktober 1935, London)

Dritte Sinfonie in c-Moll »Skandinavische Sinfonie«

Vorwort Frederic Hymen Cowen (1852–1935) galt zu Zeiten seines hundertsten Geburtstags als »ausgesprochen unbedeutender Komponist1}«,1 und 1979 schien er Peter Pirie in seinem Standardwerk zur »English Musical Renaissance« nicht einmal mehr einer Erwähnung wert. Diese Einschätzung ist begründet in seinem durchaus eigentümlichen Kompositionsstil, der seit Ende des Ersten Weltkriegs in Großbritannien mit Argwohn bedacht wurde. Es handelt sich um einen Stil, der essenziell Einflüsse der englischen und der deutschen Musikerziehung der 1860er/1870er-Jahre verbindet – einen Stil, der sich auch im Schaffen von Arthur Sullivan, Frederick Corder und Ethel Smyth niedergeschlagen hat, um nur die bekanntesten britischen Vertreter dieser Stilrichtung zu nennen. Wenn Frank Howes Cowens Musik 1966 als »nicht unverwechselbar, noch herausregend« 2 bezeichnet, so zeugt seine Voreingenom-menheit von einem Musikverständnis, das ebenso einen Camille Saint-Saëns, Hermann Goetz, Carl Reinecke, Vincent d’Indy oder Joseph Joachim Raff, selbst einen Peter Cornelius oder César Franck mit Verachtung gestraft hätte. Dieses Musikverständnis legt die Maßstäbe an den heute international berühmten Giganten wie Brahms, Bruckner oder Debussy an und verkennt damit weite Teile der Musiksituation des 19. Jahrhunderts.

Frederic Hymen Cowen wurde in Kingston, der Haupt-stadt des Commonwealth-Inselstaates Jamaica, am 29. Januar 1852 geboren und zog mit seinen Eltern vier Jahre später nach England. Jüdischer Abstammung, zeigte er schon früh musikalisches Talent und veröffentlichte seine erste Komposition, einen Walzer, im Alter von sechs Jahren; zwei Jahre später folgte eine Operette über Garibaldi auf ein Libretto einer älteren Schwester. Etwa zu dieser Zeit wurde er Schüler von Julius Benedict und Sir John Goss. Sein erster öffentlicher Auftritt als Pianist erfolgte 1863, zwei Jahre darauf trat er als Solist in Mendelssohn Bartholdys d-Moll-Klavierkonzert op. 40 in einer musikalischen Soiree des Earl of Dudley auf, dem Cowens Vater als Privatsekretär diente; bei selber Gelegenheit präsentierte der Dreizehnjährige zusammen mit Joseph Joachim und dem Cellisten Alessandro Pezze sein eigenes Klaviertrio A-Dur. Im selben Jahr gewann er das Mendelssohn-Stipendium der Royal Academy of Music und ging zum Studium bei Louis Plaidy, Ignaz Moscheles, Carl Reinecke, Moritz Hauptmann und Ernst Friedrich Richter an das Leipziger Konservatorium; der Preußisch-Österreichische Krieg unterbrach 1866 sein Studium, das er 1867 mit einer Studienperiode am Sternschen Konservatorium in Berlin abschloss, wo er sich erste Sporen als Dirigent verdiente. Ab 1868 begann er in London regelmäßig als Pianist aufzutreten. Erste größere Erfolge stellten sich für den Siebzehnjährigen im folgenden Jahr mit den Urauffüh-rungen seines Klavierkonzerts in a-Moll und seiner ersten Sinfonie in c-Moll ein. Dieser ersten Sinfonie sollten bis 1897 fünf weitere folgen.

Seine musikalische Karriere begann Cowen als Korrepetitor für James Henry Maplesons italienische Opernkompanie sowie für den berühmten Sir Michael Costa am Her Majesty’s Theatre. 1876 wurde Cowens Oper Pauline nach einer Vorlage von Edward Bulwer Lytton durch die Carl Rosa-Kompanie am Londoner Lyceum Theatre erfolgreich uraufgeführt, und im selben Jahr erhielt er durch die Vermittlung Costas den Kompositionsauftrag zu der Kantate The Corsair (nach Byron) für das Birmingham Festival. Nun folgte Erfolg auf Erfolg. Das Jahr 1880 erwies sich als besonders wichtig, wurde Cowen doch als Nachfolger Arthur Sullivans zum Dirigenten der Promenadenkonzerte in Covent Garden berufen. Mit dieser Position begann Cowens steile Karriere als Dirigent, 1884 leitete er erstmals ein Konzert der Philharmonic Society in London, er begründete eine eigene Konzertreihe und eröffnete 1893 die Londoner Queen’s Hall. Nach dem unerwarteten Tod Charles Hallés übernahm er von 1895 bis 1899 das Hallé Orchestra in Manchester. 1897 kam die Bradford Choral Society hinzu und von 1899 bis 1902 das Bradford Permanent Orchestra; von 1883 bis 1913 war er künstlerischer Leiter der Konzerte der Liverpool Philharmonic Society, von 1900 bis 1910 Chefdirigent des Scottish Orchestra und von 1902 bis 1910 Leiter des Cardiff Festival. Als er 1888 nach Australien reiste, um die Musik für die Jahrhundertausstellung in Melbourne zu dirigieren, übertraf sein Honorar von £5000 alles bislang Dagewesene. Als Dirigent blieb Cowen bis in die 1920er-Jahre aktiv. Die Kritiker liebten ihn, eine von wenigen Ausnahmen war George Bernard Shaw, der ihn wegen seines langsamen Dirigierens angriff. 1911 wurde Cowen zum Ritter geschlagen, Ehrendoktorwürden verliehen ihm die Universitäten Cambridge und Edinburgh. Am 6. Oktober 1935 starb Frederic Cowen in London, als ihn sein Ruhm als Komponist bereits lange verlassen hatte; neue Generationen hatten die Musiklandschaft erobert und ihn zum alten Eisen gelegt. Erst seit etwa 1990 wurden zwei seiner Sinfonien kommerziell eingespielt und erlauben eine Neueinschätzung seiner kompositorischen Fähigkeiten.

Von Cowens sechs Sinfonien gelten die ersten beiden als verschollen, die erste erhaltene (und veröffentlichte) ist die Dritte Sinfonie in c-Moll, die so genannte »Skandinavische Sinfonie«, an der Cowen seit seiner Rückkehr aus Norwegen arbeitete, wo er als Pianist die Mezzosopranistin Zélia Trebelli (1834–1892) begleitet hatte. Er vollendete die Sinfonie im Spätherbst 1880 rechtzeitig zur Uraufführung in der Londoner St. James’s Hall am 18. Dezember, die er selbst leitete. Schon am 15. Januar 1882 dirigierte Hans Richter die Sinfonie in Wien und viele andere Städte, darunter Budapest, Köln, Stuttgart, Paris und New York, sollten bald folgen. In Wien wurde die Sinfonie 1882 auch veröffentlicht, im Verlag der Hofmusikalienhandlung Albert J. Gutmann. Die Sinfonie ist Francis Hueffer gewidmet, seit 1878 erster Musikkritiker der Times. In einem Brief an den Freund und Kritiker Joseph Bennett fasste Cowen das »Programm« der Sinfonie zusammen:

»Die Symphonie wurde durch meine mehreren Besuche in Skandinavien nahe gelegt. Der erste und der letzte Satz können als meine allgemeinen Eindrücke verstanden werden – und alle Themen haben mehr oder weniger einen nordischen Charakter; das Hauptthema des Finales wurde sogar aus einem alten norwegischen Volkslied abgeleitet. Das Adagio dürfte die Sommernacht (Mondlichtträumerei) auf einem der schönen Seen widerspiegeln – Nächte und Seen, die man nur im Norden sehen kann – das Thema für die vier Hörner in der Mitte könnte ein fröhlicher mehrstimmiger Gesang oder ein Studentenlied sein, das über das Wasser getragen wird und in die Träumerei und nochmals am Satzende einbricht.Das Scherzo dürfte den Winter repräsentieren – eine Schlittenfahrt; die beständige Streicherbewegung (gedämpft)

spiegelt den geräuschlosen Galopp der Pferde auf dem Schnee und die Triangel die Glöckchen. Beachten Sie im ersten Satz das Vorherrschen der kleinen Sept:

Die Tremolo-Episode (Tremolo) nach dem Doppelstrich könnte den Wind repräsentieren, der durch die ungeheueren düsteren Kiefernwälder bläst. Beachten Sie nochmals das ausgehaltene As in den Hörnern direkt vor der Rückkehr zum Hauptthema.

Beachten Sie, dass im Adagio das Thema zweimal kanonisch durch die Bässe wiederholt wird (das zweite Mal pizzicato). Beachten Sie auch die Modulation nach Ges und zurück nach G gegen Satzende. Im Scherzo denke ich, dass die Kombination von Scherzo und Trios in der Koda eine ziemliche Neuheit ist. Beachten Sie im Finale die Wiederkehr des zweiten Themas des ersten Satzes und die Kombination dieses Themas mit jenem des Adagios gegen Ende des Satzes, kurz bevor die Posaunen einsetzen.«3

Cowens kompositorisches Können erweist sich besonders in den von ihm selbst nur so kurz beschriebenen Außensätzen, dem wohlausgewogenen Eröffnungssatz und dem komplexeren Rondo des Schlusssatzes.

Bereits vor seinem sechzigsten Geburtstag hatte Frederic Cowen seine kompositorische Tätigkeit beendet – fast zeitgleich mit dem Ende der victorianischen Epoche. Und vielleicht war es eben diese Verbundenheit mit dem 19. Jahrhundert, die George Bernard Shaw schon 1891 spürte, als er eine Aufführung der Sinfonie im Crystal Palace besprach: Er nannte die Sinfonie »Ein hübsches Stück, das aber [...] viel von seiner Frische verloren hat«.4 Dennoch ist die Sinfonie fraglos farbiger und inspirierter als seine Vierte Sinfonie in b-Moll (»The Welsh«, 1884) und wahrscheinlich die konziseste all seiner Sinfonien.

Jürgen Schaarwächter

1 Joseph Potts, Frederic H. Cowen (1852–1935), The Musical Times 94. Jg. (1953), S. 351.# 2 Frank Howes, The English Musical Renaissance, London 1966, S. 65.# 3 Frederic Hymen Cowen an Joseph Bennett, zitiert in: Frederic Hymen Cowen, The Musical Times 39. Jg. (1898), S. 717.# 4 George Bernard Shaw (16. 12. 1891), Music in London 1890–1894, Vol. I, London etc. 21949, S. 301.#

 

In Fragen des Aufführungsmaterials wenden Sie sich bitte an den Verlag. Nachdruck eines Exemplars aus der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

Frederic Hymen Cowen (b. . 29 January 1852, Kingston, Jamaica - d. 6. October 1935, London)

Third Symphony in C minor “The Scandinavian”

Preface At the time of his 100th birthday Frederic Hymen Cowen (1852–1935) was considered ‘a distinctly minor composer’,1 and in 1979 Peter Pirie, in his standard work on the ‘English Musical Renaissance’, did not even think him worthy of mention. This assessment is based on Cowen’s quite individual style of composition, which has been viewed with suspicion in Great Britain since the end of the Great War. It is a style essentially comprising influences from the English and German educational traditions of the 1860s and 1870s – a style which also left its mark on the music of Arthur Sullivan, Frederick Corder and Ethel Smyth, to name only its most noted British advocates. If Cowen’s music was called ‘not distinctive nor distinguished’ as recently as 1966,2 this only reveals a biased view of music that would cast equal contempt on a Camille Saint-Saëns, Hermann Goetz, Carl Reinecke, Vincent d’Indy or Joachim Raff, not to mention a Peter Cornelius or César Franck. This view takes as its yardstick today’s internationally celebrated giants, such as Brahms, Bruckner or Debussy, and misrepresents large parts of 19th-century music.

Frederic Hymen Cowen was born in Kingston, the ca-pital of the island-state of Jamaica, on 29 January 1852 and moved with his parents to England four years later. Of Jewish extraction, he revealed a talent for music in early childhood and published his first composition – a waltz – at the age of six. Two years later he produced an operetta on Garibaldi, using a libretto by an older sister. Around this time he became a pupil of Julius Benedict and Sir John Goss. His first public appearance as a pianist took place in 1863; two years later he played Mendelssohn’s D-minor Concerto, op. 40, at a musical soirée given by the Earl of Dudley, with whom his father was employed as a private secretary. On this occasion the 13-year-old boy presented his own A-major Piano Trio with Joseph Joachim and the cellist Ales-sandro Pezze. In the same year he won the Mendelssohn Scholarship from the Royal Academy of Music and went to study at Leipzig Conservatory with Louis Plaidy, Ignaz Moscheles, Carl Reinecke, Moritz Hauptmann and Ernst Friedrich Richter. These studies were interrupted by the Austro-Prussian War in 1866, after which he completed his degree at the Stern Conservatory, Berlin, in 1867. It was here that he first proved his mettle at the conductor’s rostrum. From 1868 on he began to appear regularly in London as a pianist. The following year, at the age of 17, he achieved his initial successes with the premières of his A-minor Piano Concerto and his First Symphony in C minor, a work that would be followed by five further symphonies by 1897.

Cowen launched his musical career as a répétiteur for James Henry Mapleson’s Italian opera company and the celebrated Sir Michael Costa at Her Majesty’s Theatre. In 1876 his opera Pauline (after Edward Bulwer-Lytton) was successfully premièred by the Carl Rosa company at London’s Lyceum Theatre; in the same year, through Costa’s good offices, he was commissioned to write a cantata The Corsair (after Byron) for the Birmingham Festival. Success now followed upon success. The year 1880 proved especially beneficial as Cowen was appointed to succeed Arthur Sullivan as conductor of the Promenade Concerts in Covent Garden. With this position he began his meteoric career as a conductor; he led his first concert of the London Philharmonic Society in 1884, founded his own concert series and gave the opening night at Queen’s Hall, London, in 1893. After the untimely death of Charles Hallé he took charge of the Hallé Orchestra, Manchester, from 1895 to 1899. To this was added the Bradford Choral Society in 1897 and the Bradford Permanent Orchestra from 1899 to 1902. He was also the artistic director of the concerts of the Liverpool Philharmonic Society (1883-1913), the principal conductor of the Scottish Orchestra (1900-1910) and the head of the Cardiff Festival (1902-10). When he travelled to Australia in 1888 to conduct the music for the centennial exhibition in Melbourne he received the unprecedented fee of £5000. Cowen remained active as a conductor until well into the 1920s. The critics loved him, one rare exception being George Bernard Shaw, who chastised him for his sluggish tempi. He was knighted in 1911 and received honorary doctorates from the universities of Cambridge and Edinburgh. By the time of his death in London on 6 October 1935 his fame as a composer had long faded; new generations had conquered the musical landscape and relegated him to the old guard. It was not until in 1990 that commercial recordings were made of two of his symphonies, paving the way for a reassessment of his compositional abilities.

Of Cowen’s six symphonies the two earliest ones are thought to be lost. The first to survive (and to appear in print) was the Third Symphony in C minor, the ‘Scandinavian’. Cowen worked on it after his return from Norway, where he had toured as accompanist to the mezzo-soprano Zélia Trebelli (1834-1892). The symphony was completed in the late autumn of 1880 just in time for its première at St. James’s Hall, London, on 18 December (Cowen himself conducted). By 15 January 1882 Hans Richter had conducted the work in Vienna; many other cities, including Budapest, Cologne, Stuttgart, Paris and New York, would soon follow. It was also in Vienna that the work was published by Gutmann in 1882. The symphony bears a dedication to Francis Hueffer, the premier music critic of The Times from 1878. In a letter to his friend, the critic Joseph Bennett, Cowen summarised the work’s ‘programme’:

‘The symphony was suggested by my several visits to Scandinavia. The first and last movements may be taken to portray my general impressions – and all the themes have more or less a Northern character about them, the principal theme of the Finale being in fact adapted from an old Norwegian Volkslied.

The Adagio might represent a summer’s night (moon-light reverie) on one of those lovely lakes – nights and lakes which can only be seen in the North – the theme for the four horns in the middle might be the sounds of a joyful part-song or students’ song wafted across the water and breaking in upon the reverie – and again toward the end of the movement. ‘The Scherzo might represent winter – a ride in a sleigh – the constant movement of the strings (muted) –

being the noiseless gallop of the horses on the snow and the triangle the bells. ‘Note, in the first movement, the prevailing minor seventh:

‘The episode (tremolo) after the double bar might represent the wind moving through those immense gloomy pine forests. ‘Note again the persisting A flat in the horns just before the return to the principal subject. ‘Note in the Adagio the theme repeated twice in canon by the basses (second time pizzicato). Note also the modulation into G flat and back to G towards the end of the movement. In the Scherzo, I think the combining of the Scherzo and Trio in the Coda is rather a novelty. Note in the Finale the recurrence of the second theme of the first movement, and of that and the Adagio combined towards the end of the movement, just before the trombones come in.’ 3

Cowen’s compositional prowess comes especially to the fore in the two outside movements so succinctly described above: the poised first movement and the more complex rondo-finale.

Cowen’s compositional activities had already ceased by the time of his 60th birthday, almost concurrently with the end of the Victorian Era. Perhaps it was precisely this connection with the 19th century that George Bernard Shaw sensed as early as 1891 when he wrote of a performance of the symphony at the Crystal Palace that it was ‘a pretty piece of work, although [...] it is not quite so fresh as it was’.4 Nonetheless, the Third Symphony is unquestionably more colourful and inspired that the Fourth, the ‘Welsh’ (1884), and probably the most concise that Cowen ever wrote.

Translation: Bradford Robinson

1 Joseph Potts: ‘Frederic H. Cowen (1852–1935)’, The Musical Times 94 (1953), p. 351.# 2 Frank Howes: The English Musical Renaissance (London, 1966), p. 65.# 3 Letter from Frederic Hymen Cowen to Joseph Bennett, quoted from ‘Frederic Hymen Cowen’, The Musical Times 39 (1898), p. 717.# 4 George Bernard Shaw: Music in London 1890–1894, i (London, 21949), p. 301 [review of 16 Dec 1891].#

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