Marco Enrico Bossi
(geb. Salò, 25. April 1861 - gest. auf der Überfahrt von New York nach Le Havre, 20. Februar 1925)
Intermezzi Goldoniani
für Streicher, Opus 127
Vorwort
Im 19. Jahrhundert wurde die Musik Italiens durch die Oper beherrscht: Die Werke von Rossini, Donizetti, Bellini und vor allem Verdi entfachten die Begeisterung der Zuhörer vor und nach dem Risorgimento von 1861. Im letzten Viertel des Jahrhunderts entwickelte sich jedoch eine neue, weitaus weniger auftrumpfende Bewegung, die die Instrumental-, Orchester- und Kammermusik in Italien beleben und stärken sollte. Zu den ersten Komponisten, die „sich der theatralischen Verblendung widersetzten“ (de’ Paoli), gehörten Sgambati (1841-1914), Martucci (1856-1909), Sinigaglia (1868-1944) und Bossi (1861-1925), die jedoch keineswegs eine “Schule” bildeten, sondern ihre Tonsprache individuell und gleichzeitig miteinander entwickelten. Wie bei Flüssen, deren Verlauf sich zeitweise unter der Erde verbirgt, wurde die große Tradition der italienischen Instrumentalmusik, die Anfang des 18. Jahrhunderts ihre Glanzzeit erreichte, in den zurückliegenden Jahrzehnten verschüttet. Ihre Wiedergeburt in den Werken dieser vier Komponisten kündigte einen noch breiteren Strom von Instrumentalmusik aus der Feder der sogenannten „Generation der 1880er Jahre“ an. 1
Marco Enrico Bossi wurde in Salò am Ufer des Gardasees in einer Familie von Organisten geboren und erhielt seinen ersten Musikunterricht von seinem Vater Pietro. Später studierte er am Liceo Musicale in Bologna (1871-73) sowie am Mailänder Konservatorium (1873-81), wo u.a. Ponchielli zu seinen Lehrern gehörte. 1881 gewann er den Concorso Bonetti für seine Oper Paquita und erhielt eine Anstellung als Organist und Chorleiter am Dom zu Como. Ab 1890 unterrichtete er in der Fächern Orgelspiel und Harmonielehre am Konservatorium Neapel; später bekleidete er ähnliche Ämter in Venedig, Bologna und Rom. Zu seinen herausragenden Schülern zählten u.a. Mortari, Ghedini und Malipiero. 1924 unternahm Bossi eine Amerikareise, um eine Reihe von Orgelkonzerte zu halten. Auf der Heimfahrt im darauffolgenden Jahr starb er auf hoher See.
In Italien ist Bossi heute eher für seine Chor- und Instrumentalmusik als für seine wenigen vollendeten Opern bekannt; die Kantaten über das Hohe Lied, über Miltons Versepos Paradise Lost sowie über das Leben der Heiligen Johanna strotzen vor dramatisch wirkungsvoller Musik, und das Orgelkonzert behält immer noch einen ehrenvollen Platz im heutigen Konzertrepertoire. Auf den Orgelemporen der italienischen Kirchen werden die rund 30 Opera erforscht, die Bossi für dieses Instrument schuf, insbesondere das beliebte Scherzo g-Moll op. 49 Nr.2 mit seinem feingliedrigen filigranen Orgelsatz. Die bekanntesten seiner Orchesterwerke sind wohl die Intermezzi Goldoniani für Streicher op. 1272. Die Erstausgabe, die seinem „teuren Freund, dem Professor Wilhelm Weber“ gewidmet ist, erschien 1905 beim Verlag J. Rieter-Biedermann in Leipzig (Weber hatte einige Textvorlagen von Bossis Chorwerken ins Deutsche übersetzt). Fünf der sechs Sätze dieses Werks entstanden 1903/04 zu einem Zeitpunkt, als Bossi 1902-11 den Liceo Musicale in Bologna leitete. Das erste Menuett, das sich dem anfänglichen Preludio anschließt, erschien schon 1901 (allerdings in Des-Dur) in einem Sammelband zum Andenken an den hundertsten Todestag von Domenico Cimarosa. Drei Sätze ertönten bereits am 8. April 1905 im Teatro Comunale di Bologna unter der Leitung von Toscanini, die erste vollständige Aufführung kam jedoch erst am 3. April 1910 am gleichen Theater mit dem Wiener Tonkünstlerorchester unter der Leitung von Oskar Nedbal zustande. Später bearbeitete Bossi die ganze Suite für Klavier, das Menuett für Klavier zu vier Händen, das Coprifuoco („Abendläuten“) für Orgel sowie die Serenatina für Geige und Klavier. 3
Statt auf ein bestimmtes Lustspiel des großen Dramatikers Goldoni (1707-1793) anzuspielen, versucht Bossi in diesem Werk, die allgemeine Stimmung der Leichtlebigkeit und Festlichkeit im Venedig des 18. Jahrhundert herauf zu beschwören. Die alten Tänze und Musikformen dienen zwar als Vorlagen, werden jedoch durch modernes Empfinden und gekonnten Umgang mit Streicherklängen neu belebt.
1. Preludio e minuetto
Das Moto perpetuo des Preludio (d-Moll) gibt an gewissen Stellen einem gemäßigteren Tempo nach, dessen melodische Konturen die des darauffolgenden Menuett (D-Dur) vorwegnehmen. Im Trio-Teil werden drei Solostimmen (Violine, Bratsche, Violoncello) vom Ripieno begleitet – eine Reduzierung des Orchesterklangs, die die ursprüngliche Bedeutung des Fachterminus „Trio“ deutlich in Erinnerung ruft.
2. Gagliarda
Ein kraftstrotzendes Paradestück in d-Moll, das die Technik der kanonischen Stimmführung über Orgelpunkten und zugleich eine eher lyrische Idee mit aufsteigendem Oktavsprung erprobt. In der zweiten Hälfte der zweiteiligen formalen Anlage wird das Material auf den Kopf gestellt. Die Reprise scheint zunächst in der „falschen“ Tonart c-Moll anfangen zu wollen, schlüpft jedoch in die eigentliche Grundtonart wieder hinein, um zum abschließenden Kehraus zu gelangen.
3. Coprifuoco
Diese nächtliche Pavane enthält den einzigen Anklang an Schwermut im ganzen Stück. Hier werden die Streicherstimmen geteilt, um die zerbrechliche Traurigkeit der Nacht hervorzurufen. Erst am Ende mutet der Einsatz von Flageolett-Tönen wie die Hoffnung auf einen neuen Sonnenaufgang an.
4. Minuetto e musetta
Hier wird eine Musette in einer Dur-Tonart von Moll-Menuetten umrahmt. Beide Formabschnitte teilen das gleiche thematische Material. Der schnellen Metronomangabe nach würde der Begriff „Scherzo“ für die Ecksätze eher zutreffen, die sicherlich in starkem Kontrast zur altväterischen Höflichkeit des ersten Menuett stehen.
5. Serenatina
Eine erlesene Serenade für La Serenissima. Eine einzige Melodie erklingt dreimal hintereinander in verschiedenen Orchesterfarben, jedoch stets von einer gitarrenähnlich gezupften Pizzicato-Begleitung untermalt. Der Reiz dieser Musik besteht zum Teil in der rhythmischen Mehrdeutigkeit der Melodie, die in einem Dreivierteltakt gespielt wird, während die Begleitung effektiv im Dreiachteltakt steht.
6. Burlesca
Ein Sonata-Rondo-Satz von hinreißender Fröhlichkeit. Auf das energische Hauptthema folgt ein eher anmutig synkopiertes Seitenthema, wobei das Ganze durch die fließende Kontrapunktik Bossis mit Leben erfüllt wird.
Auch wenn die Intermezzi Goldoniani sich auf Weltliteratur bezieht, um das Porträt eines vergangenen Zeitalters zu rechtfertigen, wäre es nicht unberechtigt, hier von frühen Beiträgen zu einer bestimmten Art von Neoklassizismus zu sprechen, der die Musik der Barockzeit und Frühklassik explizit aufsucht, um neues Rohmaterial zu gewinnen. Neben Strawinskys Pulcinella (nach Pergolesi) dürfen in diesem Zusammenhang auch zwei weitere italienische Werke mit eindeutigem historischen Bezug erwähnt werden – Casellas Scarlattiana und Dallapiccolas Tartiniana – sowie noch naheliegender die Reihe der Ricreazioni von Bossis Sohn Renzo.
Übersetzung: Bradford Robinson, 2007
1 Dies sind hauptsächlich Pizzetti, Malipiero, Respighi und Casella.
2 Das Manuskript wird in der Biblioteca Comunale di Como unter der Signatur Mus.Mar.En.Bo.B4 aufbewahrt.
3 Für diese Angaben zur Bibliographie und zur Aufführungsgeschichte bin ich Maestro Andrea Macinanti vom Conservatorio G.B. Martini di Bologna zum Dank verpflichtet.
Aufführungsmaterial ist von der Fleisher Orchestral Library, Philadelhia zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Christoph Schlüren, München.
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