Henri Vieuxtemps
(b. Verviers, Belgium, 17 February 182 - d. Mustapha, Algeria, 6 June 1881)
Violinkonzert Nr. 4 d-Moll op. 31
(1849/50)
Vorwort
Leibvirtuose des Zaren, Gastsolist bei der Krönung des schwedischen Königs Karl XIV., Privataufführung auf besonderen Wunsch des türkischen Sultans, offizielle Ehrungen durch die Könige von Belgien und Sardinien: Henri Vieuxtemps´ Lebens-lauf klingt wie das Märchen eines legendären Musiker-Heros des 19. Jahrhunderts. Frühreif wie Menuhin beginnt das dreizehnjährige Wunderkind Vieuxtemps seine Karriere mit einer Tournee durch Deutschland, die Publikum wie Musikerkollegen gleichermaßen den Atem verschlägt. Während der junge Geiger den Winter 1833/34 in Wien verbringt, kommt er mit dem ehemaligen Beethoven-Kreis in Kontakt und triumphiert vierzehnjährig mit der Wiederaufnahme des jahrelang verschmähten Violinkonzerts des Meisters. In Leipzig scheut sich Robert Schumann 1834 nicht, Vieuxtemps mit Paganini zu vergleichen, der seinerseits nach einem Londoner Konzert des jungen Virtuosen im gleichen Jahr dem Vergleich bereitwillig zustimmt. So beginnt die internationale Laufbahn des Musikers und soll vierzig Jahre andauern, bis der Virtuose 1873 wegen eines Hirnschlags frühzeitig von der Bühne abtreten muss. Bis dahin hatte er Amerika dreimal (1843/44, 1857/58, 1870/71) bereist, dem Zaren 1846 bis 1851 als Privatvirtuose gedient, die bereits erwähnten Ehrungen der europäischen Königshauser entgegengenommen und Ruhm als einer der führenden Musiker des Jahrhunderts genossen. Hector Berlioz, der auf jegliches Mittelmaß stets scharfzüngig reagierte, brachte bereits 1840 die allgemeine Meinung seiner Zeit auf den Punkt: «Monsieur Vieuxtemps ist ein ungeheuerlicher Violinist im wahrsten Sinne des Wortes. Er bringt Dinge zustande, die ich noch nie von einem anderen erlebt habe. Er geht Risiken ein, die die Zuhörer zwar in Angst und Schrecken versetzen, ihn selber jedoch nicht im geringsten beunruhigen, da er genau weiß, daß er heil davonkommen wird».
Ebenfalls überzeugt war Berlioz von der Begabung Vieuxtemps’ als Komponist, wobei er die Behandlung des Orchesters und die geschickte Integration des Solo-instruments im symphonischen Satz besonders hervorhebt - was vom Komponisten eines Harald in Italien etwas heißen soll. Wenn sich der heutige Musikliebhaber von Vieuxtemps’ grosser Produktion an Virtuosenmusik für Geige und Klavier - beispielsweise von einem Souvenir de Amerique, das aus Variationen über Yankee Doodle besteht - leicht irritiert abwendet, so steht heute einer Würdigung seiner damals als mustergültig geltenden sieben Violinkonzerte oder seiner beiden Cellokonzerte nichts im Wege. Von den Violinkonzerten werden damals wie heute das Vierte und das Fünfte als seine kompositorischen Glanzleistungen gesehen: Kein geringerer als Berlioz bezeichnete das Vierte Violinkonzert als «eine großartige Symphonie für Orchester mit violon principal».
Das Vierte Violinkonzert entstand 1849/50 in St. Petersburg während der kurzen Amtszeit Vieuxtemps’ als Kammersolist des russischen Zaren. Obwohl der Komponist das neue Werk in Rußland sicherlich privat mehrfach durchprobiert haben müsste, kam die Uraufführung erst 1851 in Paris zustande, wo Vieuxtemps selber das Konzert mit großem Erfolg spielte. Kurz darauf ist das Werk auch in Druck erschienen, und zwar 1854 in Partitur und Stimmen beim Offenbacher Verlag André mit einer Widmung an den ehemaligen Petersburger Schüler Vieuxtemps’, Fürst Nikolas Jusopow. Seitdem hat das Konzert auch zahlreiche Neuausgaben im Klavierauszug erlebt, wie etwa bei Peters, Schott, Eulenburg, Universal, Breitkopf & Härtel, Augener, Schirmer, Fischer, Steingräber oder dem Staatlichen Musikverlag der ehemaligen Sowjetunion – ein sicherer Beweis für seinen ehrbaren Platz im Violinrepertoire – und wurde von maßgebenden Pädagogen wie August Wilhelmj, Leopold Auer und Juan Manén mit Vortragszeichen und Fingersätzen versehen. Im 20. Jahrhundert wurde das Vierte Violinkonzert zu einem bevorzugten Paradestück der großen Geigenvirtuosi, wie deutlich zu erkennen in den überlieferten Einspielungen etwa von Jascha Heifetz (unter Barbirolli), Itzhak Perlman (unter Barenboim), Arthur Grumiaux (unter Manuel Rosenthal), dem legendären tschechischen Geiger Váša P?íhoda sowie insbesondere Zino Francescatti (unter Eugene Ormandy), der 1971 auch eine eigene Einrichtung des Werks veröffentlichte.
Dass das Vierte Violinkonzert sogar einen Berlioz mit seinem kompositorischen Anspruch beeindrucken konnte, ist leicht begreiflich: Das Werk ist äußerst kühn konzipiert und fußt nicht so sehr in der eher eng gefaßten Virtuosenkunst Paganinis, sondern in der großen Tradition der deutschen Romantik, vor allem Beethovens. Am Anfang des ersten Satzes steht eine düstere, sehr breit angelegte Einleitung, deren Ausmaß an die Siebte Symphonie Beethovens erinnert und die zugleich reichlich mit Dissonanzen und Anspielungen auf die ebenfalls in d-Moll gehaltenen Komtur-Szene aus Don Giovanni aufwartet. Wenn der Solist dann schließlich doch einsetzt, führt er leidenschaftlich und mit äußerster Intensität ein einziges ausgedehntes, opernartiges Rezitativ vor, das in eine Solokadenz voller haarsträubender aufführungstechnischer Kniffe mündet. Ein alleinstehender Ton des Horns verbindet diesen brillant konzipierten Kopfsatz mit dem darauffolgenden Andante religioso, einer tief empfundenen Hymne in Es-Dur, in der der Solist zart und empfindlich mit den Orchesterinstrumenten dialogisiert. Das kurze Scherzo: Vivace wird von einer unterschwelligen Gewalttätigkeit beherrscht, die vor allem in dem markanten Einsatz der Pauken Erinnerungen an ein weiteres berühmtes Beethoven-Werk in d-Moll hervorruft: an die Neunte Symphonie, in der ebenfalls das Scherzo mit einem Trio von folkloristisch anmutender Naivität nebst al-fresco-Hornrufen kontrastiert. (Dieser dritte Satz wurde bei Aufführungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts normalerweise weggelassen.) Beim abschließenden vierten Satz handelt es sich um ein Finale marziale, das die düstere Einleitung des Kopfsatzes neu aufleben läßt, um anschließend in einen aufregend martialischen D-Dur-Teil zu wechseln, der das gleiche rhythmische Hauptmotiv wie beim Finale der Fünften Symphonie Beethovens aufweist – eine offensichtliche und zugleich passende Hommage an den eigentlichen Spiritus rector des d-Moll-Konzerts. Hier erreicht der Violinsatz mit feurigen Doppelgriff- und brillanten Spiccato-Passagen den äußersten Gipfel der Virtuosität. Wirkungsvoll abgeschlossen wird das Vierte Violinkonzert mit einer strahlenden D-Dur-Apotheose.
Bradford Robinson, 2007
Aufführungsmaterial ist von der Leduc, Paris zu beziehen.
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Henri Vieuxtemps
(b. Verviers, Belgium, 17 February 1820 - d. Mustapha, Algeria, 6 June 1881)
Violin Concerto No. 4 in D minor, op. 31
(1849-50)
Preface
Personal violinist to the Czar of Russia, featured virtuoso at the coronation of Charles XIV of Sweden, a command performance before the Sultan of Turkey, official decorations by the kings of Belgium and Sardinia: the life of Henri Vieuxtemps reads like a storybook tale of the quintessential nineteenth-century musician-hero. A prodigy of Menuhin-like precocity, Vieuxtemps began his international career at the age of thirteen with a tour of Germany that left audiences and musicians spellbound. Spending the winter of 1833/4 in Vienna, he fell in with Beethoven’s former circle and triumphed at the age of fourteen with a revival of the great master’s Violin Concerto, which had for years been woefully neglected. Schumann, in Leipzig, felt no qualms about comparing him to Paganini; and Paganini was happy to accept the comparison when he heard the boy play in London that same year (1834). Vieuxtemps’s international career was launched, and it would sustain him for the next forty years until he was unhappily incapacitated by a stroke in 1873. By that time he had toured America three times (1843/4, 1857/8, and 1870/71), served as the Czar’s violinist-in-waiting (1846-51), enjoyed the above-mentioned honors from Europe’s royalty, and was generally accepted as one of the towering musicians of the century. Berlioz, always quick with an acid pen when confronting mediocrity, summed up the opinion of his age in 1840: «Monsieur Vieuxtemps is a prodigious violinist in the strictest sense of the term. He does things I have never heard from anyone else. He affronts dangers which are frightening for the listener, but which do not disturb him in the least, certain that he will get through them safe and sound.»
Berlioz was equally convinced of Vieuxtemps’s genius as a composer, particular-ly singling out his handling of the orchestra and his deft integration of the solo instrument into a symphonic fabric - no mean praise from the composer of Harold in Italy. If a modern sensibility balks at Vieuxtemps’s large output of virtuoso music for violin and piano (a Souvenir de Amerique, say, consisting of a set of variations on «Yankee Doodle»), there is today nothing to stand in the way of an appreciation of his seven violin concertos and two cello concertos, all of which were once regarded as supreme examples of their genre. Of the violin concertos, the Fourth and Fifth are generally regarded, then as now, as his masterpieces: Berlioz called the Fourth «a magnificent symphony for orchestra with principal violin.»
Berlioz also played a role, if indirectly, in the origin of the Fifth. The great composer invited Vieuxtemps to take part in a concert he had organized in Baden-Baden in June 1860. Vieuxtemps willingly complied, and used the occasion to start work on a new concerto, which had been commissioned by his friend Hubert Léonard to write as an examination piece for the latter’s violin class at the Royal Conservatoire in Brussels. As befitted its purpose, the work is shorter than Vieuxtemps’s other concertos, being essentially a three-movement piece compressed (in the Lisztian fashion) into a single movement, and it systematically covers the technical achieve-ments to be expected of graduates from a great conservatory. The piece is neverthe-less symphonic in conception, and after serving its original purpose for the graduating class of 1861 it duly entered the concert repertoire. It received its première the following September, with Vieuxtemps as soloist, having been selected by the King of Belgium to celebrate the anniversary of Belgium’s independence. Later it was taken all over the world by Vieuxtemps’s great Polish colleague and friend Henri Wieniawski (1835-1880). The first performance in Paris in 1862 was again reviewed by Berlioz: «If Vieuxtemps were not such a great virtuoso he would be acclaimed a great composer. But the public is fashioned in such a way that only upon reflection does it do justice to his works. I shall do the opposite ... and point out the beauty and skillful organization of his compositions. ... I shall not enter here into an analytic discourse on this magnificent concerto, nor of the new ‘Polonaise’; let us limit ourselves to saying that everything about it seems to me grand and novel, that the whole of it is admirably contrived to make the principal instrument shine without its domination ever becoming overbearing. The orchestra speaks, too, and it speaks with a rare eloquence; it does not make us listen to the empty clamor of the crowd; and if it is a crowd, it is a crowd of orators.»
The Fourth Concerto was composed in 1849-50 in St. Petersburg while Vieuxtemps was briefly employed as the personal soloist to the Russian Czar. Although he obviously tried out the work privately during these years, the première had to wait until 1851, when Vieuxtemps himself performed it in Paris with great success. It was published soon thereafter, in full score and parts, by André in Offenbach (1854), with a dedication to his St. Petersburg pupil, Prince Nikolas Youssopow. Since then it has passed through numerous later editions in piano reduction from Peters, Schott, Eulenburg, Universal, Breitkopf & Härtel, Augener, Schirmer, Fischer, Steingräber, and the State Music Publishing House of the former Soviet Union – a clear indication of its prominent position in the violin repertoire – with performance markings and fingering by August Wilhelmj, Leopold Auer, Juan Manén, and others. In the twentieth century the Fourth Concerto proved to be a favorite vehicle for the great virtuosos, as attested by the surviving recordings of Jascha Heifetz (with Barbirolli), Itzhak Perlman (with Barenboim), Arthur Grumiaux (with Manuel Rosenthal), the legendary Czech violinist Váša P?íhoda, and notably Zino Francescatti (with Eugene Ormandy), who published his own edition of the work in 1971.
If the Fourth Concerto impressed Berlioz with its compositional stature, it is easy to see why: the work is extremely bold in conception, being firmly grounded in the great German romantic tradition, especially Beethoven, rather than following the more narrowly virtuoso path marked out by Paganini. The first movement opens with a vast, somber orchestral introduction on the scale of Beethoven’s Seventh, full of dissonant modulations and inflections reminiscent of the Commendatore scene from Don Giovanni – another famous work in D minor. When the soloist finally enters, he expatiates passionately and with maximum intensity in what is, in essence, an extended quasi-operatic recitative leading up to a solo cadenza of hair-raising difficulty. This magnificently conceived movement is linked by a solo horn to the Andante religioso that follows, a deeply felt E-flat-major hymn in which the soloist interacts tenderly and sensitively with the orchestra. The short Scherzo: Vivace has an underlying violence that recalls another famous work in D minor, especially in its prominent use of the timpani – Beethoven’s Ninth – and is similarly offset by a trio section with a recklessly folk-like naiveté, replete with horn calls conjuring up a plein air atmosphere. (This third movement was usually omitted in performance in the early part of the twentieth century.) The fourth movement, a Finale marziale, recapitulates the somber opening introduction before launching into a rousing D major with the same motivic rhythm found in the finale of Beethoven’s Fifth – an obvious and fitting tribute to the work’s true spiritual forebear. Here the violin writing reaches supreme heights of virtuosity, with rich double-stop playing and brilliant passages of spiccato. The concerto ends in a brilliant D-major apotheosis.
Bradford Robinson, 2007
For performance material please contact the publisher Leduc, Paris.
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