Sir Charles Villiers Stanford
(geb. Dublin, 30. September 1852 - gest. London, 29. März 1924)

Requiem op. 63

Vorwort
Charles Villiers Stanford (1852–1924) ist heute in Deutschland hauptsächlich als Lehrer etwa von Ralph Vaughan Williams, Frank Bridge, Gordon Jacob und vielen anderen bedeutenden britischen Komponisten bekannt, viel weniger durch seine eigenen Kompositionen. Als Sohn eines Prüfers am Kanzleigericht in Dublin und begeisterten Amateursängers und - cellisten geboren, kam er schon als Kind im Elternhaus mit den gebildeten Kreisen seiner Zeit in Kontakt. Bereits im Alter von zehn Jahren erhielt er in London Kompositions- und Klavierunterricht, 1870 matrikulierte er am Queen’s College in Cambridge, von wo er 1873 ans hoch renommierte Trinity College wechselte, wo er ab 1874 als Organist tätig war; bald darauf war er auch als Dirigent in Cambridge aktiv. Bei der Gründung des Royal College of Music in London wurde er 1883 Gründungsprofessor für Komposition, 1886 Leiter des Bach Choir London und 1887 Professor für Musik an der Universität Cambridge – um nur seine wichtigsten Positionen zu nennen. 1902 wurde er zum Ritter geschlagen. Als Komponisten kennt man Stanford, den irischen Protestanten, in Großbritannien vor allem durch seine Vokalkompositionen, während seine Sinfonien und Kammermusik zwar eifrig auf Tonträger, nicht aber im Musikleben gepflegt werden. Von seinen mehr als dreißig Werken für Chor und Orchester gehört nur ein kleiner Teil zur geistlichen Musik, doch hierunter finden sich seine ambitioniertesten Werke auf chorsymphonischem Gebiet. Den beiden umfangreichen Oratorien The Three Holy Children op. 22 (1885) und Eden op. 40 (1891) folgte 1896 das Requiem op. 63.

Das Werk wurde am 1. September 1896 vollendet und im Folgejahr von Boosey & Hawkes verlegt; das Manuskript befindet sich im Londoner Royal College of Music. Nur zwei Wochen nach Vollendung der Komposition besprach Stanford das Werk mit Edward Elgar. Er hoffte, dass dessen Einfluss günstig wirken könne auf die Annahme der Komposition zur Aufführung beim Three Choirs Festival. Anlass der Komposition war der Tod des Malers Lord Frederic Leighton, der zu den beliebtesten und renommiertesten Künstlern des spätviktorianischen Zeitalters gehörte, vor allem wegen seiner raffinierten Verwendung von Farbnuancen. Große Menschenmengen verfolgten Ende 1896 den Trauerzug mit Leightons sterblichen Überresten auf dem Weg zur St. Paul’s Cathedral. Leighton hatte stets enge musikalische Freundschaften gepflegt und war auch selbst musikalisch stark interessiert und befähigt. Beim von Stanford ausgerichteten Jubiläumsdinner der Cambridge University Musical Society hatte er zwischen Camille Saint-Saëns und Arrigo Boito gesessen und sich mit beiden in ihrer jeweiligen Muttersprache unterhalten.

Abgesehen von der persönlichen Freundschaft bestand auch eine große Ähnlichkeit in den künstlerischen Idealen Stanfords und Leightons. Für beide war „Schönheit Wahrheit, Wahrheit Schönheit“ (bei seinen Schülern hasste Stanford nichts mehr als „Hässlichkeit in der Musik“), und die reichhaltigen, detaillierten, von den Klassikern inspirierten Ölgemälde Leightons finden ihre Parallele bei Stanford nicht in kompliziertem Kontrapunkt oder instrumentatorischen Extravaganzen à la Berlioz, sondern in einem ausgewogenen, nachgerade klassischen Konzept mit elegantem, klangschönem, gleichzeitig typisch britischem Chorsatz und symphonischen Orchesterstil. Ein an seinen Erfahrungen als Opernkomponist geschultes dramatisches Gespür wird auf das Glücklichste bereichert und abgerundet durch liedhafte Einfachheit und symphonischen Atem.

Vom Umfang her ähnelt Stanfords Requiem jenen von Berlioz, Verdi oder Dvorák. In Momenten eindeutig an Verdi angelehnt, weisen andere Momente auf Wagner, wieder andere auf Dvorák. Eines der spezifischen Stilmittel in der Komposition ist der wiederholte Gebrauch von Blechbläserfiguren, andere sind die ausgedehnten Sequenzierungen von Begleitfiguren und die verschwenderischen Klangfarben, die die Malweise des Verstorbenen aufgreifen. Inneres Zentrum des Requiems ist die umfangreiche, rund halbstündige Sequenz, die äußerst ungewöhnlich mit leisen, aber drängenden „Dies Irae“- Äußerungen der Männer beginnt und sich zu einem kraftvollen Höhepunkt bei den Worten „tuba mirum“ steigert. Ein besonderer Effekt ist das (beim ersten Erscheinen 33-mal) wiederholte absteigende Achtelmotiv im Bass bei „Judex ergo“, das auf Stanfords Schüler Holst vorausweist. Der Höhepunkt des Satzes wird mit dem umfänglichen Tenorsolo des „Juste judex“ erreicht, gefolgt von den leidenschaftlich chromatischen Alt- und Sopransoli des „Lacrimosa“, die zu einem spannenden und angespannten Höhepunkt führen – unter anderem dem Einsatz des sonst äußerst spärlich benutzten Schlagwerks.

Seine Uraufführung erlebte das Requiem auf dem Musikfest in Birmingham am 6. Oktober 1897 unter der Leitung des Komponisten (die Überlieferung, Hans Richter habe das Werk dirigiert, trifft nicht zu). Die Kritik war zwar nicht einhellig enthusiastisch, doch der Rezensent der Musical Times schrieb: „Der Komponist scheut nicht vor der Aufgabe zurück, ein Requiem vorzubereiten, das den Geist und das Gefühl des römisch-katholischen Zeremoniells reflektieren sollte. Fraglos ist Dr. Stanford durch seine Vielseitigkeit auch fähig, dies Konzept umzusetzen. [...] Hört man dieses neue Werk, so könnte man denken, dass er sein ganzes Leben lang nur Kirchenmusik für die sensiblen und leidenschaftlichen Katholiken komponiert hätte. [...] Sicherlich ist das Requiem aufrichtig, sonst würde es nicht überzeugen.“ (The Musical Times, November 1897, S. 746.) Stanfords Kollege Hubert Parry war zögerlicher in seinem Urteil. Wie viele der Hauptorganisatoren des Musikfestes in Birmingham war er überrascht über die Wandlung in Stanfords Musiksprache im Vergleich zu den früheren Oratorien, besonders Eden, Stanfords vorheriger Auftragskomposition für das Musikfest Birmingham. Zwar hatten die Festivals in den vergangenen fünfzehn Jahren ihre Bereitschaft bewiesen, dass sie Kompositionen mit katholischen lateinischen Texten zu akzeptieren bereit waren – in Birmingham etwa Charles Gounods Mors et vita (1885) und Dvoráks Requiem (1891). Dennoch scheint Stanfords Requiem, obschon von vielen jüngeren Autoren als Meisterwerk bezeichnet, in Birmingham nicht gut genug angenommen worden zu sein – es war die letzte Auftragskomposition für die dortigen Musikfeste. Stanford vertonte noch zweimal lateinische liturgische Texte für chorsymphonische Besetzung – das Te Deum op. 66 (1897) und das Stabat Mater (1907), beide auf dem Musikfest in Leeds uraufgeführt.

Am 24. Februar 1905 dirigierte Julius Buths, der seinerzeit Elgars Dream of Gerontius zum internationalen Durchbruch verholfen hatte, eine Aufführung in Düsseldorf, die Düsseldorfer Neuesten Nachrichten sprachen von einem beachtenswerten Werk. Nach dem „Sanctus“ wurde Stanford durch den Beifall aufs Podium gerufen und nach Ende der Aufführung unter enthusiastischem Applaus gefeiert. Wäre Richard Strauss anwesend gewesen – vielleicht hätte er, wie bei Elgars The Dream of Gerontius, mit seinem Lob Stanford zu Weltruhm verholfen. Stanford sandte die Komposition 1898 an Giuseppe Verdi, in seinem Antwortschreiben zeigte sich Verdi ausgesprochen beeindruckt. „Es ist eine sehr gute Komposition, wie von einem Meister geschaffen – wie ich es auch bei einer Komposition von Stanford erwartet hätte.“ (Brief in der British Library.)

Dr. Jürgen Schaarwächter
German Representative, The British Music Society, 2007

Aufführungsmaterial ist von der Boosey & Hawkes, Berlin zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Philipp Brookes, Market Drayton.

Sir Charles Villiers Stanford
(b. Dublin, 30 September 1852 - d. London, 29 March 1924)

Requiem op. 63

Preface
Today Charles Villiers Stanford (1852-1924) is known in Germany primarily as the teacher of Ralph Vaughan Williams, Frank Bridge, Gordon Jacobs and many other leading British composers, and far less for his own compositions. The son of an auditor at the Chancery Court in Dublin who was an enthusiastic amateur singer and cellist, he came into contact with the educated circles of his day in his family home while still a child. He received piano and composition lessons in London from the early age of ten and enrolled at Queen’s College, Cambridge, in 1870, changing to the renowned Trinity College in 1873. He was an organist at Trinity College from 1874 and soon became an active conductor in Cambridge. With the founding of the Royal College of Music in London he was made the institution’s first professor of composition (1883); later he became the head of the London Bach Choir (1886) and professor of music at Cambridge University (1887), to name only his most important positions. He was knighted in 1902. A Protestant Irishman, Stanford the composer is best known in Great Britain for his vocal works, whereas his symphonies and chamber music are zealously recorded but not often performed. Only a small part of his more than thirty works for chorus and orchestra are sacred in character, but they include his most ambitious efforts in the field of the choral symphony. His two large-scale oratorios, The Three Holy Children, op. 22 (1885), and Eden, op. 40 (1891), were followed by the Requiem, op. 63, in 1896.

Stanford’s Requiem was completed on 1 September 1896 and published the following year by Boosey & Hawkes; the manuscript is preserved at the Royal College of Music in London. Only two weeks after its completion Stanford discussed the work with Edward Elgar, hoping that he would use his influence to have it accepted for the Three Choirs Festival. The occasion that led Stanford to compose the piece was the death of the painter Lord Frederic Leighton, one of the most popular and renowned artists of the late Victorian era, especially for his sophisticated and nuanced use of colour. At the end of 1896 large crowds followed the funeral procession with Leighton’s mortal remains on their path to St Paul’s Cathedral. Leighton, being keenly interested and adept in music, had always maintained close friendships with musicians. At the jubilee dinner that Stanford arranged at the Cambridge University Musical Society, Leighton had sat between Camille Saint-Saëns and Arrigo Boïto and had conversed with each of them in their respective tongue.

Besides their personal friendship, Stanford and Leighton also shared similar artistic ideals. Both considered ‘beauty truth, and truth beauty’ (Stanford hated nothing worse than ‘ugliness in music’ from his students), and Leighton’s rich, intricate, classically inspired oil paintings find a parallel in Stanford’s music, not in complex counterpoint or extravagant orchestration à la Berlioz, but in a balanced, almost classical concept with elegant, sonorous yet typically British choral writing and a symphonic orchestral style. A feeling for the theatre, honed on his experience as an opera composer, was felicitously complemented and rounded off by straightforward tunefulness and symphonic breadth.

Stanford’s Requiem resembles those of Berlioz, Verdi and Dvoák in its length. At some points it clearly draws on Verdi, at others on Wagner, and at still others on Dvorák. One stylistic device specific to the work is its repeated use of brass figures; others include its extended sequences of accompaniment figures and its lavish timbres, recalling the painting technique of the deceased artist. The inner core of the Requiem is the large-scale, roughly half-hour Sequence, the Dies irae, which opens most unusually with soft but urgent ‘dies irae’ utterances from the men and expands to a powerful climax at the words ‘tuba mirum’. One special effect is the recurrent descending quaver motif in the bass (repeated 33 times at its first occurrence) to accompany the words ‘Judex ergo’ - a foreshadowing of Stanford’s pupil Gustav Holst. The movement reaches a climax at the long tenor solo ‘Juste judex’, followed by the passionately chromatic alto and soprano solos of the ‘Lacrimosa’, which lead to an exciting and tense climax involving inter alia the otherwise seldom used percussion.
The Requiem received its première at the Birmingham Festival on 6 October 1897, conducted by the composer (and not, despite a longstanding claim to the contrary, Hans Richter). The critics were not unanimously enthusiastic, but the reviewer for The Musical Times (November 1897, p. 746), wrote that «the composer did not shrink from the task of preparing a Requiem which should reflect the spirit and feeling of Roman Catholic ceremonial. He was justified in this boldness for we have no more versatile musician than Dr Stanford. […] From the evidence of the new work he might have been all his life engaged in writing church music for the sensitive and passionate Latin peoples ... Sincere the Requiem surely is, or it would not convince.»

Stanford’s colleague Hubert Parry was more wary in his opinion. Like many of the festival’s principal organisers, he was surprised at the change in Stanford’s musical language compared to his earlier oratorios, especially Eden, his previous work commissioned for the Birmingham Festival. True, in the past fifteen years England’s festivals had shown a willingness accept compositions on Roman Catholic Latin texts, e.g. Charles Gounod’s Mors et vita (1885) and Dvorák’s Requiem (1891), both written for Birmingham. Nonetheless, Stanford’s Requiem, though hailed as a masterpiece by many younger composers, was not sufficiently well-received in Birmingham and marked his final commissioned work for the city’s festivals. Stanford set two further liturgical texts in Latin for chorus and orchestra: the Te Deum, op. 66 (1897), and the Stabat Mater (1907), both premièred at the Leeds Festival.

On 24 February 1905 Julius Buths, who had previously helped Elgar’s Dream of Gerontius to achieve its international breakthrough, conducted a performance of the Requiem in Düsseldorf. The Dusseldorfer Neueste Nachrichten spoke of a remarkable work of music. Stanford was called to the stage by the audience following the ‘Sanctus’ and vigorously applauded at the end of the performance. If Richard Strauss had been present he might well have helped Stanford on the path to world fame, as he had done with his praise of Elgar’s Dream of Gerontius. In 1898 Stanford sent the composition to Giuseppe Verdi. The reply, preserved in the British Library, expresses the great composer’s admiration: ‘It is a very good composition, the work of a master - as I would have expected of a composition by Stanford.’

Translation: Bradford Robinson, 2007

For performance material please contact the publisher Boosey & Hawkes, Berlin. Reprint of a copy from the collection Philipp Brookes, Market Drayton.