César Franck
(geb. Liège, 10. Dezember 1822 - gest. Paris, 8. November 1890)
Les Éolides
Symphonische Dichtung
Vorwort
César Franck beendete die spätestens im Sommer 1875 angefangene Arbeit an seiner Symphonischen Dichtung Les Éolides im Juni 1876. Obwohl Franck selbst Les Éolides weder in der Partitur noch in seiner Korrespondenz ausdrücklich als solche bezeichnet, gilt das Werk als seine erste eigentliche Symphonische Dichtung, wenn auch manchmal das frühe, aber unaufgeführte Ce qu’on entend sur la montagne (1846) und sein „morceau symphonique“ Rédemption (1874) aus dem gleichnamigen Oratorium ebenfalls dieser Gattung zugerechnet. Die Uraufführung fand am 13. Mai 1877 anlässlich eines Konzerts der «Société nationale de musique» in der Salle Erard in Paris statt. Es dirigierte Edouard Colonne.
Die «Société nationale de musique», 1871 gegründet, spielte eine zentrale Rolle in der Neublüte instrumentaler Musik im ansonsten von der Oper dominierten Pariser Musikleben. Sie diente als wichtiges Forum für einige jüngere französische Komponisten, wie zum Beispiel Camille Saint-Saëns – einer der Gründer der Société –, aber auch für einige von Francks Schülern, darunter Vincent d’Indy und Henri Duparc, die sich seit Anfang der 1870er zunehmend mit der relativ neuen Gattung der Symphonischen Dichtung beschäftigten.
Mit Les Éolides schloß Franck sich zum ersten Mal dieser Tendenz eines wiedererwachten Interesses an instrumentaler Konzertmusik an. Später sollten mit Le chasseur maudit (1882), Les Djinns (1884) und Psyché (1888) noch drei weitere Symphonische Dichtungen folgen. Als Vorbild galten nach wie vor die Werke Franz Liszts, der während seiner Kapellmeisterschaft in Weimar nicht nur den Begriff poème symphonique prägte, sondern zwischen 1848 und 1858 auch selbst zwölf Werke dieser Gattung komponierte. Mag auch die stilistische Fassade einer typischen französischen Symphonischen Dichtung aus den 1870er Jahren durchaus unlisztianisch anmuten, so wird doch meist und in mancherlei Hinsicht dem von Liszt etablierten Modell treu gefolgt. Auch in Frankreich ist die Symphonische Dichtung in der Regel eine einsätzige Orchesterkomposition (eine Ausnahme bildet das mehrsätzige Psyché, in dem übrigens auch ein Chor herangezogen wird), für die die Sonatenform zwar keine unerschütterliche, aber doch sehr starke Gattungskonvention bildet, und in der die Musik eine explizite Verbindung mit einem „außermusikalischen“ Sujet philosophischer, literarischer oder historischer Art eingeht.
Diesem Modell folgt auch Franck in Les Éolides. Der Titel verweist auf ein Gedicht gleichen Namens aus der Sammlung Poèmes antiques des Parnasse-Dichters Charles-Marie Leconte de Lisle (1835-1894). In dem Programm der Uraufführung wurden aus diesem Gedicht die ersten sechs Zeilen zitiert:
O brises flottantes des cieux,
Du beau printemps douces haleines,
Qui de baisers capricieux
Caressez les monts et les plaines ;
Vierges, filles d’Eole, amantes de la paix,
La nature éternelle à vos chansons s’éveille.
Leconte de Lisle identifiziert die Äoliden – die Töchter des Äolus oder Aiolos, des griechischen Gottes der Winde – mit den sanften, wohltuenden Winden des Frühlings. Eher als der Inhalt des achtzigzeiligen Gedichtes ist es diese allgemeine Idee, die das Programm von Francks symphonischer Dichtung darstellt. Die Idee einer sanften Beweglichkeit bestimmt, gleich ab den ersten Takten, die gesamte Komposition. Zu expliziter Tonmalerei kommt es dabei nur selten: sie beschränkt sich hauptsächlich auf die Chromatik, die einen beträchtlichen Teil der Motive des Werkes prägt, und zum Beispiel sehr deutlich am Anfang des Hauptsatzes, Takte 79-84 hervortritt. Nur einmal, mitten in der Reprise, Takte 468-473, tendiert die Chromatik zu einer rein figurativen Schilderung des Windes.
Formal ist Francks Les Éolides - ganz der Lisztschen Tradition treu - als modifizierte, aber durchaus klare Sonatenform gestaltet:
Einleitung (T.1-78) A-Dur / Es-Dur
Exposition (T.79-228)
Hauptsatz (T.79-126) A-Dur
Überleitung (T.127-138)
Seitensatz
1. Seitenthema (= Thema der Einleitung) (T.139-154) Fis-Dur
Überleitung (T.155-170)
2. Seitenthema (T.171-218) fis-moll
Schlußsatz/Überleitung (T.219-228) Fis-Dur
Durchführung (T.229-400)
Hauptthema (unvollständig) (T.229-246) A-Dur
Verarbeitung (T.247-280)
Höhepunkt (Hauptthema + Thema der Einleitung) (T.281-332) C-Dur
2. Seitenthema (T.333-352) Es-Dur Neues Thema (T.353-384)
Rückleitung (T.385-400) Es-Dur
Reprise (T.401-539)
Hauptsatz (T.401-443) A-Dur
1. Seitenthema (= Thema der Einleitung)/Überleitung (T.444-487) Es-Dur
2. Seitenthema (T.488-507) A-Dur
Neues Thema aus der Durchführung (T.508-539)
Coda (T.540-611) A-Dur
Das Schema der Sonatenform wird von Franck an mehreren Stellen modifiziert: Erwähnt sei zuallererst die wichtige Rolle, welche das Thema der Einleitung im weiteren Verlauf der Form spielt. Sowohl in Exposition und Reprise als auch in der Durchführung und Koda wird es an exponierter Stelle wiederaufgenommen, so daß es manchmal scheint, es wolle der Prominenz des Hauptthemas Konkurrenz machen. Beide Themen sind übrigens motivisch eng verwandt. Das Kopfmotiv des Hauptthemas entstammt der Einleitung (zuerst T.17-20), wo es als eine Entwicklung aus dem Halbtonschritt e-f des Einleitungsthemas eingeführt wird, zumal ihm die Halbschlußformel des Einleitungsthemas folgt.
Bemerkenswert ist ebenfalls die Wiederkehr des Hauptthemas in der Tonika am Beginn der Durchführung, als ginge es um eine Wiederholung der Exposition (was in einer Symphonischen Dichtung übrigens eher ungewöhnlich wäre). Erst nach achtzehn Takten, wenn die Wiederholung des Hauptthemas frühzeitig abgebrochen wird und einer Verarbeitung des Themenanfangs weicht, wird klar, daß es sich hier um den Durchführungsanfang handelt. So deutlich die Wiederkehr des Hauptthemas am Anfang der Durchführung ist, so verschleiert ist der Einsatz der Reprise. Wenn das Thema Takt 401 einsetzt, ist es kaum von den isolierten Einsätzen des Kopfmotiv in den vorangehenden Takten zu unterscheiden, und auch seine Harmonisierung deutet zuerst nicht auf eine Reprise hin. Erst ab dem dritten Takt des Themas, wo das Kopfmotiv weitergeführt wird und auch die Harmonisierung deutlich A-Dur abgrenzt, wird klar, daß die Reprise bereits angefangen hat.
Ein letztes bemerkenswertes Element ist das neue Thema - oder wenigstens die neue Fortsetzung des zweiten Seitensatzes - das gegen Ende der Durchführung (ab. T.353) eingeführt wird. In der Reprise wird dieses neue Thema zusammen mit dem zweiten Seitensatz rekapituliert.
Hochinteressant ist auch die tonale Gestaltung des Stückes, besonders die Position der Tonart Es-Dur, die verminderte Quint der Tonika A-Dur. In der Einleitung wird das Eröffnungsthema, das zuerst in A-Dur erklingt, in Es-Dur wiederholt (ab T.42). Da diese Tonart während der Exposition nicht wiederauftritt, scheint dies zunächst ein isoliertes Geschehen zu sein. In der Durchführung und der Reprise aber spielt Es-Dur eine wichtige Rolle als Kontrasttonart. Das Seitenthema in der Durchführung erscheint zunächst in Es, und auch die Rückleitung zur Reprise am Ende der Durchführung steht in Es. In der Reprise steht der erste Seitensatz (die Wiederkehr des Themas der Einleitung) nicht erwartungsgemäß in A, sondern in Es. Daraus ergibt sich die im Vergleich zur analogen Stelle in der Exposition viel weitergehendere modulatorische Aktivität zwischen dem ersten und zweiten Seitensatz in der Reprise. Während in der Exposition die Zieltonart Fis-Dur bereits beim Einsatz des ersten Seitensatzes erreicht war, kehrt die Tonika A-Dur in der Reprise erst beim zweiten Seitensatz wieder.
Sowohl A-Dur als auch Es-Dur sind Teil eines verminderten Septakkordes über a, der die harmonische Organisation des Stückes weitgehend beeinflußt. Die Töne a, c, es und ges/fis dieses Akkordes sind zugleich die wichtigsten tonalen Zentren der Komposition: die Haupttonart A-Dur, die Kontrasttonart Es-Dur, Fis-Dur als Zieltonart der Exposition, C-Dur als Tonart des Höhepunktes der Komposition inmitten der Durchführung. Die Verbindung von tonaler Organisation und vermindertem Septakkord mag zunächst abstrakt erscheinen, wird aber sehr konkret kurz vor dem Höhepunkt der Komposition. In T.268-276 wird genau dieser verminderte Septakkord über a schrittweise aufgebaut, indem die vier Töne einer nach dem anderen dem Akkord hinzugefügt werden, bemerkenswerterweise in der gleichen Reihenfolge, in der sie als tonale Zentren in der Komposition auftreten.
Steven Vande Moortele, 2007
Aufführungsmaterial ist von der Durand, Paris zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München
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